© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/07 02. März 2007

Am Anfang sang und liebte Orpheus
Kollektive Himmelfahrt: Die Oper feiert ihren 400. Geburtstag und wird mit jeder Partitur neu geboren
Andreas Strittmatter

Das Jubiläum gehört zu den etwas schrägen Daten der Weltgeschichte. Am kommenden Samstag feiert die Oper ihren 400. Geburtstag. Vorausgesetzt, man akzeptiert die Uraufführung von Claudio Monteverdis Favola in Musica „L’Orfeo“, welche die Accademia degli Invaghiti am 24. Februar 1607 am Fürstenhof von Mantua veranstaltete, als Geburtsstunde der Oper und sieht in Werken wie „La Dafne“ (1597, nur fragmentarisch erhalten) oder „L’Euridice“ (1600), beide von Jacopo Peri in Musik gesetzt, eher die Geburtswehen einer neuen Gattung.

Tatsächlich schuf Monteverdi weit Größeres, als der höfische Gelehrtenzirkel damals von dem Komponisten, Musiktheoretiker und praktizierenden Musiker erwarten mochte. Monteverdis „L’Orfeo“ ist mehr als der Versuch, einem an der Antike orientierten Theater mit Hilfe von Musik und Tanz auf die Beine zu helfen und auf diese Weise das klassische Drama zu restaurieren. Denn Singen und Tonkunst lassen sich bei Monteverdi in einer Weise auf Wort und Gedanken ein, daß der Gesang mehr ist als ein reiner Spiegel des Textes. Er transzendiert das Wort, die Deutung wird in Monteverdis prächtigem und schillerndem Melos auf dem Fundament einer durchdachten Dramaturgie selbst zum Kunstwerk eigenen Rechts – die Geburtsstunde der Oper.

In diesem Augenblick war jene Frage nach dem Vorrang der Dichtung oder der Musik, die nachmals Monteverdis Erben keine Ruhe ließ, überhaupt kein Thema: „Sind es die Worte, die mein Herz bewegen, oder sind es die Töne, die stärker sprechen?“ fragt sich die Gräfin in der „Capriccio“-Schlußszene von Richard Strauss, der diese Frage absichtsvoll nicht auflösen mochte und seine letzte, 1942 uraufgeführte Oper ein „Konversationsstück für Musik“ nannte. Ein Dichter und ein Komponist stehen darin im Wettstreit um Liebe und Gunst der Dame, die sich nicht entscheiden kann, weil es bei der Oper generell in dieser Frage nichts zu entscheiden gibt. Statt dessen räsoniert die Gräfin: „Ihre Liebe schlägt mir entgegen, zart gewoben aus Versen und Klängen. Soll ich dieses Gewebe zerreißen? Bin ich nicht selbst in ihm schon verschlungen?“

Selbst im Verfall ist die Oper groß geblieben

Die Oper blieb Monteverdis Gewebe aus bewegenden Worten und sprechenden Tönen keineswegs treu. Ihre Geschichte könnte nicht zuletzt unter den Schlagworten des Verfalls gelesen werden. Doch selbst darin ist die Oper meist groß geblieben – etwa in jener Epoche, als Kastraten und Primadonnen die heimlichen Herrscher der Bühne waren, Komponisten und Textdichter hingegen den Rahmen zu schaffen hatten, in dem sich das Bühnenvölkchen bravourös in Szene setzen konnte.

So hatte eine Opernaufführung in London zur Zeit Händels wenig mit der kunstverliebten Andachtsattitüde späteren Bildungsbürgertums zu tun. Man ging ins Theater, unterhielt sich prächtig (zudem auch während der Aufführung laut) und hörte erst bei den Arien der teuer verpflichteten Spitzensänger genauer hin. Die Musik, wenngleich im Rahmen formaler Grundregeln zur Illustration diverser Affekte, transzendierte sozusagen nicht mehr das Wort, sondern vor allem die Talente des in Folge vergötterten singenden Personals. Ihm schrieben die Komponisten die Töne auf den Leib. Ging die Rechnung trotzdem nicht zur Zufriedenheit der Solisten auf, so nahmen sich diese gelegentlich auch die Freiheit, einfach eine andere Arie (aus dem Reisegepäck!) zu Gehör zu bringen. Dennoch staunt noch die Gegenwart über die Kunst prunkender Koloratur, und niemandem käme der Gedanke zu behaupten, es handele sich dabei nicht um Oper.

Die Litanei diverser Degenerationen könnte noch umfänglich fortgesetzt werden, etwa auf dem Gebiet der Textbücher: Sie sind zeitweilig einfach nur wirr (Mozarts „Zauberflöte“), beruhen auf kruden literarischen Vorlagen (Verdis „Il Trovatore“), setzen krude literarische Vorlagen in nicht minder krude Libretti um (nochmals: „Il Trovatore“), scheinen dem sentimentalen Rührstück abgeschaut (Bellinis „La Sonnambula“), sind reißerischen Groschenromanen abgekupfert (Catalanis „La Wally“) oder basieren auf drittklassigen Theaterstücken (Puccinis „Madama Butterfly“).

Und doch ist auch das alles nicht weniger als: große Oper, wenngleich die Musik oftmals nicht in erster Linie das Wort transzendiert, dafür aber fast immer den Gefühlshaushalt des Publikums. Wer sein Ohr beispielswegen in den Mitschnitt eines Scala-Gastspieles mit Maria Callas als Amina in der eben erwähnten „La Sonnambula“ (1957 an der Kölner Oper) hält, versteht angesichts des in die Schlußszene hereinbrechenden Jubels, was gemeint ist – eine kollektive Himmelfahrt, vor und auf der Rampe.

Natürlich ist die Geschichte der Oper nicht nur die Geschichte der Verwässerung eines reinen Ideals – Kurskorrekturen wurden immer wieder vorgenommen, sei es durch Christoph Willibald Gluck und dessen Reformoper „Orfeo ed Euridice“ (1762), sei es durch das Schaffen Wagners, die Arbeiten des reifen und späten Verdi, die in Wort und Ton fruchtbare Zusammenarbeit von Richard Strauss mit Hugo von Hofmannsthal.

Seit Jahrzehnten wird am Publikum vorbeikomponiert

Nur in jüngerer Zeit scheint die Oper in der Sackgasse zu stecken. Mit Benjamin Britten verstarb 1976 der letzte Komponist, der noch eine nennenswerte Anzahl Opern komponierte, die sich im Repertoire der Bühnen bewähren.

Seither finden sich im Musiktheater der Alten Welt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, bestenfalls noch Eintagsfliegen, die eine Premiere und wenige Folgevorstellungen in den seltensten Fällen überleben. Das mag nicht zuletzt mit der Krise zeitgenössischer mitteleuropäischer „Klassik“ zu tun haben, die noch immer an den Interessen eines breiten Publikums munter vorbeikomponiert, ohne irgend etwas zu transzendieren – weder ein Wort noch einen Ton, oft auch kein Talent und nur höchst selten Fühlen und Sinnlichkeit.

Die Oper aber ist, obgleich bereits oftmals mit unterschiedlichsten Begründungen totgesagt, dennoch lebendig, denn mit jeder gelungenen Aufführung wird eine Partitur erneut geboren – und sei sie bereits 400 Jahre alt wie die Geschichte des Orpheus, die Claudio Monteverdi der Welt hinterlassen hat.

Foto: Opernstar Anna Netrebko und Rolando Villazon in Verdis „La Traviata“ bei den Salzburger Festspielen: Transzendierte Worte


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