© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/07 26. Januar 2007

"Der Krieg im Netz"
Die Formen der Zensur im Internet sind vielfältig. Cyber-Pionier Jaron Lanier fürchtet einen neuen Totalitarismus
Moritz Schwarz

Herr Dr. Lanier, Sie gelten als einer der "härtesten Kritiker" ("Süddeutsche Zeitung") der Vorstellung, das Internet - insbesondere in seiner neuen Technologiestufe "Web 2.0" - sei die Verkörperung von Freiheit und Vielfalt. Gleichzeitig sind Sie ein wichtiger Vordenker und Pionier des Internet. Haben Sie also etwas zu bereuen?

Lanier: Nein, wenn man ein Experiment unternimmt, ist es unausweichlich, daß man von manchen Resultaten überrascht ist. Das Problem ist nicht, daß wir auch negative Resultate erzielt haben, sondern daß zu viele Menschen sich weigern, die negativen Resultate zur Kenntnis zu nehmen.

Zum Beispiel das Problem der Zensur?

Lanier: Zensur ist eine Sache, an die der Normalbürger mit zuerst denkt, wenn es um die negativen Seiten des Netzes geht. Aber es gibt noch ganz andere Aspekte.

Sie sprechen von Formen der Zensur, der Einflußnahme und Realitätsverzerrung jenseits klassischer Bevormundung durch eine staatliche oder soziale Obrigkeit.

Lanier: Ich möchte nochmal betonen, daß ich die Errungenschaften des weltweiten Netzes überwiegend für positiv halte. Aber es hat sich eben herausgestellt, daß es negative Phänomene etwa den festen Glauben an die "Weisheit der Masse" befördert.

Also die Idee, daß kaum etwas der Realität so nahekommt wie der Durchschnitt aus der Meinung aller.

Lanier: Das funktioniert vielleicht, wenn es um die Ermittlung von Zahlen oder politischer Ansichten geht, aber für viele ist die "Weisheit der Masse" schon keine Methode mehr, sondern eine Weltanschauung.

In deren Mittelpunkt die Existenz einer sogenannten "Schwarm-Intelligenz" steht.

Lanier: Die unselige Vorstellung, die Masse - der Schwarm - bringe automatisch eine höhere Form von Intelligenz hervor, die Weisheit des Kollektivs sei der des Individuums per se überlegen.

Der logische Schritt aus der von Ihnen einst mitgetragenen Anschauung, das Internet sei die Inkarnation von Freiheit und Demokratie.

Lanier: Vor 25 Jahren waren wir alle sehr hoffnungsvoll. Heute sollten wir vor allem realistisch, sprich ehrlich zu uns selbst sein. Man könnte sagen, wir haben in dieser Zeit die schmerzliche Transformation von Philosophen zum Wissenschaftlern durchgemacht. Der Philosoph denkt sich gute Ideen aus, der Wissenschaftler aber konfrontiert ihn mit der Realität empirischer Daten. Die Wahrheit ist nämlich, daß die offene, demokratische Struktur des Netzes auch dazu führt, daß Menschen verführt und manipuliert werden. Das Versprechen einer "Weisheit der Masse", die Annahme einer höheren "Schwarm-Intelligenz" ermöglicht und rechtfertigt jeden Irrtum, wenn Menschen nur per Internet zu Masse werden.

Also nur schöne neue Worte für den alten Kollektivismus der Totalitarismen?

Lanier: Auf jeden Fall ist es das, was Sie bei den Nazis, den Kommunisten und heute bei den Islamisten finden: Was zählt, ist das große Ganze, nicht der Einzelne.

Sie fürchten das Entstehen eines neuen Maoismus, eines "digitalen Maoismus".

Lanier: Ja, es ist fast wie eine Religion. Die Leute geben ihre Identität auf, um Teil eines Massenmediums zu werden. Sie beginnen, an etwas unfehlbar Übergeordnetes zu glauben. Sie haben ihre Rituale, ihre Heiligen. Noch mag das der Kultus einer Minderheit von Computerfreaks sein. Aber Computer haben von Jahr zu Jahr mehr Einfluß auf unser Leben, und unsere Gesellschaft ist von Jahr zu Jahr enger mit dem Netz verwoben.

Sie warnen: "Mit den Computern werden auch die Ideen der Freaks immer mehr Teil des kulturellen Mainstreams."

