© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/05 23. September 2005

"Die Union in der Sackgasse"
Der Publizist Alexander Gauland über den Ausgang der Bundestagswahl und die "schwarze Ampel" als Ausweg für Angela Merkel
Moritz Schwarz

Herr Dr. Gauland, wird es schon bald Neuwahlen geben?

Gauland: Nach den Überraschungen vom Wahlsonntag will ich nichts mehr ausschließen. Aber ich glaube es nicht, denn es ist nur schwer vorstellbar, daß sich die Parteien vor den Bürgern eine solche Blöße geben, zumal es wahrscheinlich wäre, daß man hinterher vor einer ähnlichen Situation steht wie jetzt.

Also was dann? Wer wird der neue Bundeskanzler?

Gauland: Am frühen Sonntagabend hätte ich noch auf eine Große Koalition getippt. Aber nach dem Schauspiel, das Gerhard Schröder dann in der Elefantenrunde von ARD und ZDF geboten hat, halte ich eine schwarz-gelb-grüne Koalition für die wahrscheinlichste Lösung. Denn die Union wird nach diesem arroganten Betragen alles unternehmen, um Schröder loszuwerden, sprich: auch Zumutungen der Grünen schlucken.

In der Union wird angeblich über das Schicksal Angela Merkels diskutiert. Ist es nicht ebenso vorstellbar, daß der Auftritt Schröders in der SPD die Frage aufwirft, ob man nicht ohne ihn doch noch zu einem Ausgleich mit der Union kommen kann?

Gauland: Auch wenn die CDU-Chefin am Sonntag ihre Partei zum Wahlsieger erklärt hat, so ist doch allen klar, daß die Union eine schwere Niederlage erlitten hat, während es den Sozialdemokraten trotz der Verluste - gemessen an dem, was sie zu erwarten hatten - in einer beispiellosen Aufholjagd gelungen ist, fast mit ihrem Herausforderer gleichzuziehen. Das kann man viel eher einen Wahlsieg nennen als das, was die Union zustande gebracht hat. Es ist allerdings ein Sieg Schröders und nicht der SPD - und das weiß die Partei. Schröder ist also in einer völlig anderen Situation als Merkel.

Wird Angela Merkel diese Niederlage politisch überleben?

Gauland: Schröder bleibt in den Augen seiner Partei auch dann noch der eigentliche Wahlsieger, wenn er nicht mehr Kanzler werden sollte. Merkel dagegen muß, wenn sie überleben will, schleunigst eine funktionstüchtige Koalition schmieden, um sich mit diesem Erfolg aus dem Wahl-Desaster zu retten. Gelingt ihr das nicht, wird sie die Niederlage vom Sonntag doch noch einholen. Auch deshalb halte ich die ungewohnt klingende Konstellation Schwarz-Gelb-Grün für eine wahrscheinliche Lösung.

2002 verlor Edmund Stoiber die Wahl. Doch statt sofort "abgesägt" zu werden, erodierte seine Führungsposition zugunsten von Merkel langsam. Könnte Merkel, sollte sie nicht in den nächsten Wochen stürzen, ebenfalls auf diese Art "stoiberisiert" werden?

Gauland: Wenn die Union in der Opposition bleibt, könnte es auch ihr so ergehen, gelingt jedoch eine Regierungsbildung, wäre Merkel in einer neuen Machtposition und damit zunächst unangreifbar.

Ein schwarz-gelb-grünes Bündnis als machttechnische Notlösung ist sicherlich vorstellbar, aber ist es denn auch politisch machbar?

Gauland: Wenn man die übliche Parteirhetorik beiseite läßt, dann stehen zwischen den Grünen und der Union doch lediglich einige ökologische Fragen. Andererseits aber gibt es in der Wirtschafts- und Sozialpolitik eine erhebliche Schnittmenge zwischen beiden Parteien.

Was ist mit der Gesellschaftspolitik?

