© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/07 5. Januar 2007

"Wir sind ein nobles Land"
Peter Gauweiler hat 2005 die EU-Verfassung gestoppt. Was erwartet er von der deutschen Ratspräsidentschaft?
Moritz Schwarz

Herr Dr. Gauweiler, Deutschland hat zum zweiten Mal die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Im Mittelpunkt soll die "Wiederbelebung" des EU-Verfassungsprozesses stehen. Kommt die EU-Verfassung nun doch noch?

Gauweiler: Wenn Sie damit den vorliegenden EU-Verfassungsvertrag meinen ... der ist bereits Geschichte.

Mancher träumt von seiner Auferstehung.

Gauweiler: Reine Zeitverschwendung! Sie haben allerdings insofern recht, als dieser Umstand manche Leute nicht davon abhält, sich dennoch damit zu beschäftigen. Es gibt in Brüssel - wie in Berlin - genug Experten für Zeitverschwendung.

Außenminister Steinmeier wünscht sich "neue Dynamik" für das Verfassungsprojekt.

Gauweiler: Die Frage ist, was damit gemeint ist. Der Bundespräsident hat aufgrund der von mir 2005 eingereichten Verfassungsbeschwerde klargestellt, daß er in der gegenwärtigen Situation den Vertrag nicht unterzeichnen wird. Punkt! Andererseits hat Frau Merkel im letzten Sommer davon gesprochen, daß für die Entwicklung der EU in Zukunft der Grundsatz gelte: Weniger ist mehr. Und überdies brauche Europa eine "Verfaßtheit". Darüber kann - muß - man reden.

Also bitte!

Gauweiler: Europa hat ja seit dem Jahr 1950 schon eine Verfassung: die Europäische Menschenrechtskonvention, die - geschützt vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - sich überall in Europa größter Hochachtung erfreut. Ich bin sicher, hätte Ihre Zeitung nicht 2005 in Karlsruhe gegen das Land NRW obsiegt, wären auch Sie nach Straßburg gegangen. Europäische Institutionen sind nicht per se von Übel. Welche Verfaßtheit könnte also Europa haben, die so gestaltet ist, daß sie in der Tat Segen und nicht Fluch ist? Das zu erörtern, wäre ein separates Interview wert. Schließlich müssen auch wir Konservative uns vor einem destruktiven Parolen-Denken hüten! "Rechte" sollten sich als differenziert Denkende dadurch auszeichnen, daß man einerseits die Grundlagen klar erkennt, von denen sie ausgehen, daß sie aber andererseits auch aufgeschlossen gegenüber neuen Ideen sind und Ergebnisse suchen, die jenseits vom Schablonendenken sind.

Mit wieviel Aufgeschlossenheit der Bundeskanzlerin kann Peter Gauweiler, der prominenteste Gegner der EU-Verfassung, rechnen angesichts der Tatsache, daß Merkel ausgerechnet diese zum Prestigeprojekt ihrer Ratspräsidentschaft erklärt hat?

Gauweiler: Als Physikerin sollte sie ein fehlgeschlagenes Experiment richtig zu deuten wissen: Die alte EU-Verfassung, die die Unterschrift von Fischer und Schröder trägt, hat ja auch die CDU/CSU in eine Sackgasse geführt - wie zuvor der Maastricht-Vertrag, in dem die europäische Jacke falsch eingeknöpft wurde. Wenn die Regierung der Großen Koalition aus dieser Erfahrung lernt, dann bin ich für ihre nächsten Vorschläge zuversichtlich.

Bleibt nicht, daß Angela Merkel wohl grundsätzlich ein anderes Modell vorschwebt als Ihnen?

Gauweiler: Frau Merkels Äußerungen - "Weniger wäre mehr" - machen mir da doch einige Hoffnung. Aber ich verspreche Ihnen: Einen Verfassungsvertrag, der nur wieder dem alten entspricht, wird es nicht geben! Denn dann werden nicht nur die Franzosen wieder abstimmen, sondern auch die Engländer, und wir werden hier eben wieder klagen und die betreffenenden Regierungen würden weniger Zeit haben als ihre Völker.

