© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/07 16. Februar 2007

"Der Union Beine machen"
Merz-Rückzug und sechs Monate AGG. Die CDU gerät immer tiefer in die ordnungspolitische Krise. Eine Bilanz
Moritz Schwarz

Herr Professor Habermann, Friedrich Merz will sich 2009 aus dem Bundestag zurückziehen, weil, wie er sagt, die Politik der CDU unter Angela Merkel "mit meinen Grundüberzeugungen nicht vereinbar ist".

Habermann: Merz ist nicht der erste, der die Sozialdemokratisierung der Union beklagt. Mit seiner Analyse hat er völlig recht, nur nicht mit seiner Konsequenz. Durch seinen Rückzug wird die Lage doch nicht besser, im Gegenteil. Ich hätte es sportlicher gefunden, wenn er sich weiter zum Kampf gestellt und für eine geistige Umorientierung der CDU gefochten hätte.

Was konkret stellen Sie sich unter "geistiger Umorientierung" vor?

Habermann: Lassen Sie doch mal die Gesetzgebung des letzten Jahres Revue passieren: Fast alle Gesetze haben unser Land nach links bugsiert. Denken Sie zum Beispiel an die Krankenversicherungsreform oder die Vorschläge zur flächendeckenden Kita-Versorgung unserer Ministerin gegen die Familie. Das ist doch wohl DDR pur!

Die Spekulationen über die Gründung einer Merz-Partei schossen zuletzt wild ins Kraut.

Habermann: Daß es dazu kommt, ist ja eher unwahrscheinlich. Ich würde allerdings eine Partei mit dieser Ausrichtung unbedingt begrüßen! Denn was wir in Deutschland dringend brauchen, ist eine echte bürgerliche Wende - mit, oder wenn sie nicht will, eben ohne die CDU. Eine Reformpartei könnte der Union Beine machen oder selbst die Basis für eine breite Reformbewegung in Deutschland bilden. Wir warten immer noch auf die 1983 nicht eingelöste "geistige" Wende.

"Das Heer der politisch Heimatlosen wächst"

Hätte eine Merz-Partei bei Wahlen denn wirklich Chancen?

Habermann: Auf jeden Fall. Zahlreiche Mitglieder und Wähler der CDU sind schon lange über den Kurs, den ihre Partei eingeschlagen hat, schwer enttäuscht und warten nur auf ein solches Angebot. Das Heer der politisch Heimatlosen wächst.

Der ehemalige Unions-Berater Michael Spreng meint über Merz: "Achtzig Prozent seiner Vorstellungen decken sich mit denen der FDP."

Habermann: Die FDP spricht aber doch teilweise eine andere Klientel an, manchen stören hier auch die linksliberalen Ansätze, außerdem sind die Liberalen in vielem auch nicht konsequent. Ich glaube, das bürgerliche Element in der CDU sieht da schon einen Unterschied. Denken Sie nur an die Wert- und Kulturkonservativen, die einerseits mit der FDP nichts anfangen können, sich andererseits aber dank des Einschwenkens der CDU auf die Linie von Rot-Grün in der Gesellschaftspolitik kaum noch von der Union vertreten sehen.

Wie wertkonservativ wäre denn eine von Friedrich Merz geführte Partei?

Habermann: Das ist die Frage, auch was "wertkonservativ" heute bedeutet.

Außer mit seinem - rasch wieder fallengelassenen - Vorstoß für die deutsche Leitkultur ist er diesbezüglich nicht in Erscheinung getreten. Nicht einmal gegen die Verabschiedung des einst heftig von der Union befehdeten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) hat er am Ende Front gemacht.

Habermann: Und das - was man nicht vergessen sollte - die Union gegenüber dem Entwurf von Rot-Grün ja noch nachgerüstet hat! Wir dürfen uns nicht damit abfinden, daß dieses Gesetz nun einmal verabschiedet ist. Denn es handelt sich nicht einfach nur um irgendein Gesetz, das ein gesellschaftliches Segment - falsch - regelt. Es handelt sich um eine Weichenstellung, die uns vom Pfad einer freiheitlichen Gesellschaft wegführt. Deshalb muß jede Gelegenheit genutzt werden, um darauf hinzuweisen, daß dieser fatale Fehler rückgängig gemacht werden muß! Das geht freilich nach dem Stand der Dinge nur über die EU, die sich übrigens mit diesem Antidiskriminierungsgesetz auch usurpatorisch in nationales Arbeitsrecht eingemischt hat.

