© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/07 02. Februar 2007

Frisch gepresst

Familienbande. Der Mathematiker Arthur Schoenflies (1853- 1928) hat durch seine Definition der 230 möglichen Raumgruppen von Struktursymmetrien entscheidende Grundlagen der Kristallographie und damit der modernen Festkörper- und Materialwissenschaften gelegt. Daneben hat er Bausteine zur Ausgestaltung der Cantorschen Mengenlehre beigesteuert und zusammen mit dem späteren Nobelpreisträger Walter Nernst ein seinerzeit weitverbreitetes Lehrbuch ("Einführung in die mathematische Behandlung der Naturwissenschaften") verfaßt, bevor er seine akademische Laufbahn als Rektor der Universität Frankfurt am Main (1920/21) abschloß. Jetzt liegt aus der Feder seines Enkels Thomas Kaemmel eine Biographie vor, die neben der Würdigung seines Lebenswerkes auch die vielfältigen Verzweigungen der Familie nachzeichnet. Als typischer Vertreter des jüdischen Bildungsbürgertums war Schoenflies Glied eines Familiengeflechtes, das sich wie ein "Who is Who" jener Bildungselite ausnimmt. Eine seiner Nichten war die Mutter von Walter Benjamin, eine andere die der Lyrikerin Gertrud Kolmar, über seine Frau Emma Levin gab es Verbindungen zu den Familien des Nordisten und lbsen-Übersetzer Julius Elias sowie den Familien Hirschfeld und Goldschmidt. Beim Leser erweckt die Darstellung nostalgische Erinnerungen an jene fruchtbare deutsch-jüdische Kultursymbiose, die durch die Zäsur von 1933 jäh unterbrochen wurde (Arthur Schoenflies - Mathematiker und Kristallforscher. Eine Biographie mit Aufstieg und Zerstreuung einer jüdischen Familie. Projekte Verlag, Halle/ Saale 2006, gebunden, 159 Seiten, Abbildungen, 28,50 Euro).

Moderne und Mythos. Wer als Herausgeber so ein Allerweltsthema vorgibt wie Silvio Vietta und Herbert Uerlings, die unter "Moderne und Mythos" (Wilhelm Fink Verlag, München 2006, broschiert, 263 Seiten, 39,90 Euro) da­hinsegeln, darf sich nicht wundern, wenn nur wieder die "üblichen Verdächtigen" ihrem Ruf folgen. So ist Dieter Borchmeyer mit seinem Lebensthema "Richard Wagner und Thomas Mann" vertreten, der Pariser KR-Experte Gilbert Merlio traktiert diesmal nicht Karl Jaspers, sondern "Die mythenlose Mythologie des Oswald Spengler". Die mit einer Studie über Thomas Manns Bachofen-Rezeption ausgewiesene Elisabeth Galvan bleibt in diesem ihr vertrauten Gedankenkreis, wenn sie den Einfluß des "Mutterrechtlers" nach 1933 aufzeigt, und Anna Chiarloni wendet sich von Christa Wolf zu Heiner Müller ("Ikonographie der Gewalt"). Historisch spannt sich der Themenbogen von Vico, Hölderlin und der englischen Frühromantik bis zu Müller und Friedrich Dürrenmatt. Eine inhaltlichen Synthese ist daraus kaum zu gewinnen. Zusammengehalten werden die Aufsätze eher durch den Buchbinder, und gemeinsam war ihren Verfassern offenkundig nur die menschliche Schwäche, der Einladung in die Villa Vigoni am Comer See nicht widerstanden zu haben: Dort fand im Oktober 2004 unter einzigartigen arkadischen Konditionen die Tagung über "Remythisierung in der europäischen Moderne" statt, deren Referate sich in diesem Band nachlesen lassen.


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