Gauland: Gegenfrage: Was wiegt wohl für den durchschnittlichen CDU-Anhänger derzeit schwerer - der Zorn über Schröder und die Enttäuschung über den verlorenen Sieg oder gewisse gesellschaftspolitische Zugeständnisse an die Grünen? Ich möchte vermuten, im Moment beurteilt er wohl das "Problem Schröder" als gewichtiger.

Eine Koalition muß vier Jahre halten. Die Genugtuung über die Beseitigung des "Problems Schröder" dürfte bald inhaltlichen Auseinandersetzungen weichen.

Gauland: Man würde vermutlich versuchen, das Gesellschaftspolitische auszublenden. Ich sage nicht, daß das aus wertkonservativer Sicht wünschenswert ist, und auch nicht, daß diese Konstruktion vier Jahre hält. Aber sie würde einen Einstieg ermöglichen und Merkel erstmal über die Runden retten.

Vorstellbar ist ein solch "fauler Kompromiß" vielleicht von seiten der Union, die - zum Beispiel mit der Ankündigung, die "Homo-Ehe" politisch nicht zu revidieren, obwohl sie in Karlsruhe juristisch dagegen vorgegangen ist - bewiesen hat, daß ihr diese Fragen offenbar nicht wichtig sind. Aber ist denn ein solches Verhalten auch von seiten der Grünen vorstellbar, die Gesellschaftspolitik als Hauptbetätigungsfeld begreifen?

Gauland: Ich würde Ihren Einwand als stichhaltig ansehen, wenn wir die Einführung der "Homo-Ehe" oder die Verabschiedung des neue Staatsbürgerschaftsrechtes noch vor uns hätten. Aber wie Sie schon bemerkt haben, hatte die Union sowieso nicht vor, diese rot-grünen Neuerungen rückgängig zu machen. Sicherlich werden Fragen wie Atomkraft oder das Antidiskriminierungsgesetz ein Problem darstellen, aber kein unüberwindliches, wenn der Erfolgsdruck nur groß genug ist. Natürlich muß man sich aber als Konservativer im klaren darüber sein, daß im Falle einer solchen "Jamaika"-Koalition die Grünen sicherlich erfolgreich versuchen würden, eine gesellschaftspolitische Achse mit der FDP zu schmieden, um die Union in die Zange zu nehmen.

Also zeigt sich, daß die Union seit Jahrzehnten eine verfehlte Strategie verfolgt hat, rechts von ihr keine bürgerliche Alternative als potentiellen Koalitionspartner entstehen zu lassen?

Gauland: Jetzt ist in der Tat der von vielen konservativen Kritikern vorausgesagte Fall eingetreten, daß es für Schwarz-Gelb nicht reicht und die Union scheinbar in einer Sackgasse steckt. Andererseits ist die Situation für die Union nicht unlösbar, wie die inzwischen zahlreichen Avancen von ihrer Seite in Richtung Grüne - ich nenne nur die Namen Althaus, Oettinger, Schäuble - beweisen.

Die Union wertet die dafür notwendigen Zugeständnisse an die Grünen offenbar als das kleinere Übel. Droht ihr damit nicht die endgültige Desavouierung als Partei der Konservativen?

Gauland: Die Union war nie einfach "die Partei der Konservativen". Die Union ist eine Volkspartei, die aus konfessionellen, konservativen, nationalen, wirtschaftsliberalen, aber auch sozialdemokratischen Elementen besteht. Die Bedeutung der ersten drei Elemente hat sich zwar deutlich verringert, sie sind aber nicht ganz verschwunden.

Droht ihr nicht bei einem Bündnis mit den Grünen ein Aufstand dieser "nicht ganz verschwundenen Elemente"?

