© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/07 16. März 2007

Der Tod läßt sich nicht simulieren
Jean Baudrillard hätte bessere Nachrufe verdient
Andreas Wild

Jean Baudrillard, der vorige Woche im Alter von 77 Jahren verstorbene französische Philosoph, Soziologe und Kritiker der Medien- und Konsumgesellschaft, hätte sich sehr gewundert (und wohl auch amüsiert) über die Nachrufe, die ihm widerfahren sind. Allerorten wurde sein Schlüsselbegriff, die "Simulation", äußerst herablassend behandelt, ja, als "überholt" abgetan. Heute regierten ganz andere Begriffe, hieß es. "Welche denn?" hätte Baudrillard mit Sicherheit gegengefragt.

Tatsächlich kann von einer Überholtheit der Baudrillardschen Perspektive keine Rede sein. Nehmen wir nur den tagtäglichen, schier allumfassenden Fernsehbetrieb: Was ist er denn anders als pure Simulation, von hinten bis vorn? Und ist dieser Betrieb nicht dabei, die "wirkliche Wirklichkeit" regelrecht auszulöschen, sie immer mehr durch seine eigenen, hausgemachten "Zeichen" zu ersetzen?

Mord? Das Publikum reagierte verstört

In Nijmwegen in Holland passierte es vor einiger Zeit, daß sich zwei streitende Männer auf den Kaffeeterrassen der belebten Innenstadt mit Pistolen bedrohten und unter Feuer nahmen. Die Kaffeehausgäste und die Passanten hielten das für eine der dort üblichen Straßentheatervorführungen und applaudierten begeistert - bis schließlich einer der Streithähne tot auf der Wahlstatt lag. Jetzt war die allgemeine Belämmerung groß, die Masse verkrümelte sich nach Abtransport der Leiche rasch, und die Nijmweger Zeitungen hauten am nächsten Morgen mächtig auf die Pauke und fanden starke Worte der Kritik für die angebliche "Unempfindlichkeit" der örtlichen Bürgerschaft.

Dabei hätten sie sich besser fragen sollen, ob es sich nicht im Gegenteil gerade um eine Überempfindlichkeit gehandelt hatte, um eine Allergie des Simulationszeitalters. Denn einen Tag vorher hatte das erste holländische Programm einen "Tatort" aus dem Theatermilieu ausgestrahlt, in dem ganz ähnliches wie auf den Kaffeeterrassen geschehen war: Ein Typ sollte auf offener Bühne, also in der Simulation und mit Platzpatronen, einen anderen erschießen, doch jemand hatte die Pistole ruchloserweise mit scharfer Munition geladen, aus dem simulierten Mord wurde wirklicher Mord. Und das Publikum im Parkett war nicht weniger verstört als das im Kaffeehaus und schlich wie ein geprügelter Hund nach Hause.

Was war denn nun der Unterschied zwischen dem Kaffeehausmord und dem Fernsehmord? Sowohl im Kaffeehaus wie im Fernsehen glaubten die Leute an einen verabredeten medialen Plot. Hier wie da wurden sie getäuscht. In beiden Fällen begann nach dem Mord die Polizei mit den Ermittlungen. Nur, im Falle des "Tatort" hatte das Fernsehen die ganze Sache von vornherein aufgenommen, während im Kaffeehaus rein zufällig kein Fernsehen dabeigewesen war, obwohl sonst bei solchen Straßen-"Events" meist ein Kameramann aufkreuzt, von den Mimen selbst angerufen.

Allerdings, die Simulation stößt an eine unübersteigbare Grenze, und diese Grenze heißt Tod. Der Tod kann in der Simulation zwar dargestellt, doch er kann nicht selber simuliert werden. In Nijmwegen blieb es dem Mordopfer verwehrt, nach dramaturgisch festgelegter Frist wieder aufzustehen, sich den Staub von den Hosenbeinen zu klopfen und in der Kantine einen Kaffee zu trinken. Der Tod ist die Widerlegung des Lebens und damit auch der Simulation. Auch das hat Baudrillard gesehen und ausführlich analysiert. Man kann von diesem bedeutenden Denker der Postmoderne viel lernen, vor allem in der Medienforschung. Er hätte zweifellos bessere Nachrufe verdient.


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