Lanier: Noch erscheint uns die Welt dieser Leute schrullig, noch befinden wir uns auch in der Frühphase der Entwicklung der Computertechnologie. Ich frage mich aber, was wird in Jahren und Jahrzehnten sein?

Was aber hat das noch mit dem Thema Zensur zu tun?

Lanier: Das liegt doch auf der Hand. Nehmen Sie zum Beispiel die Online-Enzyklopädie Wikipedia ...

... an der jeder mitschreiben kann. Man muß sich nur anmelden und kann mitmischen.

Lanier: Wird dort etwas Falsches behauptet, ist es keineswegs ausgemacht, daß die "Weisheit der Masse" zur Korrektur führt. Im Gegenteil!

Sie sprechen von "Wiki-Lynchjustiz": Der Einzelne könne Opfer eines "Wiki-Mobs" werden.

Lanier: Über mich wurde bei Wikipedia zum Beispiel behauptet, ich sei Filmemacher. Stimmt nicht. Aber meine Korrektur des Eintrags wurde immer wieder rückgängig gemacht. Bei Wikipedia bestimmen meist jene die Wahrheit, die am besessensten sind.

Was, wenn über eine Person wahrheitswidrig etwas Schwerwiegendes behauptet wird, etwa sie sei kriminell oder über eine Institution, sie sei politisch extremistisch?

Lanier: Wie soll sich der Einzelne gegen die kollektive Behauptung im Netz wehren? Wer glaubt ihm? Ich selbst konnte meinen Eintrag schließlich nur deshalb endgültig korrigieren, weil ich mich als nicht ganz unbekannte Persönlichkeit öffentlich lang genug darüber beschwert habe.

Sie haben darauf hingeweisen, daß "digitale Strukturen keine Evolution haben". Heißt das, ist eine falsche Behauptung im Netz erst einmal durch eine ewige, weil nicht evolutionäre Struktur eingeschlossen, erlangt sie faktisch "Unvergänglichkeit"?

Lanier: Eine Falschinformation wird, wenn sie nur auf einer ausreichend breiten Basis ins Netz gebracht wird, immer wieder reproduziert. Wie Gesteinsschichten legen sich schließlich die Ebenen der Fehlinformation über den wahren Sachverhalt und verschütten die Wahrheit.

Schon sperren in Deutschland Suchmaschinen wie www.live.de auf Grundlage solcher Behauptungen die Treffer für politisch mißliebige Netzseiten.

Lanier: Oder nehmen Sie das Beispiel China: Dort werden von anonymer Seite Fälle von Ehebruch im Netz veröffentlicht. Dann verabredet man sich, um den Betroffenen aufzulauern und sie zu bestrafen.

Das spricht allerdings dafür, entsprechende Seiten zu indizieren. Also: Zensieren oder nicht zensieren, das ist hier die Frage?

Lanier: Vor 25 Jahren hätte ich wohl noch gesagt: Offenheit ist die Lösung, Zensur das Problem. Heute, wenn ich sehe, was im Internet so präsentiert wird, ist das für mich nicht mehr so einfach. Als 1989 die Berliner Mauer fiel, sagte jemand: "Das Problem war nicht der Marxismus, das Problem war, daß die Menschen nicht gut genug für den Marxismus waren." Solch eine Sicht finde ich bemerkenswert. Gut, vielleicht sprach da nur die Enttäuschung eines idealistischen Marxisten, aber was denken sich diese Leute? Das ist das, was wir auch lernen mußten. Systeme müssen mit der Realität rechnen, sonst funktionieren sie nicht und es ist einfältig, sich später dann so darüber so zu wundern. Vor 25 Jahren haben wir die Ansicht vertreten: "Laßt jede Form von Extremismus im Netz zu! Denn dann können die Leute sehen, was es wirklich mit Extremisten auf sich hat, und das wird diese von alleine schwächen."

Das hat aber nicht funktioniert?

Lanier: Nein, tatsächlich sind die Leute meist nur noch extremistischer geworden, weil sie Gleichgesinnte gefunden haben. Andererseits gibt es auch Zensur, die zu weit geht. Natürlich muß etwa Kinderpornographie im Netz zensiert und bekämpft werden. In den USA wurde allerdings in einem Fall Kinderpornographie auf dem Rechner eines 16jährigen gefunden. Nun drohen dem Jungen 90 Jahre Haft. Geht das nicht zu weit? Um das Leben von Kindern zu schützen, das Leben eines Fast-noch-Kindes zu zerstören, leuchtet mir nicht recht ein.