Gauland: Die meisten wertkonservativen Anhänger der Union wissen, daß in einer Zeit, die von der Frage nach einer Neuorganisation des gesellschaftlich zentralen Politikfeldes Arbeit und Soziales geprägt ist, ihre weltanschaulichen Interessen in den Hintergrund treten müssen. Ich will aber gerne zugeben, daß das ein Prozeß ist, der das weltanschauliche Element der Union weiter schädigen wird, denn natürlich bedeutet eine Politik der weiteren Wirtschaftsliberalisierung als Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung und der Zugeständnisse an die Grünen eine beschleunigte und langfristige Schädigung konservativer gesellschaftspolitischer Inhalte wie etwa der Bewahrung von Heimat und Tradition.

Droht der Union also als Reaktion darauf die Bildung einer konservativen Protestpartei, so wie 1983 der Republikaner als Reaktion auf die ausbleibende gesellschaftspolitische Wende der Regierung Kohl?

Gauland: Die Erfahrung zeigt, daß selbst eine seriöse konservativ-bürgerliche Alternative über kurz oder lang an der gesellschaftlichen Stimmung scheitert, die wir als Erbe des Verrats der Konservativen der Weimarer Republik an ihren Idealen gegenüber Hitler heute in Deutschland haben. Das mag ungerecht sein, aber dieser Zustand wird auch weiterhin dafür sorgen, daß die allermeisten Wertkonservativen ihre politische Heimat in der Union sehen.

Auch wenn die Grünen theoretisch dazu bereit sind, mit der Union zu koalieren, warum sollten sie sich derzeit darauf einlassen? Was haben Sie zu gewinnen?

Gauland: Die Grünen würden ihre Unabhängigkeit von der SPD unter Beweis stellen. Sie würden zeigen, daß grüne Politik jederzeit möglich ist. Das würde ihre Position im bundesdeutschen Parteiengefüge maßgeblich stärken. Inhaltlich könnten sie mit Erhalt und Ausbau der Windkraft, dem Atomausstieg, der Beibehaltung der Ökosteuer sowie einer Mäßigung der in ihren Augen USA-orientierten Außenpolitik der Union punkten. Das sind doch Pfunde, mit denen sie bei ihren Wählern wuchern können. Motto: "Wir haben die ökologische Rückwärtsrolle verhindert!"

Die Grünen halten konstant etwa acht Prozent. Sie müssen nichts beweisen und könnten auch bequem in die Opposition gehen.

Gauland: Ich denke, es ist wohl vor allem eine Frage ihres politischen Personals. Mit Politikern wie Joschka Fischer ist Schwarz-Grün in der Tat schwer vorstellbar, nicht aber zum Beispiel mit jemandem wie Katrin Göring-Eckardt. Zwischen ihr und Angela Merkel gibt es - kulturell gesehen, nicht politisch - doch kaum einen Unterschied. Bei den Grünen ist eine Generation herangewachsen, die nicht aus der Frontstellung "APO-Bewegung gegen das Establishment" kommt und auch nicht, wie viele in die Jahre gekommene West-Grüne, heute noch ihr individualistisch-hedonistisches Weltbild geradezu ideologisch vertritt. Im Grunde handelt es sich bei den Grünen mittlerweile um eine bürgerliche - wenn auch links-bürgerliche - Partei. Die grüne Klientel gehört, wie die Klientel der FDP, nicht zu denjenigen, die unter Arbeitslosigkeit leiden.

Sind die Grünen noch eine linke Partei?

Gauland: Wenn Sie "links" durch die soziale Frage definieren, lautet die Antwort eindeutig: Nein. Wenn Sie "links" kulturell definieren - also Auflösung der traditionellen gesellschaftlichen Bindungen -, lautet die Antwort: Ja. Ich vermute, daß wir in Zukunft eine gewisse Neugruppierung unserer politischen Landschaft erleben werden. Angesichts der neuen sozialen Frage, die aus der Auflösung unseres bisherigen Sozialstaates entsteht, werden sich vermutlich die verschiedenen Spielarten des Liberalismus und des Konservatismus als Ausdrucksformen des Bürgerlichen und Besitzenden auf der einen und der Sozialdemokratie und des "Sozialismus" auf der anderen Seite sammeln.

