© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/07 12. Januar 2007

Ungeschminkte Analyse
Einwanderung: Kühl und akribisch entmythologisiert Stefan Luft in seinem neuen Buch die deutsche Ausländerpolitik
MIchael Paulwitz

Wir hätten es verhindern können." Berlin-Neuköllns multikulturalismuskritischer Bürgermeister Heinz Buschkowsky sprach bei der Buchpräsentation am 4. Dezember im Herzen des Problembezirks aus, was man bei der Lektüre von Stefan Lufts neuestem Buch als erstes denkt. Der Bremer Politikwissenschaftler hat ein umfassendes Kompendium von Fehlentwicklungen, Irrtümern und Illusionen der Ausländerpolitik vorgelegt. Anders als der Titel vermuten läßt, ist "Abschied von Multikulti - Wege aus der Integrationskrise" keine polemische Streitschrift, sondern eine kühle und akribisch dokumentierte Bestandsaufnahme, die aus der gründlichen Analyse eine Vielzahl von - freilich eher allgemein gehaltenen - Lösungsansätzen ableitet.

Die Brisanz des Buches liegt daher weniger in einzelnen spektakulären Aussagen, auf die der sensationsbegierige Fast-Food-Rezipient ein neuerschienenes Sachbuch gerne reduziert sieht, sondern in der ernüchternden Vollständigkeit des zusammengetragenen Materials. Luft kann mit einer Fülle von Äußerungen aufwarten, die bisweilen dreißig Jahre alt und doch so aktuell wie heute sind. "Die zunehmende räumliche Konzentration der Ausländer, die verstärkte Ghettobildung, die Veränderung der ethnischen Struktur und die Verschärfung der Schulprobleme der Ausländerkinder haben eine bedrohliche Lage geschaffen, weil alle diese Faktoren die soziale Integration stark behindern bzw. sogar verhindern", schrieb beispielsweise Wolfgang Bodenbender vom Bundesarbeitsministerium in einer "Zwischenbilanz der Ausländerpolitik" und warnte, daß die daraus erwachsenden Probleme "von der deutschen Bevölkerung sehr ernst genommen werden" müßten. Das war 1976. Da fragt sich nicht nur der Neuköllner Bezirksbürgermeister, der auch in diesem Blatt mit dem Multikulturalismus ins Gericht ging (JF 11/05): "Wenn man das alles wußte, warum ist dann so wenig geschehen?"

Am Anfang war die Wirtschaft

Ja, warum? Wer "Abschied von Multikulti" gelesen hat, ist auch in dieser Frage klüger. Im Anfang war die Wirtschaft: Sie verlangte nach der Anwerbung billiger Arbeitskräfte; die Politik, im festen Glauben, daß das, was die Wirtschaft zum Brummen brauche, letztlich allen nütze, kam dem Verlangen nach. Zunächst wollte man sich auf "Gastarbeiter" aus westeuropäischen Ländern und aus Griechenland beschränken. Das Anwerbeabkommen mit der Türkei ging wesentlich auf die Initiative der türkischen Regierung zurück, die ihre Bevölkerungsüberschüsse zum Erwerb von Devisen und Fertigkeiten exportieren wollte. Die Bundesregierung stimmte auf Druck der Industrie abermals zu. Und es war wiederum die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände, die durchsetzte, daß die ursprünglich vereinbarte "Rotation" der befristet auf zwei Jahre angeworbenen türkischen Arbeitnehmer bald fallengelassen wurde. Man wolle die Leute schließlich nicht alle paar Jahre neu anlernen, hatte Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer seinerzeit argumentiert.

Für die Wirtschaft war die Beschäftigung von Gastarbeitern eine Frage der betriebswirtschaftlichen Kalkulation, legt Luft dar: "Lohnerhöhungen und Rationalisierungsinvestitionen konnten auf diese Weise aufgeschoben werden." Es stimmt also nicht, daß die Ausländer Arbeiten erledigten, für die kein Deutscher zu finden gewesen wäre; es fanden sich zu wenige Deutsche für bestimmte Jobs, weil die Arbeitgeber nicht bereit waren, auf das knapper werdende Angebot von Arbeitskraft für unattraktive Tätigkeiten durch Erhöhung der Nachfrage in Form von Zahlung höherer, dem deutschen Markt angemessener Löhne zu reagieren. Statt dessen griff man lieber auf billige ausländische Arbeitskräfte zurück, die die Politik der Wirtschaft wiederum willig zur Verfügung stellte. So wurden die Erträge aus dem Gastarbeitergeschäft privatisiert und die Folgelasten sozialisiert. Gleichzeitig verschlossen die Verantwortlichen die Augen vor der Tatsache, daß diese Maßnahmen in der Kombination eine Einwanderung auf Dauer begründeten. Eine Integrations- und Assimilierungspolitik unterblieb dennoch - auch weil die Politik inzwischen nicht nur von der Wirtschaft, sondern auch von der sich formierenden Multikulturalismus-Lobby in die Zange genommen wurde, die das Zerrbild der "Zwangsgermanisierung" als Totschlageargument führte.

