© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

Wenn die Datenautobahn zum Holperpfad wird
Computer: Regierungen und private Anbieter zensieren und manipulieren die Inhalte im Internet / Filter unterdrücken mißliebige Seiten
Erol Stern

Winston Smith arbeitet in "1984" im Ministerium für Wahrheit, einer Propagandabehörde, die sich der Umschreibung und Verfälschung sowohl geschichtlicher als auch politischer Daten und Meldungen verschrieben hat. Mißliebige werden vom totalitären System als Unpersonen aus dem kollektiven Gedächtnis verbannt. Winstons Alltag ist durchzogen von Versorgungsmängeln, allumfassender Überwachung, Alkohol, Terror, Krieg und Mißtrauen gegenüber den sich bespitzelnden Mitmenschen in Ozeanien. Sein Leben und Arbeiten besteht aus Zensur, bis er selbst in jener verschwindet.

Obwohl der britische Schriftsteller George Orwell (bürgerlicher Name: Eric Arthur Blair) bekennender Sozialist war, beschrieb er in seinem 1946/47 entstandenen Werk "1984" mit erschreckender Präzision den Überwachungsapparat, der bald darauf in der DDR entstehen sollte - fast so, als hätte seine Dystopie dem Ministerium für Staatssicherheit als Vorlage und Anleitung hergehalten.

Auch die Seite der JF wird herausgefiltert

Nachdem Medienkritiker durch die seit dem Jahre 1984 omnipräsenten Parallelen zwischen Orwellscher Dichtung und damaliger Realität unisono verkünden, daß Orwells Optimist gewesen müsse, zeichnen sich zunehmende Parallelen auch auf dem "Neuen Kontinent" ab - dem Internet.

In Deutschland etwa werden bestimmte Internetseiten von den Betreibern der Suchmaschinen zensiert. So suchen Interessierte in der Trefferliste nach der Internetseite dieser Zeitung vergeblich, wenn sie unter der neuen Suchmaschine www.live.de von Microsoft nach der JUNGEN FREIHEIT spähen. Ein Fehler der Technik? Wohl kaum. Wer die internationale Version der Suchmaschine unter www.msn.com benutzt, erlebt nämlich eine Überraschung: an erster Stelle der Trefferliste findet sich - die Seite der JF. Ähnlich sieht es aus, wenn man nach der Partei Die Republikaner sucht. Als erste Treffer erscheinen unter live.de zwar die Seiten rep-nrw.de und rep-bw.de der Landesverbände Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, die Seite des Bundesverbandes sucht man allerdings vergeblich - Zufall, oder hat der Zensor hier einfach nur geschlampt? Ganz offensichtlich hat Microsoft für seine deutsche Version der Suchmaschine einen Filter installiert, der bestimmte Seiten herausfischt und diese dem Internetnutzer vorenthält - der "Kampf gegen Rechts" läßt grüßen.

Microsoft hat gegenüber der JF den Vorwurf der Zensur übrigens zurückgewiesen. Statt dessen macht der Softwaregigant seit über einem Jahr "technische Gründe" für das Fehlen der JF-Seite auf der Trefferliste verantwortlich. Daß es auch anders geht, zeigt übrigens Google: Hier erscheint sowohl die Seite des Bundesverbandes der Republikaner als auch die Internetpräsenz der JF an erster Stelle der Trefferliste.

Gilt landläufig das World Wide Web als anarchistisches El Dorado der Meinungsfreiheit, der ungehinderten Information und Kommunikation, wäre es Augenwischerei, die vielen Bestrebungen zu übersehen, diese Freiheiten immer mehr einzuschränken. Die Gefahr, daß Bürgerrechte zugunsten kommerzieller und staatlicher Interessen geopfert werden, ist realer denn je - auch in Deutschland.

Während alle Welt noch über Bedeutung und Begrifflichkeit des "Web 2.0" rätselt und philosophiert, satteln Medienexperten bereits auf den Nachfolger des einst als Kongreß-Schlagwort geprägten, derzeit auf dem Gipfel seiner Hype-Kurve befindlichen Begriffs auf: "Web 3.0". Steht Web 2.0 (in seinem populärsten Kontext von vielen) noch für den realen kaufmännischen und betriebswirtschaftlichen Erfolg kleiner innovativer High-Tech-Unternehmen als Lernprozeß aus den Wirren der geplatzten Dotcom-Blase, mahnen prophetische Stimmen vor den Gefahren der nächsten Stufe.

