© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/07 23. Februar 2007

Pankraz,
H. Blumenberg und das Ende des Westens

Gibt es "den Westen" eigentlich noch, d.h. den Westen als geopolitische Größe und "Schicksalsgemeinschaft"? Oder spukt hier nur noch ein Gespenst durch die Analysen und Kommentare, ein Lautgebilde mit kümmerlichem Erinnerungsgehalt, ein bloßes Wort, das hier und da schon als Unwort, als üble Droh- und Totschlagvokabel verwendet wird, wie etwa auch "Antifaschismus" oder "Rassismus"?

Daß es diesen "Westen" einst wirklich gab, darüber besteht kein Zweifel. Es gab ihn als Zusammenschluß europäischer, amerikanischer und asiatischer (Japan) Staaten gegen die kommunistische Aggression und Tyrannei, als Verteidigungsbündnis, riesiges technisches Labor und leidenschaftlich betriebene Geisteskultur, welche sich auf stolze, ehrwürdige Traditionen berufen konnte. Dieser "Westen" sprach in der Politik glaubhaft mit einer Stimme, die Interessen seiner einzelnen Mitglieder stimmten weitgehend überein, die jeweiligen Verabredungen und Vornahmen funktionierten fast wie von selbst.

Aber von solchen übereinstimmenden Interessen und reibungslos funktionierenden Verabredungen ist kaum noch etwas übriggeblieben. Schon der gemeinsame Wertekanon, auf den man sich einst geeinigt hatte, ein Konglomerat aus Freiheitswillen, Respekt vor dem Leben, Fortschrittsoptimismus und friedfertiger Außenpolitik, ist zerbröckelt, existiert nur noch in Sonntagsreden. "Im Namen des Westens" wird heute überfallen, gebrandschatzt und gefoltert wie in einem beliebigen Kriegsherrenstaat im Herzen der Finsternis. Der Grad der Unterdrückung von Meinungsfreiheit überschreitet in manchen Ländern "des Westens" mittelalterliche Amtsbräuche.

Mit den gemeinsamen politischen Interessen der Mitglieder ist es ganz schlecht bestellt. Man nehme den gegenwärtigen Krieg "des Westens" in Afghanistan! Worin bestehen zum Beispiel unsere eigenen deutschen Interessen an diesem Krieg? Afghanistan hat uns Deutschen nie etwas getan, und wir haben ihm nie etwas getan. Unsere Beziehungen waren immer ausgezeichnet, der afghanische König war der erste, der uns nach dem Ersten Weltkrieg freundschaftlich besuchte, wir bauten ihm Straßen und Schulen. Wieso müssen wir jetzt kriegsmäßig in diesem Land herumfuhrwerken?

Eine der dort tätigen Kriegsparteien, die sogenannten Taliban, die seinerzeit von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan aufgebaut und gegen die Sowjets in Stellung gebracht worden waren, gelten jetzt als Feinde "des Westens" weil sie angeblich das Terror-Phantom al-Qaida beherbergen. Wie die Dinge wirklich liegen, weiß niemand. Trotzdem zerbombt "der Westen" nun Tag für Tag armselige Dörfer in unübersichtlichen afghanisch-pakistanischen Grenzregionen, und deutsche Tornados sollen die Bomber einweisen. Welchen Interessen dient das denn?

Wahrscheinlich wissen nicht einmal die Amerikaner, weiß nicht einmal das Weiße Haus in Washington, wie die Interessenlage tatsächlich ist. Die ganze Operation sieht inzwischen verdächtig nach einem wüsten Dreinschlagen um des Dreinschlagens willen aus; selbst professionelle Optimisten unter den Bush-Beratern glauben nicht daran, daß damit langfristig der strategische Einfluß der USA in Mittelasien rund um die Öl- und Gasfelder befestigt werden kann.

Und wenn es so wäre, wenn also die USA durch ihren Einsatz in Afghanistan tatsächlich zum maßgebenden Einflußfaktor in Mittelasien aufsteigen könnten - was haben wir Deutschen und andere europäische Staaten davon? Wieso sollen wir ungeprüft kriegerische Bütteldienste leisten, obwohl noch gar nicht ausprobiert ist, ob unseren Interessen an einem kontinuierlichen Rohstoffnachschub nicht viel besser durch friedliche Verhandlungen zum gegenseitigen Nutzen mit den östlichen Ölstaaten gedient wäre?

Wichtigtuerische Großstrategen kommen und sagen: Ja, wenn "der Westen" sich hier nicht voll und ganz mit den USA identifiziert, dann geraten seine kleineren Mitglieder "unter russischen Einfluß", dann bekommen wir wieder "den russischen Imperialismus", und das sei auf jeden Fall das größere Übel. Dagegen läßt sich eine ganze Menge sagen.

Was die Deutschen betrifft, so haben sie in ihrer Geschichte nie unter "russischem" Imperialismus gelitten, nur unter sowjetisch-kommunistischem. Imperialismus im allgemeinen und speziell in der Neuzeit sieht so aus, daß der imperialistische Aggressor als "Welterlöser" daherkommt, der die von ihm Unterworfenen nicht nur ausplündert und zu Tributen zwingt, sondern sie auch nicht mehr so leben läßt, wie sie es selber möchten und gewohnt sind. Moderner Imperialismus bedeutet Fremdbestimmung und Gleichmacherei. Er ist nicht einfach Ausfluß nationaler Hybris, sondern Ausfluß ideologischen Wahns.

Genau das macht ja die Gefährlichkeit und den Schrecken des islamischen Terrorismus aus: daß er als Welterlöser einherkommt, der bei der Installierung des "rechten Glaubens" buchstäblich über Leichen geht, ein erbarmungsloser Planifikateur angeblich Gottes, in Wahrheit aber des Teufels. Denn nur der Teufel kann es, wie schon Hans Blumenberg angemerkt hat, nicht aushalten, daß der einzelne, ob Person, ob Volk, Zeit braucht, um sich auf Erden zurechtzufinden und seine Verhältnisse organisch zu entwickeln. Der Teufel hat keine Zeit, und so auch der Imperialist nicht.

Die Russen, glaubt Pankraz, haben ziemlich viel Zeit, denn sie haben ja das Öl und das Gas. Außerdem haben sie bittere imperialistische Lehrjahre durchgemacht, die katastrophisch endeten. So etwas prägt sich ein, eröffnet echte kollektive Lernprozesse, die andere möglicherweise erst noch vor sich haben. Es liegt jedenfalls nicht in unserem deutschen Interesse, noch einmal in imperialistische Katastrophen verwickelt zu werden. Lieber sollte man rechtzeitig eine Sprachregelung beerdigen, die während der letzten Jahre eindeutig zur Phrase geworden ist und, wie alle Phrasen, viel Unheil anrichten kann.


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