Im Ergebnis führte dieser konkurrierende Lobbydruck zum totalen staatspolitischen Versagen in der Ausländerfrage und ist die Ursache dafür, daß Deutschland entgegen allen Bekundungen kein Einwanderungsland ist, weil es sich nicht wie eines verhält - eine zielorientierte und am Staatsinteresse ausgerichtete Ausländer- und Einwanderungspolitik findet bis heute nicht statt. Weder in der Rezessionsphase Ende der sechziger Jahre noch nach dem Anwerbestopp 1973 wurden daher - was die logische Konsequenz der konjunkturell begründeten Ausländeranwerbung bei Wegfall der ursprünglichen Voraussetzung gewesen wäre - die Weichen auf Rückkehr gestellt. Vielmehr gewann die Einwanderung nach dem Anwerbestopp auf dem Umweg der "Familienzusammenführung" erst recht an Dynamik; die Masse der Ausländer kam erst ins Land, als die Gastarbeiteranwerbung offiziell beendet war. Die in den industriellen Kernen der Großstädte konzentrierten Gastarbeiter fungierten dabei als Pioniere der sich in den siebziger Jahren herausbildenden ethnischen Kolonien. Stefan Luft lenkt unseren Blick darauf, daß die wohlfeile Kritik am "Versagen der Politik" bis heute maßgeblich von jenen Kräften kommt, die durch ihre penetrante Einflußnahme dieses Versagen selbst herbeigeführt haben.

Der Autor widerlegt gängige Mythen und Legenden

Die in den ersten vier Kapiteln präzise nachgezeichnete Geschichte der Entstehung von Parallelgesellschaften in Deutschland ist zweifellos die eindrücklichste Leistung dieses Buches. In zwei weiteren Kapiteln widmet sich Luft der Genese und aktuellen Dimension der einwanderungsbedingten Bildungskatastrophe, die er anhand der Situation in der Hauptstadt darstellt: Ein Drittel der Ausländerkinder in Berlin verläßt die Hauptschule ohne Abschluß, bei höheren Abschlüssen sind sie hoffnungslos unterrepräsentiert, nur jeder zehnte ausländische Jugendliche findet in Berlin eine Lehrstelle, und davon hält nur jeder Zweite die Ausbildung erfolgreich durch. Der Weg in die Sozialhilfekarriere ist für die künftige nichtdeutsche Bevölkerungsmehrheit vorgezeichnet: Sechs von zehn Ausländerkindern in Mitte leben von Sozialhilfe, Ersatz-Bestätigung bieten kriminelle Milieus, was sich in einer drei- bis viermal höheren Auffälligkeit nichtdeutscher Jugendlicher bei Gewalt-, Raub- und Sexualdelikten niederschlägt, Islamismus und der Rückzug ins ethnische Ghetto - sechzig Prozent der türkischstämmigen Männer "importieren" ihre Ehefrau direkt aus meist ländlich-rückständigen Regionen der Türkei, ihre Kinder sind "faktisch immer wieder erste Einwanderergeneration".

Abgerundet wird Lufts Darstellung durch Ausführungen zu den einzelnen Stufen der Integrationsdebatte von den siebziger Jahren bis zu den jüngsten Kontroversen, nebst Widerlegung gängiger Mythen und Legenden wie etwa der Behauptung, Einbürgerung sei Voraussetzung für und nicht etwa Ergebnis von Integration. Ein weiteres Kapitel ist dem "schwierigen Abschied vom Multikulturalismus" gewidmet. Letzteren charakterisiert der Autor als "Ideologie der Mittelschicht" , die auf Geringschätzung der einheimischen Unterschichten beruhe.

Bei der Suche nach "Wegen aus der Integrationskrise" steht für Luft "Bildung, Bildung, Bildung" an erster Stelle, wobei der Autor sich darüber im klaren ist, daß das Nachholen des früher Versäumten kostspielig wird. Die knappen öffentlichen Mittel müßten daher auf die Sprachförderung als Schlüssel zum Erfolg konzentriert werden. Luft warnt vor "staatlicher Ersatzreligion" und Kulturkampf, plädiert für die Begrenzung von Zuwanderung und Familienzusammenführung und gegen den EU-Beitritt der Türkei. Die Industrie müsse ihre "herausgehobene Verantwortung" für die gegenwärtige Lage wahrnehmen, statt sie auf "die Politik" abzuwälzen. Grundlage jeder Lösung sei eine offene politische Debatte - auch und gerade gegenüber türkischen Lobbyisten. Stefan Luft hat zusammengetragen, was an Daten und Fakten dafür notwendig ist.

Stefan Luft: Abschied von Multikulti. Wege aus der Integrationskrise, Resch-Verlag, Gräfelfing 2006, broschiert, 477 Seiten, 19,90 Euro


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