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19/05 06. Mai 2005
Klageschrift mit dürftigen Therapievorschlägen Mitte der neunziger Jahre wurde in Saarbrücken ein Mann wegen eines Tötungsdelikts dreimal verurteilt. Zuerst erhielt er eine Bewährungsstrafe, dann lebenslänglich, schließlich sechs Jahre Haft. Würfeln deutsche Richter, wenn sie Lebensschicksale entscheiden? Urteilen die gut bezahlten Beamten in schwarzer Robe nach Lust und Laune? Sorgen sie trickreich dafür, daß auch der beste Rechtsanwalt gegen Fehlurteile nicht effektiv vorgehen kann? Wie angeblich hemmungslos deutsche Richter das Gesetz beugen, zeigt der deutschlandweit bekannte Strafverteidiger Rolf Bossi. Die Unabhängigkeit der Richter, garantiert durch Artikel 97 Grundgesetz, entziehe sie faktisch jeglicher Kontrolle. "Die Machtfülle der Richterinnen und Richter wird nicht hinreichend begrenzt". Strafgesetz und Strafprozeßordnung gewähren ihnen Spielräume, die "groß wie Scheunentore" seien, während die Verteidiger nur schwache Gegenmittel einsetzen können. Allein das berüchtigte Prinzip der "freien Beweiswürdigung", fixiert in dem Paragraphen 261 der Strafprozeßordnung, nicht minder die große Variationsbreite der zulässigen Strafen, ermöglichen "Urteile nach Gutsherrenart". Feste Beweisregeln fehlen, weil sie die Rechtsprechung aufwendiger und kostenintensiver gestalteten, auch die Allmacht der Richter gefährdeten. Scheinbar stünden genügend Mechanismen bereit, um Justizirrtümer mittels Berufung oder Revision zu korrigieren. Urteile oberer Instanzen können die Anwälte jedoch schwer anfechten. Wird ein Mörder oder Totschläger verurteilt, gebe es nur den Gang zum Bundesgerichtshof, der zwar prüfe, ob Verfahrensfehler vorliegen, aber keine Tatbestände untersuche. Da bei Mordprozessen die Aussagen der Zeugen nicht protokolliert würden, stelle es kein Problem dar, Urteilsbegründungen zu manipulieren. Laut Strafprozeßordnung "ist der Irrtum eines Richters ausdrücklich kein Revisionsgrund". Bossi fordert, eine zweite "Tatsacheninstanz" zu schaffen. Prozesse wegen Rechtsbeugung enden selten erfolgreich; die juristischen Mauern, die der Gesetzgeber konstruiere, seien viel zu hoch. Der Staat verletze damit elementare rechtsstaatliche Normen. Kritisiert ein Anwalt die Richter ungeschminkt, drohen Beleidigungsklagen. Der Verteidigung fehle die Gleichheit der Waffen. "Die Unfähigkeit der deutschen Strafjustiz zur Selbstkorrektur steckt förmlich im System". Bossi sieht die Hauptursache der Misere darin, daß viele NS-Juristen nach 1945 weiter Recht gesprochen hätten. Die Bundesrepublik habe es versäumt, "sich geistig mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen und einen scharfen personellen Schnitt zu machen". Selbst wenn man glaubt, daß zu viele ehemalige NS-Richter unbehelligt blieben, besteht dennoch kein Zweifel, daß Deutschland die jüngste Vergangenheit gründlich aufgearbeitet hat. Ohnehin existierten die heutigen Mißstände in der Justiz bereits vor 1933. Andere Länder beklagen ähnliche Probleme. Sechzig Jahre nach Kriegsende wirkt Bossis Interpretation dürftig und naiv; sie überzeugt ebensowenig wie sein stumpfer Therapievorschlag, "Ombudsmänner" einzuführen, die jede Rechtsbeugung öffentlich tadeln sollen. Der bloße Zeigefinger ersetzt keine wirksame demokratische Kontrolle; untaugliche Richter müssen abgelöst werden. Vielleicht verleiht die Gewaltenteilung die Macht eben nicht immer in gleichen Maßen. Rolf Bossi: Halbgötter in Schwarz. Deutschlands Justiz am Pranger. Eichborn Verlag, Frankfurt 2005, 279 Seiten, gebunden, 22,90 Euro |