Warum stellt das AGG eine solche Sünde wider die Freiheit dar?

Habermann: Weil es ein weiterer Schritt in Richtung "Schöne Neue Welt" ist. Dieses Gesetz ist Ausdruck eines Egalitarismus der totalitären Sorte. Es stellt einen massiven Einbruch des Staates in die Kernzone der bürgerlichen Freiheit, die Vertragsfreiheit, dar. Der Staat mischt sich in rein private Fragen ein: mit wem ich zum Beispiel zusammenarbeiten möchte. Ich soll zur Begünstigung mir vielleicht nicht nahestehender Gruppen gezwungen werden. Dies kann nur zur Umgehung und Heuchelei führen.

Am 18. August 2006 wurde das AGG verabschiedet. Welche Bilanz ziehen Sie nun nach fast genau einem halben Jahr?

Habermann: Die Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer hat im Herbst eine erste Erhebung in Auftrag gegeben, um die Folgen des AGG zu eruieren. Die Umfrage ergab, daß bis November 2006 zwar "nur" 6,7 Prozent der befragten 448 Unternehmer mit dem AGG in Konflikt geraten waren - 1,6 Prozent hatten bereits einen Prozeß führen müssen -, allerdings muß man bedenken, daß wir uns immer noch quasi erst in der "Warmlaufphase" des Projektes befinden. In Großbritannien, wo es schon seit längerem ein Antidiskriminierungsgesetz gibt, gehen mittlerweile etwa dreißig Prozent der arbeitsrechtlichen Gerichtsprozesse auf das Konto dieser Gesetzgebung! Bei uns dagegen hat die gesellschaftliche Umsetzung des Gesetzes, nicht zuletzt durch ein entsprechendes AGG-"Kommissarwesen", noch gar nicht richtig begonnen.

Wie ist die Stimmung unter den Unternehmern? Hat man sich "dreingefunden", oder murrt man?

Habermann: Man muß bedenken, daß Unternehmer wirtschaften und nicht Politik machen wollen. Sie verhalten sich also meist nicht konfrontativ, sie versuchen im Gegenteil Konflikte mit dem Gesetz zu vermeiden, was nicht heißt, daß es ihnen keine Schwierigkeiten macht. Im Gegenteil, gerade das Bemühen um Vermeidung bereitet vielen erhebliche Probleme und treibt die Bürokratisierung trotz allen Geredes von Bürokratieabbau weiter voran. Man denke allein an die Dokumentationspflichten, die ängstliche Überprüfung des Textes einer Annonce, ob sie "politisch korrekt", also ohne Aussage ist. Diese Absurdität einer geschlechtsneutralen Annoncierung, wenn ich doch einen Mann oder eine Frau haben will! In den USA darf sogar mancherorts bei Bewerbungen das Geschlecht nicht angegeben, auch kein Foto beigelegt und keine Altersangabe gemacht werden! Verrückt! Jeder zweite der von uns Befragten gab an, spezielle Vorsorgemaßnahmen zur Verhütung eines Konflikts getroffen zu haben. Dazu kommt die - statistisch gar nicht zu erfassende - atmosphärische Verschlechterung in den Betrieben, die Lügerei, die man betreiben muß, um sich nicht ins Visier der Gleichbehandlungs-Kommissare zu bringen.

"Das Antidiskriminierungswesen wird immer weiter zunehmen"

Bevor die CDU das AGG schließlich selbst verabschiedete, nannte Angela Merkel das Gesetz einen "Job-Killer". Hat sich diese Voraussage bestätigt?

Habermann: Nach unserer Umfrage eindeutig ja! Denn 47,8 Prozent der Befragten, - also fast die Hälfte - gab an, aus Furcht vor dem AGG möglichst auf Neueinstellungen zu verzichten. Das Problem ist, daß man den "Job-Killer"-Effekt in diesem Fall nur indirekt nachweisen kann. Denn Arbeitsplatzverluste entstehen beim AGG nicht durch Entlassungen, sondern durch Nichteinstellung. Ich bin sicher, daß der derzeitige Trend zur Zeitarbeit durch das AGG noch verstärkt wird.

