© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/07 12. Januar 2007

Doppelleben in "zwei Kulturen"
Stefan George: Ein weiterer Aufsatzband widmet sich dem Meister und seinen gelehrten Jüngern
Knut Lechner

Von ihm führe kein Weg zur Wissenschaft, soll Stefan George gesagt haben. Ein verblüffendes Diktum angesichts der Tatsache, daß nun nach einem 2004 veröffentlichten Band über Historiker im Umfeld des "Meisters" ("Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissenschaft". Wallstein-Verlag, Göttingen) schon die zweite Aufsatzsammlung über "Wissenschaftler im George-Kreis" erschienen ist. Dafür Beiträge einzuwerben, war offenbar kein Kunststück. Denn mustert man die Lebensläufe seiner "Jünger", scheint genau das Gegenteil von des Dichters Einschätzung zuzutreffen: Alle Wege führten von ihm zur Wissenschaft.

So versammelt Bernhard Böschenstein mit seinen Mitherausgebern die Referate eines Colloquiums, die das Fächerspektrum der alten Philosophischen Fakultät gehörig abdecken. Daß der Germanist Friedrich Gundolf dabei mit Ausnahme von Jürgen Egyptiens Bemerkungen zu seinem "Shakespeare und der deutsche Geist" (1911) unberücksichtigt blieb, ist verzeihlich, da dieses wissenschaftliche Schwergewicht inzwischen einen eigenen Deutungsbetrieb in Lohn und Brot gesetzt hat. Dies gilt auch für den Mediävisten Ernst H. Kantorowicz, der hier nur von Wolfgang Christian Schneider ("Geschichtswissenschaft im Banne Stefan Georges") gestreift wird. Schmerzlicher ist schon das Fehlen von Friedrich Wolters, den Bertram Schefold nur kurz als Wirtschafshistoriker würdigt, obwohl er doch als Verfasser der kanonischen Geschichte des Kreises ("Stefan George und die Blätter für die deutsche Kunst. Deutsche Geistesgeschichte seit 1890", 1930) gewiß in diesen Kontext gehört hätte, nachdem man ihn schon im "Historiker-Band" von 2004 links liegenließ.

Trotzdem ist der Ertrag beachtlich zu nennen. Die Germanisten Ernst Bertram, dessen Nietzsche-Monographie (1918) zu den erfolgreichsten der "Geistbücher" des Kreises zählt, der 1916 vor Verdun gefallene Hölderlin-Forscher Norbert von Hellingrath und Max Kommerell, der neben Gundolf berühmteste "Abtrünnige", sind vertreten. Wolfgang Schuller stellt mit Albrecht von Blumenthal, Alexander von Stauffenberg und Woldemar von Uxkull drei Althistoriker vor, Graf Vitzhum kümmert sich um drei Staats- und Völkerrechtler (Johann Anton, Berthold Schenck Graf von Stauffenberg, Karl Josef Partsch), Bertram Schefold bedenkt die Nationalökonomen Edgar Salin, Julius Landmann, Kurt Singer. Ernst Osterkamp widmet sich ausführlich dem Kunsthistoriker Wilhelm Stein, Adolf Heinrich Borbein spürt dem Einfluß des Dichters unter Klassischen Archäologen wie Ernst Langlotz und Karl Schefold nach. Wolfgang Osthoff meint auch in der Musikwissenschaft Fernwirkungen Georges zu entdecken.

Neben solchen zumeist soliden Musterungen fällt lediglich die Miszelle Robert E. Nortons erheblich ab, die uns etwas über "Das Geheime Deutschland und die Wissenschaft" zu verraten verspricht, aber nur wirres Gestammel über die Rezeption Henri Bergsons im "Kreis" bietet, das fatal an zahlreiche Passagen seiner mißlungenen "großen" George-Biographie (JF 35/03) erinnert.

Einen ähnlichen Eindruck vollständiger Desorientierung hinterlassen leider auch Ausführungen des Grafen Vitzhum zum historischen Hintergrund der völkerrechtlichen Arbeiten Berthold Stauffenbergs. Schon die Stauffenberg-Monographie seines Doktoranden Alexander Meyer fiel in dieser Richtung unangenehm auf (JF 17/03). Und auch Vitzhum schwadroniert nun über die 1914 einsetzende "Selbstisolation Deutschlands in der Völkergemeinschaft" oder die nur "angebliche" Benachteiligung des Reiches durch den völkerbundlichen Haager Gerichtshof nach 1918, den der Bruder des Hitler-Attentäters mithin zu Unrecht kritisiert habe. Stauffenberg sei überhaupt "erstaunlich loyal gegenüber dem eigenen Vaterland" gewesen, wie der in diesem Punkt fraglos unbeschwerte, weil bundesdeutsch "weltoffene" Vitzhum bejammert.

