© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

Polens Traum und Bonner Wirklichkeit
Michael Hartenstein schildert die Oder-Neiße-Grenze vom Gespinst polnischer Chauvinisten zum Status quo
Gustav Schwarzbach

Das Postulat, "alle Deutschen östlich der Isthmuslinie Triest-Stettin zu vertreiben", ist keineswegs, wie man glauben könnte, eine sowjetische Propagandaformel aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges. Vielmehr handelt es sich um eine Forderung, die bereits der Prager Slawenkongreß von 1848 explizit erhob. Entsprechende Territorialvisionen wurden in der Folgezeit immer wieder entworfen, wenn es galt, dem vermeintlich ewigen "deutschen Drang nach Osten" das Programm einer slawischen Westexpansion entgegenzusetzen - auch und gerade in Polen.

Um die Jahrhundertwende profilierten sich die Gründerväter der polnischen "Nationaldemokratie", Roman Dmowski, der 1919 polnischer Delegierte während der Friedenskonferenz in Paris sowie Mitunterzeichner des Versailler Vertrags war, und Jan Ludwik Popławski als Vordenker eines polnischen "Westgedankens" und erklärten den Erwerb der östlichen Gebiete Preußens zur Überlebensfrage für einen künftigen polnischen Staat. Getragen war ihr Programm von einem sozialdarwinistisch argumentierenden Nationalismus, dem "Kampf" und "Expansion" als Gradmesser für den Selbstbehauptungswillen einer Nation galten. Die polnische Geographie skizzierte bereits vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Flußläufe von Oder und Lausitzer Neiße als die kürzeste und damit "natürliche", weil strategisch günstigste Westgrenze Polens. Und 1917 forderte der Arzt Bolesław Jakimiak erstmals expressis verbis die Einverleibung der gesamten Oder-Neiße-Gebiete, deren vermeintlich slawischstämmige Bewohner er zum Großteil allerdings nicht vertreiben, sondern "repolonisieren" lassen wollte.

Da die polnischen Expansionswünsche auf der Pariser Friedenskonferenz von 1919 nur teilweise befriedigt wurden, blieb die neue Grenzziehung in der polnischen Öffentlichkeit der Zwischenkriegszeit ebenso umstritten wie in der deutschen. So konnte der nationaldemokratische Politiker Jędrzej Giertych 1947 stolz verkünden, "das Postulat der Westgrenze an Oder und Neiße" sei "keine sowjetische Erfindung aus dem Jahre 1945, sondern ein seit langem formuliertes Postulat der polnischen Politik" gewesen. Daß Enkelsohn Roman Giertych heute als Vertreter der extrem deutschfeindlichen "Liga polnischer Familien" dem Kabinett von Ministerpräsident Jarosław Kaczyński als Erziehungsminister angehört, sei nur am Rande vermerkt.

Es ist das unbestrittene Verdienst von Michael A. Hartenstein, daß er diese Voraussetzungen in seiner "Geschichte der Oder-Neiße-Linie" in breiter Form berücksichtigt und so den teilweise bis heute gepflegten Mythos, Polen sei 1945 lediglich das handlungsunfähige Objekt einer von den Alliierten in Jalta und Potsdam ausgekungelten "Westverschiebung" gewesen, nachhaltig erschüttert. Hierbei handelt es sich um die inhaltlich erweiterte Fassung seiner bereits 1997 vorgelegten Schrift "Die Oder-Neiße-Linie. Geschichte der Aufrichtung und Anerkennung einer problematischen Grenze".

Hartenstein zeichnet die diplomatische Auseinandersetzung innerhalb der Anti-Hitler-Koalition um die künftige polnische Westgrenze detailliert nach und stellt die verschiedenen dabei diskutierten Grenzmodelle vor, wobei sich das beigefügte Kartenmaterial als nützlich erweist. Im Ergebnis stellt er heraus, daß die ersehnte Oder-Neiße-Grenze bereits Mitte 1944 zwischen der Sowjetunion und der kommunistischen polnischen "Nebenregierung" vertraglich vereinbart worden war, eine Entscheidung, die in der ersten Jahreshälfte 1945 von polnischer Seite mit Unterstützung Stalins faktisch umgesetzt wurde. Der Potsdamer Konferenz vom Juli/August 1945 blieb es übrig, die längst geschaffenen Tatsachen vorbehaltlich einer künftigen friedensvertraglichen Regelung zu sanktionieren - einschließlich der kurz zuvor erfolgten Übergabe der auf dem Westufer der Oder gelegenen Hafenstadt Stettin und der die Odermündung kontrollierenden Stadt Swinemünde an die polnischen Behörden. Hartenstein arbeitet die Haltung aller relevanten Beteiligten - der Westmächte, der UdSSR und Polens - heraus und berücksichtigt dabei auf polnischer Seite auch die katholische Kirche, die sich ohne Rücksichtnahme auf ihre deutschen Glaubensbrüder zum Vollstreckungsgehilfen der Vertreibungspolitik machte.