Versicherungsfachleute sehen das AGG als ersten Schritt zu Verhältnissen wie in den USA, wo es in Antidiskriminierungsklagen um Millionen von Dollar geht. Dazu wären bei uns allerdings weitere Gesetze notwendig. Ist das zu erwarten, oder ist mit dem AGG das Thema vom Tisch?

Habermann: Keineswegs, und das ist auch ein Grund dafür, den Kampf gegen das AGG nicht einzustellen. Denn naiv ist, wer glaubt, es bliebe dabei. Die Gleichmacherei, der Zwang, von Unterschieden abzusehen, wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auch bei uns immer weiter zunehmen. Ein Blick in die USA zeigt, was uns wohl droht. Dort gibt es zum Beispiel bekanntlich bereits die "positive" Diskriminierung, die sogenannte "affirmative action". Es genügt nicht mehr, nicht negativ zu diskriminieren, Sie müssen bestimmte Gruppen offen bevorzugen, etwa Schwarze bei der Studienplatzvergabe, oder denken Sie an die Quotenregelung.

Was antworten Sie aber auf tatsächliche praktische Mißstände? Etwa wenn Behinderte aus einer Gaststätte gewiesen werden oder 50jährige Qualifizierte eine Stelle allein aufgrund ihres Alters nicht bekommen?

Habermann: Mitmenschlichkeit ist ein gesellschaftliches, ein moralisches Gebot. Sie hat aber im Gesetz nichts verloren. Gesetzlich erzwungene Mitmenschlichkeit wird nie zu echter Menschlichkeit führen, sondern verkehrt sich ins Gegenteil und endet immer in unbarmherziger Erziehungsdiktatur. Erzwungene Liebe ist nicht Liebe, erzwungene Moral keine Moral. Das zu verstehen, ist entscheidend. Deshalb darf der Kampf gegen das AGG nicht nur auf praktischer, er muß vor allem auf weltanschaulicher Ebene geführt werden: indem man klarmacht, was eine freiheitliche Gesellschaft eigentlich ist, wie sie funktioniert und was zu ihrem schließlichen Untergang führen kann.

Selbst die Wochenzeitung "Die Zeit" sieht das AGG als ein Indiz dafür, daß Deutschland sich auf dem Weg in den "Erziehungsstaat" befindet. Die Verantwortlichen, so das Blatt, hätten damit nicht weniger als "die ganze Gesellschaft im Visier".

Habermann: Da hat die Zeit, die sonst aber auch gerne dem "social engineering" des Wort redet, sich mal auf ihr liberales Herkommen besonnen. Das AGG ist nämlich nicht Produkt eines freiheitlichen, sondern eines egalitär-technokratische Geistes.

"Die CDU leidet unter dem Verfall ihres Politikbegriffs"

Woher kommt dieser Geist?

Habermann: Das ist der Geist jenes etwa von Wilhelm Röpke so heftig getadelten egalitären Progressismus, der besonders die internationalen Organisationen beseelt. Eine wichtige Rolle spielen leider auch die USA. Die Vereinigten Staaten haben ja neben einer großartigen freiheitlichen Tradition leider auch - wie von Alexis de Tocqueville im 19. Jahrhundert schon diagnostizierte - egalitäre Tendenzen hervorgebracht. Das Menschheitsversprechen, eine Welt der Gleichen in materieller Sicherheit, ohne Leidenschaft, ohne Parteinahme und deutlich unterscheidende Eigenschaft: Der US-Politologe Francis Fukuyama sprach einmal von der "Heraufkunft des letzten Menschen". Bereits 1941 taucht diese Vision als globales politisches Ziel formuliert in der sogenannten "Atlantik-Charta" auf, die Churchill und Roosevelt während des Zweiten Weltkrieges im Kampf gegen die Achsenmächte verabschiedeten. Dort ist davon die Rede, den Krieg für eine "bessere Zukunft der Welt" zu führen, die "allen Menschen in allen Ländern Freiheit von Angst und Not gewährleisten" soll. Von der Atlantik-Charta schaffte es diese Formulierung dann 1945 in die Gründungscharta der Uno. "Freiheit von Angst und Not" - stellen Sie sich das einmal vor! Als ob diese "Befreiung" in der Macht der Behörden läge! Oder auch nur wünschenswert wäre. Schließlich gehören diese Gefühle zur condition humaine!

Wie aber kommt dieser Geist in die CDU?