Zu den bekanntesten "ideologiekritisch" angelegten Deutungen des George-Kreises zählt der Großessay des Hamburger Soziologen Stefan Breuer ("Ästhetischer Fundamentalismus", 1995). Als Ausgeburt eines geschichtsfremden Soziologismus ist das Werk vielfach auf Kritik gestoßen. Auch in diesem Umfeld holt sich Breuer wieder kräftige Ohrfeigen ab. Von Dirk von Petersdorff ("Stefan George - ein ästhetischer Fundamentalist?") etwa und, aggressiver, von Wolfgang Christian Schneider, der sich für den "georgianischen" Historiker Wolfram von den Steinen vielleicht eine Spur zu enthusiastisch ins Zeug legt. In seiner sympathischen Parteilichkeit läßt er sich zu einer Attacke gegen Breuer hinreißen, gegen dessen "Beschränktheit", dessen Unfähigkeit, die Texte der großen Mandarine wie Simmel oder Dilthey auch nur lesen, geschweige denn, wie seine "schiefen Ausdeutungen" belegen, sie verstehen zu können, oder gegen den lässigen Umgang mit Begriffen wie "Moderne" und "Antimodernismus".

Von solchen Unzulänglichkeiten zeugt hier erneut ein Aufsatz Breuers, der dem einzigen Naturwissenschaftler des engeren "Kreises" gilt, dem Mediziner Kurt Hildebrandt. Da Breuer eifrig zitiert, kann man sich einen plastischen Eindruck von seiner geradezu legasthenischen Behinderung bei der Texterfassung machen. Denn oft genug werden seine Interpretationen schon vom zitierten Text ad absurdum geführt. Nicht erstaunlich daher, daß am Ende Hildebrandts "rassenhygienisches" Schrifttum nur in die dafür heute gebräuchliche Schablone gepreßt wird und Breuer ihn als "Wegbereiter und Stütze der nationalsozialistischen Herrschaft" präsentiert.

Wirklich erstaunlich indes ist, daß der Soziologe durch die Kritik an seinen grobschlächtigen Werken offenbar etwas verunsichert wurde. Plötzlich finden sich Wendungen, die hermeneutische Sensibilität zumindest vortäuschen: daß Hildebrandt ein "Wegbereiter" gewesen sei, sei nicht "die einzig mögliche Auslegung". Überdies reklamiert er "beachtliche Differenzen", die Hildebrandt von der rassenhygienischen Bewegung trennen und die es verböten, aus ihm plump einen "Rassisten" zu machen. Immerhin neue Töne bei Breuer, die auf die Lernfähigkeit dieses auf die Emeritierung zusteuernden Alt-68ers hoffen lassen.

Wie von George über Hildebrandt aber nur ein Weg zu einer Wissenschaft führte, die mit gewaltigen weltanschaulichen Erwartungen befrachtet war, so ergibt die Gesamtbilanz der Beiträge, daß der "Meister" mit der schroffen Distanzierung seines Künstlertums von der wissenschaftlichen Welt doch stärker im Recht war, als die akademischen Karrieren seiner Jünger dies vermuten lassen. Denn dort, wo viel "Schau" und "Intuition" gegen die rationalistisch-positivistische Wissenschaftsstandards ausgespielt wurde, in Steins Raffael-Biographie etwa, stießen die George-Adepten auf eine geschlossene Front der etablierten "Objektivisten". Akademisch erfolgreich waren sie also nur, soweit sie sich dem konventionellen Wissenschaftsideal anpaßten und darauf verzichteten, wie Wolfram von der Steinen bei seinem zweiten Habilitationsversuch in Basel, die "aus der geistigen und dichterischen Welt hereinströmenden neuen Impulse" als Forscher und Lehrer umzusetzen. So blieb ihnen nur die "Doppelexistenz" in den vielzitierten "zwei Kulturen".

Daß die Beiträger am Schluß nicht wie bei Sammelbänden mittlerweile üblich in Kurzviten vorgestellt werden, mag mancher entbehrlich finden. Anzukreiden ist den Herausgebern indes, daß sie es bei dieser ohnehin so atemberaubend teuren Aufsatzsammlung dem Verlag gegenüber nicht durchsetzen konnten, die Benutzbarkeit durch ein Namensregister zu erhöhen.

Bernhard Böschenstein, Jürgen Egyptien, Bertram Schefold, Wolfgang Graf Vitzhum (Hrsg.): Wissenschaftler im George-Kreis. Walter de Gruyter Verlag, Berlin 2005, gebunden, 376 Seiten, 98 Euro


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