© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

BRIEF AUS BRÜSSEL
Paradoxe Ansichten
Andreas Mölzer

In Angela Merkels Ansprache vor dem Europaparlament in Straßburg war viel von "Toleranz" die Rede. Unter anderem meinte die neue EU-Ratsvorsitzende: "Europas Seele ist die Toleranz" oder "Europa ist ein Kontinent der Toleranz". Wenn es aber darum geht, den Absichtserklärungen auch Taten folgen zu lassen, ist es in der EU mit der Toleranz schon wieder vorbei. So behauptete die deutsche Bundeskanzlerin, das Scheitern der EU-Verfassung wäre ein "historisches Versäumnis", weshalb es im Interesse Europas, der Mitgliedstaaten und der Bürger sei, den Verfassungsprozeß bis 2009 zu einem "guten Ende" zu führen.

Wenn es also darum geht, Prestigeprojekte des EU-Polit-Establishments zu verwirklichen, ist kein Platz für Toleranz, geschweige denn für die Achtung demokratischer Entscheidungen. Schließlich haben die Franzosen und Niederländer mit ihren Volksabstimmungen den Verfassungsvertrag zu Grabe getragen, und in den meisten Staaten durfte die Bevölkerung überhaupt nicht abstimmen. Und nun wundert sich ebendiese Klasse auch noch über mangelnde Begeisterung und die EU-Skepsis des Souveräns, des Volkes.

Merkels Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) führt etwa die weitverbreitete EU-Skepsis sogar auf das Fehlen einer EU-Verfassung zurück. Und besonders paradox ist es, wenn der Verfassungsvertrag das bestehende Demokratiedefizit dadurch lösen will, daß der EU-Kommission noch mehr Kompetenzen übertragen werden sollen.

Entgegen dem Loblied Merkels auf die EU-Verfassung braucht Europa aber kein Verfassungsmonstrum mit zentralistischen Tendenzen, sondern einen Grundlagenvertrag für einen Bund freier Staaten. Nicht minder wichtig ist es, den Bürger endlich direkt mitbestimmen zu lassen und längst überfällige Probleme wie Globalisierung, Zuwanderung und Arbeitslosigkeit zu lösen. In den genannten Punkten ist von der deutschen Ratspräsidentschaft jedoch nicht einmal ansatzweise ein Schritt in die richtige Richtung zu erwarten. Zwar wiederholte Merkel die Phrase von der "Erhaltung und Entwicklung unseres europäischen Sozialmodells", forderte aber gleichzeitig die "Vertiefung der transatlantischen Wirtschaftspartnerschaft". Dies sei "zutiefst im europäischen Interesse".

Das Interesse an einem solchen gemeinsamen EU-US-Markt beschränkt sich freilich auf eine handverlesene Zahl internationaler Konzerne sowie die Hochfinanz. Die Bürger, die Arbeitnehmer, kämen bei der Verwirklichung dieses Planes noch mehr unter die Räder der Globalisierung, als es bisher schon der Fall ist. Denn die Globalisierung ist US-amerikanischen Ursprungs, und daß die USA das europäische Sozialmodell übernähmen, kann wohl nicht angenommen werden.

Anstatt gegen die Interessen Europas und seiner Bürger zu arbeiten, wäre es besser, wenn sich Merkel auf die Einlösung ihres zentralen Wahlversprechens konzentrieren würde, den EU-Beitritt der Türkei zu verhindern. Und genauso wichtig wäre die Lösung des Problems der illegalen Massenzuwanderung. Denn damit könnte Merkel der von ihr zu Recht gepriesenen europäischen Identität der nationalen und kulturellen Vielfalt einen weit besseren Dienst erweisen als mit der Wiederbelebung eines längst toten Verfassungsvertrages.

 

Andreas Mölzer ist Chefredakteur der Wiener Wochenzeitung "Zur Zeit" und seit 2004 FPÖ-Europaabgeordneter.


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