Am 1. Januar sind außerdem Bulgarien und Rumänien der EU beigetreten. Wie ist Ihre Bilanz seit der letzte Erweiterungsrunde 2004?

Gauweiler: Ich habe im Bundestag zu den wenigen gehört, die gegen den Beitritt Bulgariens und Rumäniens gestimmt haben. Aber: Es hat mir auch leid getan.
Einerseits reden wir über die Aufnahme der Türkei, und klassische europäische Nationen wie Bulgarien und Rumänien bekommen von mir die Rote Karte gezeigt? Das ist irgendwo nicht in Ordnung.

Warum haben Sie dagegen gestimmt?

Gauweiler: Weil die Aufnahme beider Staaten einen weiteren Subventionsmechanismus auslöst, der vor allem das finanziell überstrapazierte Deutschland trifft und im Moment nicht bezahlbar ist.

Dieser Umstand scheint die Mehrheit Ihrer Fraktionskollegen nicht gestört zu haben.

Gauweiler: Leider nein, Andererseits möchte ich gerade die Leser der JUNGEN FREIHEIT für die historische Ungerechtigkeit sensibilisieren, die ein - aus genannten Gründen gebotenes - Votum gegen Rumänien und Bulgarien eben auch darstellt.

Offiziell favorisiert Bundeskanzlerin Merkel eine privilegierte Partnerschaft der Türkei. Zu welcher Weichenstellung müßte sie die Ratspräsidentschaft nutzen, um wirklich glaub- und dauerhaft die Entwicklung weg von einer EU-Mitgliedschaft der Türkei zu lenken?

Gauweiler: Das hat sie doch schon getan, wie das unbefristete Aussetzen der Verhandlungen bei den allermeisten "Verhandlungskörben" beweist. Diese neue Weichenstellung war das Ergebnis einer pragmatischen Politik. Zugegeben: nicht mitreißend. So wie Tagespolitik eben ist: grau, unmerklich, kleine Schritte. Aber kleine Schritte sind besser als große Sprüche. Und ich sehe in dem, wonach Sie fragen, sowieso nicht mehr das eigentliche Zukunftsproblem, denn mittlerweile hat sich auch bei allen Zeitgeistlern herumgesprochen, daß die Sache mit dem EU-Beitritt der Türkei keine so gute Idee war. Deshalb sollten wir uns schnellstmöglich Gedanken um den übernächsten Zug machen. Schließlich sind die Türken unsere Nachbarn, nicht nur "kontinental", sondern überall in Deutschland. Und früher oder später werden sie mit der frustrierenden Erkenntnis konfrontiert sein, daß ihrer Nation von Brüssel jahrelange falsche Hoffnungen und heuchlerische Versprechungen gemacht worden sind. Was dann?

Was schlagen Sie vor?

Gauweiler: Auch die andere Seite sehen und ihre Gefühle und Interessen berücksichtigen. Wir sollten zum Beispiel das Wort von den traditionell freundschaftlichen türkisch-deutschen Beziehungen ernst nehmen. Und in einem vorurteilsfreien öffentlichen Nachdenk-Prozeß gerade von bürgerlicher Seite das Positive auch an der türkischen Einwanderung nach Deutschland und unserem Zusammenleben herausstreichen. Denn da gibt es auch vorteilhafte, befruchtende Aspekte. Es ist ja nicht alles "Rütli-Schule".

Ersetzen Sie da nicht politisches durch ethisches Denken?

