© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/07 09. März 2007

Bürger, Opfer, Revolutionäre
Der Slawist Holger Michael und die jüdische Minderheit in Polen "zwischen Davidstern und Roter Fahne"
Johannes Rogalla von Bieberstein

Das Buch "Zwischen Davidstern und Roter Fahne" von Holger Michael schildert die Geschichte der polnischen Juden im zwanzigsten Jahrhundert. Vor 1939 stellte diese Minderheit mit drei Millionen Menschen etwa zehn Prozent der Bevölkerung und sprach überwiegend Jiddisch. Sie war als Religionsverband organisiert, der über korporative Rechte wie die Beitragserhebung verfügte. Ihm gehörten auch die "ungläubigen" Mitglieder der jüdischen Nation an.

Der Verfasser ist ein promovierter Leipziger Slawist und früherer Mitarbeiter der Ostberliner Akademie, der nach der Wende als Deutschlehrer in Kasachstan lebt. Seinem Lebensweg ist wohl zuzuschreiben, daß er sich fast ausschließlich auf ältere, weithin unbekannte polnische Quellen stützt und westliche Forschungsliteratur unberücksichtigt bleibt, deshalb sind seine Schlußfolgerungen nur mit Vorbehalten zu werten. Für ihn stellt die "Volksmacht" die legitime Ordnung dar, die durch die "bürgerliche Restauration", kurz "die Rechten", 1989/90 umgestoßen worden ist. Obwohl er diejenige marxistische Position einnimmt, nach der Nationalismus als Voraussetzung des Antisemitismus das Hauptübel darstellt, liest sich sein Buch mit Gewinn.

Allerdings muß man über apologetische Tendenzen hinwegsehen. So läßt Michael sich dazu hinreißen, die Opfer der Stalinschen Säuberungen mit den "ebenso vielen" verurteilten Strafgefangenen in den USA zu vergleichen. Auch kennzeichnet ihn die "antifaschistische" Neigung, polnische Nationalkommunisten und natürlich auch polnische bürgerliche und christliche Parteien dadurch zu diskreditieren, daß er ihnen Antisemitismus als "Demokratiedefizit" ankreidet.

Damit schlägt er ein heikles und ernstes Thema an, weil unter der Diktatur außer Judenhaß auch legitime Kritik an kommunistischen Juden - wie vieles andere auch - nicht artikuliert werden durfte. Diese numerisch winzige, aber geschichtsmächtige jüdische Minderheit hat nämlich eine spektakuläre Rolle sowohl 1920 in dem von den Sowjets installierten Polnischen Revolutionskomitee von Bialystok als auch in der ebenfalls unter sowjetischen Patronat 1943 gebildeten Exilregierung Bund Polnischer Patrioten (ZPP). Auch im stalinistischen polnischen Sicherheits- und Ideologieapparat waren jüdische Kommunisten überdurchschnittlich häufig vertreten.

Dies wird zwar von dem für das leidgeprüfte jüdische Volk eintretenden Holger Michael durchaus eingeräumt, jedoch verharmlost, indem die von der "Volksmacht" ausgeübte Verfolgung ausgeklammert bleibt. Somit wird die Dynamik des derart angefachten Antisemitismus nicht recht erkennbar. Sie wurde nämlich dadurch verstärkt, daß die kommunistischen Juden als "Knechte" der in Polen unbeliebten sowjet-russischen Besatzer erschienen.

Die Stärke des Buches liegt in seiner insgesamt sachlichen Präsentation der Sozialgeschichte der Juden in Polen, besonders in der Zwischenkriegszeit. Unter Bezug auf statistische Daten wird dargelegt, daß die zehn Prozent polnischen Juden damals etwa fünfzig Prozent des Großbürgertums gestellt haben, wobei ihre Beteiligung an einzelnen Branchen wie Getreide, Obst, Gemüse, Vieh, Bekleidung und Filmwirtschaft bis 75 Prozent betrug. Überrepräsentiert waren die polnischen Juden auch in den freien Berufen der Rechtsanwälte und Ärzte. Desgleichen spielten sie im Kulturleben Polens eine wichtige Rolle. Es gab ein hochentwickeltes jüdisches Schulwesen, eine Vielzahl jüdischer Verlage, Zeitungen und Theater. Auch waren in der Armee Militärrabbiner tätig.

