© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/07 09. März 2007

Trügerische Stabilität
Estland: Wahlsieg für wirtschaftsliberale Regierungspartei
Martin Schmidt

Estland ist ein gespaltenes Land, die Esten ein verunsichertes Volk. Eine tiefe Kluft zwischen dem wirtschaftlich prosperierenden Reval (Tallinn) und der von sozialen Verwerfungen gezeichneten Provinz hat sich aufgetan. Um die Hauptstadt konzentriert sich ein erheblicher Teil jener Betriebe, deren einst vorsintflutlicher sowjetischer Standard mit Hilfe überwiegend skandinavischer Investoren (und bisweilen auch russischer Mafia-Gelder) auf den neuesten Stand der Technik gebracht wurde.

Die kleinste Baltenrepublik weist die modernste Telekommunikation in ganz Ostmitteleuropa auf - drei Prozent der etwa 895.000 eingetragenen Wähler wählten vergangene Woche sogar per Internet. 2005 lag der Haushaltsüberschuß mit 1,6 Prozent der Wirtschaftsleistung über dem aller anderen östlichen EU-Neulinge. Im europäischen Vergleich hat man mit die höchsten Wachstumsraten und zugleich die niedrigsten Sozialausgaben. In puncto Wirtschaftsliberalität wird die Ostseerepublik laut Wall Street Journal weltweit von nur vier Staaten übertroffen.

Aus Revaler Wirtschaftskreisen gibt es sogar Klagen über zunehmenden Arbeitskräftemangel. Schon wird nach Zuzugsgenehmigungen für "billige Ostarbeiter" aus der Ukraine, Weißrußland oder Moldawien verlangt. Somit zeichnet sich für die kleine Baltenrepublik mit ihren nur 1,35 Millionen Einwohnern und ihrer katastrophal niedrigen Geburtenrate mittelfristig ein Zuwanderungsproblem nach westlichem Muster ab. Die schwelenden inneren Spannungen könnten sich dann schnell zu einer existentiellen Zerreißprobe ausweiten, zumal man als Erblast aus der jahrzehntelangen sowjetrussischen Besatzung noch immer etwa 400.000 Russen im Land hat sowie weitere rund 85.000 Russischsprachige mit verschiedenem ethnischen Hintergrund.

Doch vorerst haben sich die politischen Verhältnisse stabilisiert. Die rechtsliberale Reformpartei (RE) von Premier Andrus Ansip legte bei der Parlamentswahl am 4. März um etwa zehn auf 27,8 Prozent zu. Die RE überflügelte damit das oppositionelle nationalkonservative Heimatbündnis (IRL/17,9 Prozent) von Ex-Premier Mart Laar als bisher stärkste Kraft.

Der größte RE-Koalitionspartner, die auch von vielen russischsprachigen Wählern unterstützte sozialliberale Zentrumspartei (KE) von Edgar Savisaar, kam auf 26,1 Prozent. Der kleine Koalitionspartener, die ländliche Volksunion von Vilju Reiljan, erreichte nur noch 7,2 Prozent. Vierte Kraft wurden die oppositionellen Sozialdemokraten (10,6 Prozent), die erstmals angetretenen linksliberalen Grünen erreichten 7,1 Prozent.

Viele zugewanderte Russen durften nicht mitwählen

Die Christdemokraten scheiterten mit zwei Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde. Auch die beiden dezidiert großrussischen Parteien schafften es deshalb erneut nicht in den Riigikogu (Reichstag). Denn während die kleine Minderheit alteingesessener Estland-Russen selbstverständlich die vollen Bürgerrechte genießt, verfügt der Großteil der nach 1945 in die Region zugewanderten Ostslawen nach wie vor nicht über den estnischen Paß und konnte dementsprechend auch nicht an der jüngsten Wahl teilnehmen.

Ihre Gefolgschaft muß sich weiterhin auf den außerparlamentarischen Protest beschränken, dessen große Problematik für den kleinen estnischen Staat darin liegt, daß diese regelmäßigen Demonstrationen vom wiedererstarkten Rußland für eigene Zwecke genutzt werden. Und sollte die RE künftig mit der IRL koalieren, könnten sich die Spannungen - nicht nur in geschichtspolitischen Fragen (JF 9/07) - weiter verstärken.


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