Gauweiler: Das gehört zusammen. Der protestantische Arbeitsethos wird im Deutschland von heute doch am meisten von den vielen fleißigen türkischen Familien gelebt. Zwischenzeitlich wird die dritte Generation von Türken von Deutschland aus mitausgebildet und -geprägt. Hunderttausende, die hier groß wurden, sind in ihr Heimatland zurückgekehrt oder pendeln zwischen der deutschen und der türkischen Welt. Deutsch ist in der Türkei verbreiteter als Englisch. Die Goethe-Institute in der Türkei können sich vor Anfragen nicht retten. Ist das alles nichts? Bei allen berechtigten Warnungen vor den Folgen der Einwanderung müssen wir neben den krisenhaften Dimensionen auch die Chancen sehen.

Ein weiteres Top-Thema der Ratspräsidentschaft soll die illegale Einwanderung sein. Was ist von ihrer glaubwürdigen Bekämpfung zu halten, wenn gleichzeitig die Außengrenzen der EU - wo allein noch Kontrollen stattfinden - in die korruptionsträchtigen Herkunfts- und Transitländer verlegt werden?

Gauweiler: Tagespolitik ist nie so richtig glaubwürdig. Tagespolitik ist immer auch taktisch und berechnend - und zwar bei jedem Thema. Das macht sie so menschlich. In dem von Ihnen angesprochenen Zusammenhang ist es immerhin aber auch bemerkenswert, daß sich heute selbst bei der europäischen Linken die Einsicht über die Schutzfunktion zumindest der Außengrenzen der Union durchgesetzt hat.

Schön, aber das Problem bleibt!

Gauweiler: Schengen war in seinem radikalen Verzicht auf diese Schutzfunktion ein großer Fehler! Natürlich ist es widersprüchlich, die Einwanderung besser kontrollieren zu wollen und die Kontrollen an die Randlage zu verschieben. Andererseits geht das absolute Gros der "illegalen" Einwanderung der letzten Jahre auf deutsche Rechnung und war nicht die Schuld von Schengen. Es waren die vom amtlichen Berlin unter der Verantwortung von Joschka Fischer genehmigten illegalen 5,5 Millionen Einreisevisa.

Dieser Zugang ist aber mittlerweile wieder unter Kontrolle, was von den Außengrenzen nicht gesagt werden kann.

Gauweiler: Ersteres war das Verdienst meines CSU-Bundestagskollegen Hans-Peter Uhl. Das Wichtigste, was hierzulande getan werden kann, ist die Vermeidung von Fehlsteuerungen durch falsche finanzielle Anreize: Das betrifft die Sozialhilfe und auch den Arbeitsmarkt bei Dumpinglöhnen.

Der Bürger fragt sich: Wenn Deutschland erklärt, die Frage der illegalen Einwanderung zu einem Schwerpunkt machen zu wollen, was kommt dann tatsächlich dabei "herum"? Wird die Zuwanderung wirklich bekämpft, oder ist das nur eines der üblichen Politiker-Postulate?

Gauweiler: Sie befürchten, es könnte alles nur Placebo sein? Angesichts der verschärften Problemlage geht tatsächlich alles viel zu langsam. Wir alle haben täglich das Bedürfnis, den hier Verantwortlichen laut zuzurufen: "Schneller! Entschlossener!" Nur: Was ist die Alternative?

Streng demokratisch: Abwahl der Vertreter einer unzulänglichen Politik und Ersetzen durch eine entsprechend entschlossene Partei.

Gauweiler: Welche Partei? Und mit welchem Ziel? Wollen wir denn eine Lösung wie die USA an ihrer Grenze zu Mexiko? Einen amerikanischen Zaun als neue europäische Mauer? Das kann keine lebenswerte Zukunft sein kann.

Muß Politik nicht in erster Linie - innerhalb rechtsstaatlicher Grenzen - problemorientiert sein und erst in zweiter Linie "nett"? Was für die Steuer oder die Wehrpflicht recht ist, ist doch für die Einwanderung billig.

Gauweiler: Natürlich muß der Schutz der europäischen Staatsgebiete, auch der physische Schutz, gewährleistet sein. Aber auf die tumbe Panzer-Tour geht es eben auch nicht. Warum hat denn das alte Europa international ein so wesentlich besseres Ansehen als die George-Bush-USA?

