© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

Der bitteren Wahrheit wundervolle Bilder
Zwei endlose Minuten Filmgeschichte: Zum hundertsten Geburtstag des britischen Filmregisseurs Carol Reed
Werner Olles

Wenige Filme sind so reich an Bildern von großer Suggestionskraft, daß sie sich unvergeßlich einprägen. Einer davon ist Carol Reeds "Der dritte Mann". Graham Greenes Geschichte handelt von einer Männerfreundschaft zwischen dem schuldig gewordenen Penicillin-Schieber Harry Lime (Orson Welles) und dem noch über Ideale verfügenden Western-Autor Holly Martins (Joseph Cotten), der in das Nachkriegs-Wien kommt, um seinen Freund zu besuchen. Er erfährt jedoch, daß dieser bei einem Verkehrsunfall getötet wurde.

Auf Hollys Begräbnis lernt er nicht nur dessen Freundin Anna (Alida Valli) kennen, sondern auch Oberst Calloway von der britischen Militärpolizei (Trevor Howard), der ihn über Harry auszuhorchen versucht. Er spricht mit den Zeugen des Unfalls, allesamt recht zwielichtige Gestalten, die sich in widersprüchliche Aussagen verstricken.

Schließlich entdeckt er die bittere Wahrheit, daß sein Freund als skrupelloser Schieber durch Geschäfte mit gepantschtem Penicillin am Tod vieler Kranker mitschuldig wurde. Und es stellt sich heraus, daß Harry noch am Leben ist. Nachdem er das wahre Ausmaß von Harrys Verbrechen erfährt, verspricht Martins, Calloway bei der Fahndung behilflich zu sein. Nach einer großangelegten Jagd durch die Abwässerkanäle der Stadt wird Harry Lime gestellt, und Martins selbst richtet den in die Enge getriebenen Freund.

Die Hühnerzucht lag Reed weniger als die Regiekunst

Manches an "Der dritte Mann" erinnert an die großen expressionistischen Filme der zwanziger und dreißiger Jahre: die Schlüsselszene auf dem Riesenrad im Prater, das erste Auftreten Harrys, wo man nur seine Schuhe auf einem Treppenabsatz sieht, die gnadenlose Verfolgungsjagd durch die symbolträchtigen Kloaken, vor allem aber die Anfangs- und Schlußsequenzen auf dem Friedhof mit der letzten Einstellung des Films, in der Alida Valli eine nicht enden wollende Allee herunterkommt und der Zuschauer den Atem anhält vor lauter Spannung, ob sie sich nun Martins zuwendet oder nicht: zwei endlose Minuten, die in die Filmgeschichte eingegangen sind, weil Reed anders als Greene die Sehnsucht des Publikums nach einem glücklichen Ende negiert.

Als Calloways Jeep, der ihn zum Flughafen bringen soll, weg ist und Anna an Martins vorbeigeht, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, zündet der sich zur genialen Zither-Musik von Anton Karas, den Reed in einem Heurigenlokal aufgetrieben hatte, eine Zigarette an. Carol Reed hat sich hier selbst übertroffen: Besser kann ein Film, größer kann Kino nicht sein!

Reed, am 30. Dezember 1906 in London geboren, sollte eigentlich Farmer werden, doch kehrte der 18jährige schon nach sechs Monaten auf einem Hühnerhof in den USA nach England zurück, um seiner wahren Begabung nachzugehen. Nach einer Schauspielausbildung ging er zur Bühne, spielte zunächst aber nur kleine Rollen, bis er 1927 als Theater-Manager dem Kriminalschriftsteller Edgar Wallace bei der Bühnenadaption seiner Romane half.

Als die britische Filmindustrie in den dreißiger Jahren dem Import von US-amerikanischen Filmen einheimische Produktionen entgegensetzen will, die nationalen Charakter tragen, erweist sich Reed als eines der größten Talente dieser neuen Phase. Mit "Die Sterne blicken herab" (1938), einer ungeschminkten Darstellung des Lebens der englischen Arbeiterklasse voller sympathischem Einfühlungsvermögen und mit besonderem Humor, setzt er ein nicht mißzuverstehendes Zeichen dafür, daß eine Umwertung des englischen Films bevorsteht.