Das heißt, Schwarz-Grün ist kein temporäres Zweckbündnis, sondern - ob nun gerade politisch auch umgesetzt oder nicht - eine strategische gesellschaftliche Entwicklung? Angesichts der gesellschaftspolitischen Dominanz der Grünen würde das für die klassisch Wertkonservativen in der Union ein verstärktes "Unter-Druck-Geraten" bedeuten!

Gauland: Vorsicht mit solchen Prognosen. Grundsätzlich aber haben Sie recht. Der mögliche Wechsel der Grünen ins bürgerliche Lager könnte sich zudem beschleunigen, falls eine verschärfte Migration im Zuge der Globalisierung unter den "kleinen Leuten" die Ablehnung gegenüber dem kosmopolitischen Gesellschaftsentwurf der Grünen verstärken sollte.

Ein neuer "Klassenkampf" in Deutschland?

Gauland: Den haben wir doch schon. In dem Moment, in dem die Zuwächse ausbleiben und die Spielräume für die Verteilung enger werden, beginnt der "Klassenkampf". Nicht im Marxschen Sinne, aber im Sinne der Auseinandersetzung der verschiedenen sozialen Gruppen und Schichten um das, was es zu verteilen gibt. Ich weiß nicht, warum wir in Deutschland davor zurückschrecken, diese Sache beim Namen zu nennen. Natürlich wird um "den Kuchen" gerungen - immer, überall, auch bei uns!

Dann sind die 8,7 Prozent der Linkspartei/PDS nur der Anfang?

Gauland: Das darf man annehmen. Dabei ist die PDS, so wie sie 1990 in den politischen Raum der Bundesrepublik eingetreten ist, eigentlich keine soziale, sondern eine soziologische Partei, eine Partei eines bestimmten Milieus. Allerdings ist es ihr gelungen - natürlich aus ihrem historischen Selbstverständnis heraus -, sich als Partei der sozialen Gerechtigkeit neu zu erfinden. Das hat man ihr im Westen bisher nicht geglaubt. Über den Umweg der WASG beziehungsweise der Linkspartei scheint ihr das nun aber auch hier zu gelingen. Und über kurz oder lang wird sich die Linkspartei/PDS - Gerhard Schröder hin, Oskar Lafontaine her - im Zuge der oben beschriebenen Neuformierung mit der SPD zusammenraufen.

Wird neben dieser linken Protestpartei analog zur Entwicklung in der Weimarer Republik auch noch eine "rechtsextreme" Linkspartei wie etwa die NPD weiter erstarken?

Gauland: Solange es sich vor allem um eine soziale Herausforderung handelt, wird es der Linkspartei wohl gelingen, das Wasser auf ihre Mühlen zu lenken, weil die Wähler der NPD keine soziale Kompetenz zuordnen. Da die Globalisierung aber nicht nur eine sozialpolitische, sondern auch eine migrationspolitische Herausforderung bedeutet, ist nicht auszuschließen, daß auch eine rechtsextreme Partei zulegen kann. Für Wertkonservative ist das allerdings keine Option, dafür ist die Nähe der NPD zu Vorstellungen, die in Deutschland seit 1945 aus guten Gründen tabu sind, einfach zu groß. 

 

Dr. Alexander Gauland war bis Juni 2005 Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung, der führenden Tageszeitung in Brandenburg. Zuvor leitete der 1941 in Chemnitz geborene Publizist und Jurist bis 1991 als Staatssekretär die hessische Staatskanzlei.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Anleitung zum Konservativsein" (DVA, 2002), "Helmut Kohl. Ein Prinzip" (Rowohlt, 1994), "Was ist Konservativismus?" (Eichborn, 1991)

 

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