Den zweiten Teil des Buches könnte man als "Anerkennungsgeschichte" der Oder-Neiße-Linie bezeichnen. Hier richtet sich der Blick auf die innerdeutsche Diskussion der Grenzfrage sowohl in den westlichen Besatzungszonen bzw. der 1949 daraus hervorgegangenen Bundesrepublik als auch in der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Während die DDR-Führung unter Walter Ulbricht die Grenze bereits 1950 im Görlitzer Abkommen anerkannte und das Thema von da an aus der öffentlichen Diskussion verbannte, was sich unter anderem auch in der verschämten Bezeichnung "Umsiedler" für die Ostvertriebenen zwischen Rügen und Erzgebirge ausdrückte, bildete in Westdeutschland die Forderung nach einer friedlichen Grenzrevision zunächst einen parteiübergreifenden Konsens. Öffentliche Solidaritätsbekundungen mit den Vertriebenen (Willy Brandt noch 1963: "Verzicht ist Verrat!") und konkrete Politik liefen dabei aber rasch auseinander. Zurückhaltend bleibt der ehemalige Adenauer-Stipendiat Hartenstein bei der Schilderung der Politik der Bundesregierung in den fünfziger Jahren. Immerhin konzediert er, Konrad Adenauer habe wohl spätestens seit 1953 nicht mehr an eine "reale Möglichkeit" einer Revision geglaubt. Daß Adenauer, für den nach eigener Aussage östlich von Magdeburg ohnehin die "asiatische Steppe" begann, die Frage der Ostgebiete bei der Durchsetzung seiner Politik der unbedingten Westintegration eher als lästigen Klotz am Bein empfand, ist wohl unzweifelhaft. Auch der Widerstand, den die CDU/CSU zu Beginn der siebziger Jahre den Ostverträgen mit ihrer faktischen Grenzanerkennung entgegensetzte, erschöpfte sich weitgehend in Wählermobilisierung - gerade einmal 17 Unionsabgeordnete stimmten 1972 im Bundestag gegen die Ratifizierung des Warschauer Vertrages.

1990/91 brauchte die schwarz-gelbe Bundesregierung dann keinen ernsthaften Protest der Öffentlichkeit mehr zu fürchten, als sie die Oder-Neiße-Linie im Rahmen des Zwei-Plus-Vier-Vertrags bzw. des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags endgültig anerkannte. An dieser Stelle bricht Hartenstein seine Darstellung jedoch nicht ab, sondern gibt einen Ausblick auf die aktuelle Debatte um die Vertreibung in Deutschland und Polen und insbesondere um das heftig umstrittene Zentrum gegen Vertreibungen. Daß dabei auf polnischer Seite neben nachdenklichen Stimmen immer wieder auch Äußerungen zu hören sind, die noch ganz dem Mythos von den "piastischen" bzw. den "wiedergewonnenen" Westgebieten Polens verhaftet sind, ist Ausdruck einer unbewältigten Vergangenheit, aus deren Perspektive Hartensteins Buch sicher als Provokation empfunden werden dürfte.

Im Ergebnis präsentiert der Autor in seiner Studie keine neuen Erkenntnisse, seine Materialgrundlage beschränkt sich auf die reichlich ausgeschöpfte Sekundärliteratur und gedruckt vorliegende Quellen. Ohne zusätzliche Archivrecherchen wurde die Gelegenheit leider vertan, den historischen Blick auf die Entstehung der Oder-Neiße-Linie wesentlich zu erweitern. Manches, was einer eingehenderen Erörterung wert gewesen wäre, bleibt so zu sehr an der Oberfläche. Als flüssig geschriebener Gesamtüberblick über die Thematik ist das Buch dennoch nützlich und zur Lektüre empfohlen.

Michael A. Hartenstein: Die Geschichte der Oder-Neiße-Linie. "Westverschiebung" und "Umsiedlung" - Kriegsziel der Alliierten oder Postulat polnischer Politik? Olzog Verlag, München 2006, gebunden, 271 Seiten, 24,90 Euro

Foto: Polen setzen 1945 Grenzpfahl an der Oder: Bis heute gepflegter Mythos, Polen sei das handlungsunfähige Objekt einer von den Alliierten in Jalta und Potsdam ausgekungelten "Westverschiebung" gewesen


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