Informativ ist die Darstellung der jüdischen und nichtjüdischen Organisationen. Die einflußreichste war die Agudat-Partei der orthodoxen Juden. Sie unterhielt jüdische Schulen und Rabbinerseminare und erreichte bei den Gemeindewahlen über vierzig Prozent der Stimmen. Die kleinere Jüdische Volkspartei hingegen war antiklerikal und repräsentierte assimilierte bürgerliche Juden. Daneben gab es in Polen eine Vielzahl von jüdisch-sozialistischen Parteien, die das gesamte Spektrum abdeckten und ihrerseits wiederum in nichtzionistische und zionistische zerfielen.

Bemerkenswert ist, daß Juden außerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der atheistischen kommunistischen Partei Polens die bedeutsamste Rolle gespielt haben. Im Zentralkomitee dieser Partei gab es sogar ein Zentrales Jüdisches Büro. Diese Partei, die als Sektion der Komintern firmierte, wurde als "Judokommune" diffamiert, welche Haßvokabel derjenigen vom "jüdischen Bolschewismus" entspricht.

Lesenswert ist die Darstellung des Verhältnisses der polnischen Gesellschaft und Parteien zu den Juden, wobei eine harte Kritik der Katholiken und Nationalisten, welche in einem Extremfall so etwas wie "Nürnberger Gesetze" gefordert haben, nicht überrascht. Positiv fällt hingegen die Würdigung des autoritär regierenden Marschall Józef Piłsudski auf, der als einstiger verfolgter Sozialdemokrat und religiös indifferenter Offizier keine antisemitische Haltung offenbarte.

In dem Kapitel über die Katastrophe 1939 bis 1945 wird das kontrovers diskutierte Verhalten der Polen zu den noch mörderischer verfolgten Juden unter dem NS-Terror dargestellt und der jüdische Widerstand gewürdigt. Auch in den Kapiteln über die Überlebenden und den Exodus werden wichtige Informationen präsentiert. In Polen haben etwa 100.000 Juden den Holocaust überlebt, zu denen noch 200.000 hinzukamen, welche ihr Leben in der Sowjetunion retten konnten. Nach der Vertreibung der Deutschen ließen sie sich schwerpunktmäßig in Schlesien nieder.

Obgleich im in der Sowjetunion gebildeten Polnischen Nationalen Befreiungskomitee (PKWN) erstmals in einer polnischen Regierung Juden vertreten waren, kam es während der Stalinisierung zu einer jüdischen Ausreisewelle. Gegen die Minderheitsdiktatur der Kommunisten wütete in Polen mehrere Jahre hindurch ein durch Partisanen geführter Bürgerkrieg, bei dem es auch antisemitische Exzesse gab. Das Beispiel des Nachkriegspogroms von Kielce 1947 wird gerade in Polen heiß diskutiert (JF 34 und 43/06). Nachdem es 1945 zu einer Wiederbelebung des jüdischen Lebens gekommen war, führten diese Zustände dazu, daß bis 1950 zwei Drittel der Juden nach Israel oder in den Westen auswanderten, so daß das jüdische Kulturleben danach weitgehend erlosch.

Dies haben die Behörden hingenommen und gefördert, weil sie nur an Kommunisten interessiert waren. Es ist wenig bekannt, daß Stalin anfänglich die Bildung des Staates Israel gegen die "imperialistischen" Briten und die "reaktionären" Araber unterstützt hat. In Schlesien gab es 1947/48 sogar ein Ausbildungslager der Haganah, wo 2.500 polnische Juden für ihren Kampf-einsatz in Palästina ausgebildet wurden. Über eine Luftbrücke zwischen Prag und Tel Aviv sind damals Waffen geliefert worden.

Tragisch und vergiftend für das politische Leben in Polen ist es gewesen, daß die polnische Unabhängigkeitsbewegung, auch bei den polnischen Nationalkommunisten selber, von anti-jüdischen Tendenzen nicht frei war. Dies hatte eine neuerliche, das Judentum in Polen dezimierende Ausreisewelle zur Folge. Nicht wenige jüdische Kommunisten, die den Glauben gehegt hatten, daß der Sozialismus der "Arzt des Antisemitismus" werden würde, sind in das Lager der Dissidenten übergeschwenkt. Einige von ihnen haben in der Solidarność-Bewegung einen Beitrag zur Überwindung der Diktatur geleistet.

Holger Michael: Zwischen Davidstern und Roter Fahne. Kai Homilius Verlag, Berlin 2007, gebunden, 278 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Jüdische Schüler um 1920 in den Ferien bei Warschau: Geschichtsmächtige Minderheit


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