Kehren wir zum Problem der politischen Zensur zurück. Wir bekämpfen den Mißbrauch der Freiheit durch Extremisten mit einem Kontrollsystem. Besteht aber nicht die Gefahr einer nicht weniger gefährlichen Verselbständigung dieses Systems? Stichwort: Political Correctness.

Lanier: Das ist ein schwieriges Problem. Vielleicht liegt die Lösung darin, nicht den Inhalt, sondern die "Handlungsanleitung" von Meinungen zum Maßstab der Zensurfrage machen. Man sollte vielleicht nicht danach fragen: "Ist das eine zu rechte oder zu linke Meinung?" Sondern: "Zu welchem Verhalten fordert sie auf?" Und: "Ist dieses Verhalten dazu geeignet, Schaden anzurichten?" Findet sich zum Beispiel auf einer Netzseite eine Anleitung zum Bombenbau, so ist diese Seite ganz sicher - unabhängig von ihrem politischen Hintergrund - dazu geeignet, ein Verhalten herbeizuführen, das Schaden anrichtet. Zensur darf also nicht politisch, sie muß praktisch sein. Sie soll nicht Meinungen, sondern Übel verhindern.

Trifft hier nicht zu, was Sie vorhin moniert haben: Gut ausgedacht, aber praktisch nicht tauglich, weil nicht mit dem Faktor Mensch - also der Tendenz zum politischen Mißbrauch - rechnend?

Lanier: Es ist natürlich naiv zu glauben, es habe je einen Gesellschaft gegeben, die keinerlei Einschränkung der freien Rede verfügt habe. Jede Gesellschaft hat darauf zu jeder Zeit ihre eigenen Antworten gegeben. Die Demokratie zeichnet sich lediglich dadurch aus - und darin liegt aber auch meine Hoffnung -, daß ihr das Ziel vorschwebt, soviel wie möglich an Meinungs - und Redefreiheit zuzulassen. Deshalb ist es wichtig, das Netz so zu gestalten, daß nicht die negativen, sondern die positiven Seiten des Menschen angeregt werden, denn um so weniger Zensur brauchen wir

Das ist sicher kein falscher Ansatz, wird aber das Problem politisch mißbräuchlicher Zensur - in den USA wohl eher linker, in Europa eher rechter Meinungen - nicht lösen.

Lanier: Wenn es uns gelingt, die Verhältnisse so zu gestalten, daß solche Fälle Einzelfälle sind, dann könnten die Gesellschaft diese Einzelfälle jeweils diskutieren und ihnen möglichst gerecht werden. Der große Vorteil wäre dann, daß wir nicht mehr pauschal vorgehen müßten. Statt schematisch zu zensieren, würden wir individuell urteilen.

Was ist Ihrer Meinung nach eigentlich der Charakter von Zensur: Das Gute bekämpft das Schlechte? Oder: Eine Gruppe versucht der anderen ihre Weltsicht aufzudrängen?

Lanier: Wenn die eine Gruppe die andere dermaßen bekriegt, daß sie quasi schon deren Meinung an sich bekämpft, so ist das ebenso übel wie eine klassische Zensur. Früher glaubten wir, das Internet würde dazu führen, daß Menschen unterschiedlichster Anschauungen aufeinandertreffen und sich und ihre Ideen kennen- und schätzen lernen. Heute müssen wir feststellen, auch im Netz bilden die meisten Menschen vor allem Gruppen von Gleichgesinnten. Nehmen Sie die USA, sie sind ein geteiltes Land und nicht zuletzt das Internet hat dazu beigetragen. Politisch sind da auf der einen Seite die privaten Kabel-Medien, die meist extrem - um nicht sogar zu sagen, in bösartiger Weise - Pro-Bush-Propaganda machen und extrem feindselig gegenüber allen gegenteiligen Auffassungen sind. Genau das gleiche können Sie aber auch auf der anderen Seite beobachten. Die Anti-Bush-Leute, die viel auch über das Internet kommunizieren, sind nicht weniger bösartig und feindselig gegenüber ihren Opponenten gesonnen.

Außer der schon höchst problematischen "Weisheit der Masse" gibt es also auch noch die offene "Bösartigkeit der Masse"?