Der endgültige Umschwung sollte jedoch erst mit dem Zweiten Weltkrieg eintreten. Gemeinsam mit Garson Kanin dreht Reed einen Dokumentarfilm über die Invasion "The true Glory" (1945), der die Reihe der anglo-amerikanischen Kriegsfilme eröffnete und ihm einen Oscar einbrachte.

Die treibende Kraft hinter dem Aufschwung des britischen Films war der Industriemagnat J. Arthur Rank, dessen Produktion nicht nur die großen Shakespeare-Ausgaben zu verdanken waren, sondern auch so außergewöhnliche Werke wie Carol Reeds "Ausgestoßen" (1946).

Der Film ist vor allem eine Parabel über die Sinnlosigkeit des Tötens. Der irische Freiheitskämpfer Johnny (James Mason) ist bei einem Banküberfall wider Willen zum Mörder geworden. Während seine Gefährten den Kugeln der Polizei zum Opfer fallen, schleppt sich der Schwerverletzte, von der Polizei gejagt, durch die Straßen Belfasts und begegnet dabei immer wieder eigentümlichen Menschen. In seinen letzten Stunden wird ihm klar, daß er zwar zum Mord gezwungen wurde, aber im Grunde sich selbst getötet hat, indem er sich seinen Lebensnerv abschnitt. Die kluge dramaturgische Konzeption der Handlung folgt dem inneren Zerfall eines Menschen, der sich gegen das Leben vergangen hat, und erzählt nebenbei von der Relativität menschlichen Daseins.

Bei "Kleines Herz in Not" (1948) arbeitete Reed erneut mit Graham Greene zusammen, der das Filmdrehbuch nach seiner eigenen Erzählung schrieb. "Der Verdammte der Inseln" (1951), die in der indonesischen Inselwelt angesiedelte Geschichte eines Engländers, der in Singapur mit seinen Betrügereien gescheitert ist, aus Leidenschaft zu einer schönen Häuptlingstochter seinen Gönner, einen Kapitän und Handelsherrn, hintergeht und zur Strafe mit der Eingeborenen auf ein trostloses Eiland verbannt wird, entstand nach einem frühen Roman von Joseph Conrad.

Kompositorisch meisterhaft entfaltet der Film seinen Reiz durch die psychologische Vertiefung der unglücklichen Liebe des Engländers (Trevor Howard) zu der sinnlichen Insulanerin (Kerima), die den dem Alkohol Verfallenen insgeheim verachtet.

Reeds "Voller Wunder ist das Leben" (1955) beschreibt das Leben der einfachen Leute im Londoner Judenviertel, dem Trödlerdistrikt der Pettycoat Lane. Ein kleiner Junge ersteht eine Ziege mit einem verkrüppelten Horn, in der er das wundertätige Einhorn der britischen Volkssage sieht. Sein fester Glaube läßt viele der kleinen Wünsche seiner Mitmenschen in Erfüllung gehen. Verspielt und märchenhaft fesselt der Film durch seine treffenden Milieu- und Charakterzeichnungen. "Trapez" (1956), ein melodramatischer Zirkusfilm mit Starbesetzung - Gina Lollobrigida zwischen Burt Lancaster und Tony Curtis -, bietet zwar eine eher konventionelle Dreiecksgeschichte, doch sind die artistischen Szenen von großer Spannung.

Den zweiten Oscar gab es für das Film-Musical "Oliver"

Ein drittes Mal arbeitete Reed mit Graham Greene bei "Unser Mann in Havanna" (1959) zusammen. Der Film ist eine vergnügliche Agenten-Geschichte um einen harmlosen Staubsaugervertreter (Alec Guinness), der als britischer Spion in Kuba den Secret Service mit erfundenen Berichten über angebliche Geheimwaffen an der Nase herumführt. Zwar sind die Dokumente über die Wunderwaffen nur Gebrauchsanweisungen für Staubsauger, doch löst der "Agent" damit fast eine echte Krise aus. Anders als bei den üblichen Persiflagen auf das Nachrichtendienstmilieu gelang Reed eine hintergründige, mit verhaltener Ironie durchtränkte Tragikomödie auf hohem Niveau.

Seinen zweiten Oscar erhielt Reed für "Oliver" (1967), die Musical-Verfilmung des Charles-Dickens-Romans "Oliver Twist". Am 25. April 1976 starb der 1952 von der britischen Königin zum Ritter geschlagene Regisseur im Alter von 69 Jahren in London an einem Herzinfarkt.


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