© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/06 28. April 2006

Das schreckliche Kind des Kinos
Ästhetische Abwege jenseits des Herkömmlichen: Der dänische Regisseur Lars von Trier wird fünfzig
Martin Lichtmesz

Wenn Carl Dreyer der kanonisierte Übervater des dänischen Kinos ist, dann ist Lars von Trier sein umstrittenes enfant terrible. Angesichts der ungebrochen jugendlichen Experimentierfreude und Provokationslust des Regisseurs stellt man mit einiger Verwunderung fest, daß Trier am 30. April bereits 50 Jahre alt wird.

Dem breiteren deutschen Publikum ist er spätestens seit den gemeinsam mit Thomas Vinterberg initiierten "Dogma"-Filmen ein Begriff. Dabei sind Triers radikale Arbeiten alles andere als gefällig, seine Helden und Heldinnen exzentrische Idealisten, deren Passionen im Doppelsinn des Wortes in der Regel mit ihrem Ruin enden. Auch formal mutet Trier seinen Zuschauern einiges zu: Wer sich auf sein Werk einlassen will, sollte nicht nur starke Nerven mitbringen, sondern auch die Bereitschaft, dem Regisseur auf die irritierenden ästhetischen Abwege jenseits herkömmlicher Kinokost zu folgen, die er mit jedem Film neu erfindet.

Der Wille zur Innovation war bereits in den frühesten Kurzfilmen sichtbar, die der 1956 in Kopenhagen geborene Lars Trier Ende der siebziger Jahre an der dänischen Filmhochschule drehte. Ungefähr zu dieser Zeit fügte er seinem Namen nach dem Muster Stroheims und Sternbergs das aristokratische "von" hinzu. Schon als Kind hatte der Sohn linksradikal-alternativer Eltern mit Super-8 experimentiert und war als Schauspieler in einer TV-Serie aufgetreten. Beeinflußt von Bowie und Bergman gleichermaßen war der egozentrische Bohemien, der die Hochschule als eine einzige Spielwiese für seine cineastischen Gehversuche betrachtete, der Schrecken seiner Lehrer. Sein provokanter Abschlußfilm "Bilder der Befreiung" (1982) schildert das Ende der Okkupation Dänemarks aus der Sicht eines deutschen Soldaten in delirierenden Bildern.

Visionäre Stilisierung contra rohe Wirklichkeit

Surreal-visionär fiel auch Triers Kinodebüt aus: der in englischer Sprache gedrehte, atmosphärisch dichte film noir "The Element of Crime" (1985) führt in eine in trübes gelbes Licht getauchte Endzeitwelt, in der es offenbar niemals Tag wird. Somnambule Traumlogik dominierte auch die beiden folgenden Kinofilme, das verkorkste Selbstporträt "Epidemic" (1987) und die schwarze tour de force "Europa" (1990), eine hypnotisch induzierte Vision, die fast ausschließlich im Innern eines Nachtzuges spielt, der ein zertrümmertes, von "Werwolf"-Partisanen heimgesuchtes Nachkriegsdeutschland durchfährt.

Dem blendend fotografierten Schwarzweiß-Film mangelte es jedoch bei aller technischen Brillanz an inhaltlicher Tiefe. Aus der künstlerischen Sackgasse führte die makabre TV-Serie "Hospital der Geister" (1994), Triers zugänglichste Arbeit. Die darin eingesetzte Handkameratechnik kam massiv in dem kühnen Cinemascope-Melodram "Breaking the Waves" (1996) zum Einsatz, mit dem sich der Regisseur endgültig vom puren Formalismus der früheren Filme verabschiedete. Die Geschichte der auf einer schottischen Insel lebenden Bess (Emily Watson), die sich auf Wunsch ihres gelähmten Mannes fremden Liebhabern hingibt, brachte erstmals religiöse Motive in das Werk des katholischen Konvertiten.

1995 verfaßte Trier zusammen mit Thomas Vinterberg das sogenannte "Dogma 95"-Manifest. Das parodistisch formulierte "Keuschheitsgelübde" beinhaltete unter anderem das Verbot künstlichen Lichts, Verzicht auf "oberflächliche Handlung" und schreibt den ausschließlichen Einsatz der Handkamera vor. Anknüpfend an die französische Nouvelle Vague verkündeten die Filmemacher einen neuen, rohen und unverfälschten Zugang zur Wirklichkeit. Daß ausgerechnet der einstige Schöpfer hochartifizieller Produkte diese Forderung erhob, war ebenso ironisch wie sinnfällig. Wie Vinterbergs "Das Fest" (1997), wurde Triers "Dogma"-Beitrag "Idioten"(1998) ein großer Publikumserfolg. "Idioten", ein weitgehend improvisiertes Happening über eine Gruppe junger Leute, die ihre Umwelt terrorisieren, indem sie sich als "geistig Behinderte" ausgeben, wirft so ziemlich alle Regeln der konventionellen Filmsprache über den Haufen. Die anarchische, sämtliche Anschlüsse, Blickachsen und Auflösungsregeln ignorierende jump cut-Technik, die schon "Breaking The Waves" kennzeichnete, wurde nun bis zum Exzeß angewandt und ist seither zu Triers Markenzeichen geworden.

Ein kaum verborgener Hang zu Sadismus und Kalkül

Der nächste Film, "Dancer In The Dark" (2000), diesmal mit der isländischen Pop-Ikone Björk in der Passionsrolle, bürstete das eskapistische Musical-Genre mit einer unerträglich düsteren Handlung gehörig gegen den Strich. Trier kam in den Ruf, seine Hauptdarstellerinnen ähnlich ruchlos zu quälen wie einst Carl Dreyer Maria Falconetti in der "Passion der Jeanne d'Arc" (1928).

Auch die zynische Parabel "Dogville" (2003), erster Teil einer noch nicht vollendeten Trilogie über die USA, strapaziert reichlich die Schmerzgrenze, um amerikanische Mythen zu demontieren: die von den Bewohnern einer Kleinstadt in den Rocky Mountains der dreißiger Jahre zunächst adoptierte und dann versklavte und mißbrauchte Nicole Kidman wirkt in ihrer absurden Duldsamkeit wie eine Cousine von de Sades Justine. Die quälende emotionale Spannung des Films, die sich in einem subversiv kathartischen Ende entlädt, wird nicht im mindesten durch die brechtische Stilisierung gemildert: So ist die gesamte Stadt lediglich als aufgedruckter Grundriß auf einer karg eingerichteten Theaterbühne präsent.

Bei aller inszenatorischen Genialität konnte der "Onanist der Leinwand" (Trier über Trier) jedoch eine gewisse selbstverliebte Eitelkeit und den Zwang zur Originalität nie ganz ablegen. Die wiederholte Vergewaltigung Nicole Kidmans durch die Männer des Dorfes, das genüßlich in die Länge gezogene, qualvolle Sterben Emily Watsons in "Breaking The Waves", die abrupte Hinrichtung der unschuldig zum Tode verurteilten Björk, während sie ein ergreifendes Lied singt - all das sind Szenen, die einen zweifelhaften Geschmack am Sadismus und am wohlfeil kalkulierten Effekt nicht verbergen können. Vorerst steht nicht zu befürchten, daß der kompromißlose, kauzige Däne allzu früh von der Altersweisheit gezähmt wird.

Foto: Lars von Trier: Experimentierfreudiger Provokateur mit einem Zwang zur Originalität


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