Habermann: Wir haben Ende 1989 geglaubt, die freie Welt habe die sozialistische besiegt. Leider gab es damals keinerlei Grundsatzdebatte über die sozialistische Ethik und die Notwendigkeit, sie als intellektuellen Irrtum aufzugeben. Der Zusammenbruch des Kommunismus wurde lediglich als machtpolitisches Faktum betrachtet. Ein Sieg der Freiheit als weltanschaulichen Prinzip war das für die "Sieger" nicht. Im Gegenteil, der Wohlfahrtsstaat als schleichender Sozialismus und die Reglementierung der Gesellschaft wurden weiter ausgebaut. Damals wurde absurderweise von Norbert Blüm noch eine Pflegeversicherung nach dem Bismarck-Prinzip draufgesattelt!

CDU-Politiker Lothar Späth zum Beispiel hielt den Sozialimus in den neunziger Jahren für eine gute, weil angeblich humane, nur politisch nicht umsetzbare Idee.

Habermann: Da sehen Sie, welches intellektuelle Defizit, um nicht zu sagen Vakuum, in der CDU in bürgerlicher und freiheitlicher Hinsicht herrscht. Da ist es kein Wunder, daß der rot-grüne Gesellschaftsumbau durch AGG, Gender-Mainstreaming, gleichgeschlechtliche Ehen, "Kitaisierung" Deutschlands unter der Union unvermindert vorangetrieben, ja sogar mitunter forciert wird. Dabei entstand als Reaktion auf die Folgen der Kulturrevoltion von 1968 eine Phalanx von durchaus achtbaren Intellektuellen, Journalisten und Politikern - auch in der CDU -, die die Herausforderung begriffen und annahmen. Es wurde vor 1983 weit grundsätzlicher und ordnungspolitisch klarer argumentiert als gegenwärtig, wo es praktisch keine Debatte dieser Art mehr gibt! Was die CDU angeht, spätestens unter Kohl begann der Verfall ihres Politikbegriffs: von der Idee der Überzeugung und des weltanschaulichen Gestaltungswillens hin zum puren, formalen Machterhalt. Kohl brüstete sich damit, daß er keinen Ehrgeiz habe, Erhard-Preisträger zu werden. Angela Merkel hat vermutlich keine klare Vorstellung von dieser geistigen Herausforderung und von den Prinzipien einer Gesellschaft, die auf der Grundlage der Freiheit funktioniert. Die heutige CDU-Chefin und Kanzlerin - so sympathisch sie persönlich sein mag - ist Ausdruck des Paktes der derzeit koalierenden Mächte. Man könnte sagen, nicht sie macht Politik, die Politik hat sie gemacht. Sie treibt faktisch die Sozialdemokratisierung, ja Sozialisierung Deutschlands voran - trotz ihres anfänglichen Slogans von "Mehr Freiheit wagen!", der vielen Hoffnung gemacht hatte.

 

Prof. Dr. Gerd Habermann ist Vorsitzender der ordoliberalen Friedrich August von Hayek-Stiftung in Berlin, Honorarprofessor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Potsdam und Direktor des wissenschaftlichen Instituts der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer. Geboren wurde er 1945 in Minden/Westfalen.

 

Kontakt: Friedrich August von Hayek-Stiftung & Gesellschaft, Postfach 19 15 55, 14005 Berlin, Telefon: 030 / 30 06 52 10, Internet: www.hayek.de

 

Stichwort "Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz": Geht zurück auf die Initiative einer sozialistischen EU-Abgeordneten, die 2000 bis 2004 zu vier EU-Richtlinien ("Antirassismus", "Gender", "Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf" und "Gleichbehandlung außerhalb der Arbeitswelt") führte. Zu deren Umsetzung schuf die rot-grüne Bundesregierung das Antidiskriminierungsgesetz (ADG), das aber am Widerstand der CDU-Opposition scheiterte. Am 18. August 2006 verabschiedete die Union das zuvor von ihr als "massivsten Angriff auf die Vertragsfreiheit, den es in der Bundesrepublik je gegeben hat", verurteilte Gesetz in verschärfter Form unter dem neuen Namen jedoch selbst. Fachleute befürchten das Entstehen einer "Gleichbehandlungsindustrie", betrieben von Antidiskriminierungsbeauftragten, Unternehmensberatern, Rechtsanwälten und Trickbetrügern. Kommentar eines Fachmannes: "Alle warten noch auf das erste Gerichtsurteil, dann geht es richtig los."

 

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