Wenn das Leitprinzip von Politik die Steuerung über Interessen ist, wie die Demokratietheorie besagt, dann ist Ihr Verweis auf den Faktor Ansehen - so nobel er ist - ein Störfaktor und vom Charakter her wohl eher dem aristokratischen Stil zuzuordnen, Politik per Symbolhandlung zu betreiben.

Gauweiler: Nein, das Ansehen unseres Landes zu mehren, ist unser nationales Interesse. Vor dreißig Jahren habe ich in Interviews davor gewarnt, daß die damals absehbare Entwicklung in einer "Harlemisierung" unserer Städte enden könne. Damals bin ich aufs schärfste angegriffen worden. Heute, im nachhinein, würde mich niemand mehr dafür angreifen. Ab einem bestimmten Zeitpunkt kann man eine ursprünglich als problematisch erkannte Entwicklung nicht mehr auf den Ausgangspunkt zurückdrehen. Man braucht sie aber auch nicht für die Zukunft falsch weiterlaufen lassen. Man kann sie "reiten" und ihr dadurch eine bessere Richtung geben. Ohnehin muß verantwortungsbewußte Politik das Mögliche ins Auge fassen. Und wir "Rechten" dürfen bei der Suche nach dem richtigen Weg nicht vergessen, daß uns der liebe Gott eine rechte und eine linke Gehirnhälfte gegeben hat und erst beide zusammen den klugen Kopf ausmachen.

Am 30. Juni endet unsere Präsidentschaft. Was vermag ein vorsitzendes Land eigentlich tatsächlich zu beeinflussen?

Gauweiler: Natürlich ist die Ratspräsidentschaft in gewisser Weise auch eine Art "Frühstücksdirektorenveranstaltung". Oder sie wirkt nach dem Motto: Der Kongreß tanzt. Aber diese Veranstaltung der wechselnden Präsidentschaft unter europäischen Ländern hat auch sympathische Züge: das wechselseitige Bemühen, einen guten Eindruck zu machen. Ich hätte mir natürlich noch ein paar andere Themen auf der Agenda gewünscht, zum Beispiel eine klarere europäische Position gegen die amerikanische Interventionspolitik, um unseren amerikanischen Freunden zu helfen, eine gemäßigtere, multipolarere und auf Dauer aufrechterhaltbare Sicht der Welt anzunehmen. Die Bundesrepublik kann die Präsidentschaft in dem Bewußtsein ausüben, daß unser Deutschland in der Welt als ein vergleichsweise nobles Land angesehen wird. Wer sein Vaterland liebt, sollte das zu schätzen wissen.

 

Dr. Peter Gauweiler: Der 1949 in München geborene Rechtsanwalt, CSU-Bundestagsabgeordnete und ehemalige bayerische Landesminister macht immer wieder durch konservativ orientierte Initiativen auf sich aufmerksam. So forderte er etwa die Errichtung eines zentralen Mahnmals für die Opfer des Bombenkriegs, die Wiedereinführung der D-Mark, eine Volksabstimmung über die Zuwanderung oder stoppte 2005 die Ratifizierung der EU-Verfassung in Deutschland durch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht.

 

Stichwort "EU-Ratspräsidentschaft":

Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer, er bestimmt die Leitlinien der EU-Politik. Der Vorsitz des Rates wechselt halbjährlich. Die Aufgabe der Ratspräsidentschaft ist es, die laufenden Geschäfte zu leiten, politische Impulse zu geben und die Union nach außen zu vertreten. Der Sitz des Rates ist Brüssel, Tagungen finden jedoch auch in Luxemburg statt. Deutschland hatte bereits 1999 eine Ratspräsidentschaft inne. Am 1. Juli übergibt Berlin den Vorsitz an Portugal, zuvor findet am 21./22. Juni noch ein EU-Gipfel in Brüssel statt. Bis mindestens 2020 wird Deutschland dann nicht mehr den Vorsitz führen.

 

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