Lanier: Leider ja. Zwei Faktoren, die beide bedauerlicherweise zu den Grundeigenschaften des Netzes gehören, sind dabei leider sehr förderlich. Erstens die Anonymität. Kaum irgendwo sind die Leute so gemein, bösartig und widerwärtig wie in den anonymen Diskussionsforen und Weblogs. Wenn Sie sich wirklich mal richtig gruseln wollen, lesen Sie bei Wikipedia nicht die Lexikoneinträge, sondern die Diskussionspfade über strittige Lexikoneinträge. Dort toben regelrechte Kriege, sogenannte "Editwars", um den richtigen Eintrag, bei denen dem Gegner nichts geschenkt wird. Und wer sich moderat gibt und zu vermitteln versucht, der wird von beiden Seiten gehaßt. Der zweite Faktor ist das Mutieren vom Einzelwesen zur Masse. In dem Moment, wo die Leute im Netz in die Masse, in eine anonyme Gruppe von Gleichgesinnten eintauchen und es im weiteren oder engeren Sinne um politische Fragen geht, legen sie meist ein Rudelverhalten an den Tag: Sie folgen dem Leitwolf unbedingt und beißen alles andere weg.

Zensur, Rückkehr des Kollektivismus, ein neuer "digitaler Maoismus", die "Bösartigkeit der Masse". Was bleibt noch übrig von Freiheit und Fortschritt des Internet/"Web 2.0"?

Lanier: Der Freiheit droht von zwei Seiten Gefahr: von der Spitze der Gesellschaft, etwa durch einen Diktator, und von der Basis der Gesellschaft, etwa in Gestalt eines Lynchmobs. Das schlimmste ist, wenn beides zusammenkommt. Soweit ist es zum Glück noch nicht. Ich wiederhole es: Vieles im Netz ist positiv. Es gibt viel Austausch, Kreativität und Erziehung zu echter Persönlichkeit. Aber es gibt auch diese Schattenseiten, die deshalb so gefährlich sind, weil wir davor die Augen verschließen und weil wir eine zu abstrakte Vorstellung von Freiheit haben. Die Leute halten Freiheit oft für ein hochschwebendes Ideal. Falsch! Freiheit ist eine ganz praktische Sache, die sehr real in der Mitte zwischen den Kräften entsteht, wenn sich diese in Schach halten. Ich bin vielleicht viel weniger optimistisch als früher, aber ich habe die Hoffnung nicht verloren. 

 

Dr. Jaron Lanier Der "Computer-Guru" (FAZ) und "Technologiepopstar" (Die Welt) gilt als "wichtigster Vordenker der digitalen Zukunft" (Der Spiegel). So prägte er zum Beispiel den Begriff "Virtuelle Realität". Der Informatiker, Musiker und "Gegenwartsphilosoph" (Süddeutsche Zeitung) lehrt unter anderem an der Columbia und an der Yale University und ist Ehrendoktor am New Jersey Institute of Technology. Geboren wurde er 1960 in New York.

 

Stichwort "Die Weisheit der Masse": Der Begriff geht zurück auf das Buch "The Wisdom of crowds" des amerikanischen Wirtschaftsjournalisten James Surowiecki ("Die Weisheit der Vielen", Bertelsmann 2005). Er vertritt die These, daß in Sach- und Wissensfragen die Quote der richtigen Antworten größerer Kollektive die einzelner Entscheider - mitunter von Fachleuten - signifikant übertreffe. Ein Kollektiv erzeugt also einen Mehrwert an Wissen: "Die Weisheit der Vielen".

 

Stichwort "Web 2.0": Während das 1993 gestartete Internet in den ersten zehn Jahren seines Bestehens für den Nutzer vorwiegend ein passives Medium war ("Web 1.0"), nehmen seit einiger Zeit die interaktiven Elemente wie Wikis, Weblogs oder Bild- und Video-Sharing-Portale immer mehr zu. Der Nutzer wird zunehmend vom Konsumenten zum aktiv Beteiligten. Diese neue Technologie-Ebene beschreibt der Begriff "Web 2.0" ebenso wie das damit einhergehende neue Nutzerverhalten. "Web 2.0" ist also kein exakt definierter Begriff, sondern ein Sammelsurium aus Anwendungen, Verhaltensweisen und Technologien. Geprägt wurde er 2004 von den Informatikern Dale Dougherty und Craig Cline.

 

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