Neben der intelligenteren Nutzung mathematisch-naturwissenschaftlich aufbereiteter Verhaltensmuster von Internetnutzern für Suchmaschinen und geschäftliche Anbieter erklingen gebetsmühlenartig die Unkenrufe jener, die diese Eigendynamik auch für Kontrolle und Kommerz manipulierbar halten. Denn als Bindeglied zwischen Netz und Nutzer könnten die großen Telekommunikations-Konzerne, einmal kartellisiert, eine dunkle Vision verwirklichen: ein Kommerznetz, bei dem nur noch zahlungskräftige Unternehmen ungefiltert beim Verbraucher ankommen - sei es nun geschwindigkeits- oder gänzlich inhaltebedingt.

In diesem hätten unabhängige Diensteanbieter keine Chance durchzudringen und der Verbraucher keinerlei Ausweichmöglichkeit. Daten-Mautzahlungen böten zudem den Internetprovidern die Chance, ihre durch den mehrjährigen Preiskampf bereits angespannte Ertragslage gleich bilateral zu verbessern: Durch die Verdrängung von Wettbewerbern - ähnlich den Tendenzen am Strommarkt - würden sowohl Internetteilnehmer als auch Inhalteanbieter zur Kasse gebeten.

Während der freie Cyberspace als Daten-Holperpfad, virengeplagt, langsam und steinig jedem offenstünde, dürfte zahlungskräftige und -willige Klientel die vielbeschworenen Datenhighways in buchstäblich voller Bandbreite passieren. Und genau hier sehen Datenrechtler die große Gefahr für das World Wide Web, wie wir es kennen. Denn die Lobbyisten der Kommunikationsriesen haben ihre Aktenkoffer schon gepackt ...

Ein bisher gescheitertes Unterfangen stellte die Trusted Computing Platform Alliance (TCPA) dar. Dieses Konsortium, welches 1999 von Microsoft, Hewlett-Packard und IBM initiiert wurde, zielte auf die Schaffung eines neuen Industriestandards, um die Manipulationssicherheit von Daten und Programmen bereits auf Hardwareebene sicherzustellen, was eine selektive bis komplette Datenzensur ermöglicht hätte. Aufgrund ihrer Strukturen und der Kritik der Verbraucher erwies sich die TCPA jedoch als nicht handlungs- und lebensfähig, daher versandete sie 2003 in einer noch zahnloseren Nachfolgeorganisation. Ähnliche Erwägungen trägt Microsoft jedoch noch immer mit sich herum und arbeitet seither an einer Liste "vertrauenswürdiger" Seiten, deren Implementierung in seine Browserprogramme jedoch fraglich ist.

Staaten als treibende Kraft

Daneben machen auch die Betreiber der immer weniger werdenden unabhängigen Suchmaschinen regelmäßig klar, welche (informations-)politische Bedeutung und Macht von ihnen ausgeht. In manchen Staaten haben sie mehrfach gezeigt, daß die Kanalisierung von Daten dort den Normalzustand bildet.

Die vierte treibende Kraft für einen seiner Freiheit beraubten globalen Datenverkehr stellen die Staaten dar. Was sich hierzulande mit dem Nimbus der Terrorbekämpfung oder der Indizierung angeblich radikaler Inhalte vergleichsweise liberal auswirkt, offenbart in anderen Ländern die Tragweite legislativer Kontrolle. So prangert die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) regelmäßig die Umstände in erschreckend vielen Nationen an: Prominentestes Beispiel ist China. Das Land hat rund 130 Millionen Surfer, wobei das Regime eine Mischung aus Filtern, Überwachung und Einschüchterung praktiziert, verbunden mit strikten Auflagen für ausländische Internet-Firmen. "China ist weltweit das größte Gefängnis für Cyber-Dissidenten mit derzeit 62 Menschen in Haft für Online-Veröffentlichungen", berichtet RSF. Aber auch im Iran, Libyen, Nordkorea Singapur, Südkorea, Syrien, Thailand, Tunesien, Turkmenistan, Usbekistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Vietnam, Weißrußland und Saudi-Arabien werden Internetinhalte zensiert: Schöne Neue Welt!


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