© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/07 16. Februar 2007

Perle des Ostens
Ein Leben in stetem Gleichmaß: Die Dörfer und Landschaften der Kurischen Nehrung lassen von schwermütiger Beschaulichkeit im alten Ostpreußen ahnen
Hans-Georg Meier-Stein

Die Kurische Nehrung, jene sehr schmale, aber etwa hundert Kilometer lange Halbinsel, die sich geographisch vom Samland bis zur Tiefebene von Memel erstreckt, zählt heute zum Weltkulturerbe: ein Naturdenkmal von einzigartiger Schönheit, das seinen Charakter durch die Birken- und Kieferwälder und die Wanderdünen bekommt.

Nehrung und Haff haben ihren Namen von den Kuren, einem indogermanischen Volk, das in frühgeschichtlicher Zeit nach Livland einwanderte und im 15. Jahrhundert als Fischer und Bauern auch in Preußen siedelte. Die alte Poststraße von Deutschland nach Rußland - lange Zeit nur ein schlichter Grasweg - führte schon im 15. Jahrhundert durch die langgezogenen Nehrungsdörfer: durch Sarkau, Rositten, Pillkoppen, Nidden, Schwarort zum Sandkrug an der Nordspitze der Nehrung. Von hier aus kann man nach Memel hinübersehen, der ältesten Stadt des frühen Ostpreußen. Sie wurde am 1. August 1252 von Dortmunder Kaufleuten unter der Schirmherrschaft des livländischen Landmeisters gegründet und hieß daher ursprünglich "Neu-Dortmund". 1605 wurde Simon Dach hier geboren, von dem das "Ännchen von Tharau" stammt. Eine Fährverbindung vom Sandkrug nach Memel gab es, solange beide zum Reich gehörten.

Die stillen Dörfer in ihrer bunten Farbigkeit, doch idyllischen Verträumtheit lassen von einem Leben in ruhiger Beschaulichkeit im alten Ostpreußen ahnen. Aber man darf doch nicht die unerbittliche Härte des Fischerlebens vergessen. Die Besinnung auf das Gewesene anhand alter Fotografien läßt uns einen Blick in die Vergangenheit tun, auf die Menschen mit ihrem unbestechlichen Sinn für Wahrhaftigkeit, Redlichkeit, Ordnung; Menschen, die in großer Bescheidenheit hier ihr abgeschiedenes Dasein lebten, aber doch mit Mut und Tatkraft, die sie von ihren Vorfahren geerbt hatten. Ein Leben in stetem Gleichmaß, voll Ruhe und Einfachheit, die uns heute verlorengegangen sind.

Die Fischerei hat längst an Bedeutung verloren und der Massentourismus seinen Einzug gehalten. So stehen heute auf der Nehrung Hotelbauten und Ferienhäuser. Und auch die einzigartige Tierwelt von Nehrung und Haff hat durch Umweltverschmutzung und technisierten Raubfang schwer gelitten: Von den über 300 Fischarten im Haff sind nur wenige geblieben.

Die Kurische Nehrung ist bekannt als bedeutender Vogelzugweg. 1901 wurde in Rositten von Professor Johannes Thienemann die ornithologische Beobachtungsstation eingerichtet. Rositten entstand im 14. Jahrhundert als Stützpunkt des Deutschen Ordens, war vor dem letzten Krieg Sitz der Rhön-Rositten-Segelfluggesellschaft und genoß im 19. und 20. Jahrhundert einen guten Ruf als Badeort. Von hier aus konnten sich die Erholungssuchenden bei ausgedehnten Wanderungen über die Kämme der Dünen, entlang der Ostseeküste oder am Haffufer, durch malerische Fischer- und Bauerndörfer oder durchs Elchgebiet die Schönheiten der Kurischen Nehrung erschließen: mit der Lichtfülle und Raumtiefe an der Ostsee, mit den Reflexen des Lichts auf den Wellen, den dramatischen Seestürmen und den Wolkenmassen, der Erhabenheit des Himmels, dem Mondschein über der See, den von Wind und Sturm verbogenen Bäumen im Sand und dem tiefen Schweigen in der Einsamkeit. Die Ästhetik des Atmosphärischen ist hier bestimmt vom Beieinander von Pastoralem und Sublim-Schauerlichem und das Gemüt des Menschen stets in eine seelenvolle Stimmung versetzt. Und darin gründet die Schwermut der alten Ostpreußen.

Einst haben die Wanderdünen mehrere Fischerdörfer unter sich begraben, und erst im 19. Jahrhundert ist es gelungen, die Dünen durch Bepflanzung mit Bergkiefern festzuhalten und die restlichen Ortschaften vor der todbringenden Zusandung zu schützen. 1825 verschwand das Dorf Kunzen, aber 1859 kam die Kirche am anderen Ende der Düne wieder zum Vorschein. Viermal mußten die Bewohner von Pillkoppen ihre Häuser ab- und an sicherer Stelle wieder neu bauen, erst dann machte die Neubepflanzung mit Kiefern, Strandhafer und Strandroggen der Gefahr ein Ende. Die Formenvielfalt der Einzeldünen, Zwillingsdünen, Reihendünen, der Winkel, Ketten, Wälle der Sandriffel, Rippel und Wellenformen ist bizarr und wechselt ständig, und bei Stürmen konnte die Wanderung der gewaltigen weißen Sandberge bis zu 20 Meter pro Tag erreichen. Von den bis zu 70 Meter hohen Dünenrücken sind indes die Segelflieger zu ihrem lautlosen Flug gestartet.

Wer sich mit den Eigentümlichkeiten der Kurischen Nehrung vertraut machen will, sollte sich vor allem einen großartigen Farbband aus dem Husum-Verlag leisten. Eine gute geschichtliche Ergänzung dazu ist dann das Bändchen "Die Kurische Nehrung in 144 Bildern" aus der Rautenberg-Reihe mit ihren historischen Fotos, aus denen der Charme dieser Landschaft spricht und die Einsicht geben in das Wesen der Menschen, die hier gelebt haben. Nur hat bei dieser Reihe die Qualität der Fotos bei den Neuaufnahmen leider mitunter sehr gelitten. 

Foto: Weltkulturerbe Kurische Nehrung: Ein Naturdenkmal von einzigartiger Schönheit

Literaturempfehlung: Christian Papendick, Albrecht Leuteritz, Die Kurische Nehrung. Landschaft zwischen Traum und Wirklichkeit, Husum Verlag, gebunden, 284 Seiten mit über 300 farbigen und vielen s/w-Abbildungen, 49,95 Euro


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