© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 50/02 06. Dezember 2002 |
||||
Das deutsche Trauma Ein Buch über den Bombenkrieg trifft den Nerv der Deutschen Dieter Stein Wenige Monate nachdem die Novelle "Im Krebsgang" von Günter Grass eine große Erinnerungs-welle in Form von Büchern, Zeitungsartikeln und Fernsehsendungen über den Schrecken der Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten ausgelöst hat, sorgt ein Buch über den alliierten Bombenkrieg gegen Deutschland im Zweiten Weltkrieg für großes Aufsehen. Daß das erst vor knapp zwei Wochen erschienene Buch "Der Brand" von Jörg Friedrich in Großbritannien bereits eine teilweise hysterische Züge annehmende Debatte ausgelöst und die Frage aufgeworfen hat, ob beim Flächenbombardement Kriegsverbrechen begangen worden seien, liegt nicht zuletzt daran, daß das Buch in mehreren Teilen in der auflagenstärksten deutschen Boulevardzeitung mit erschütternden Fotos vorabgedruckt worden ist. Der Verlag druckt nach Informationen dieser Zeitung bereits die fünfte Auflage und hat schon 50.000 Bücher abgesetzt. Die Verantwortlichen selbst hatten nicht erwartet, daß ein Buch mit dem vergleichsweise nüchternen Titel "Der Brand - Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945", das zudem bis auf das Titelfoto auf jegliche Abbildungen verzichtet, einen derartigen reißenden Absatz findet. Wie ist dieses große Interesse zu erklären? Das Buch Jörg Friedrichs enthüllt ja nichts wesentlich Neues. Wissenschaftlich wurde in den letzten Jahrzehnten alles zusammengetragen, was es zum Luftkrieg zu sagen gibt. Ergänzt wurde diese Sicht der Wissenschaftler durch zahlreiche Stadtchroniken, in denen das Schicksal Hunderter betroffener Städte lokal aufgearbeitet worden ist. Ein populäres Gesamtwerk, das die Tragödie der deutschen Städte, deren mittelalterliches Antlitz unter der Last von 600.000 Tonnen Bomben in den Staub sank, deren zertrümmerte Steine weit über eine halbe Million Zivilisten unter sich begruben, stand bis heute, 60 Jahre nach den mitteleuropäischen Verheerungen, aus. "Über den Bombenkrieg ist viel geschrieben worden, seit langem aber nichts über seine Leidensform." Dieser knappe Satz steht am Anfang des Editorials von Friedrich und skizziert treffend die Intention seines Werkes. Die wissenschaftlichen Schlachten sind also geschlagen. Der Kalte Krieg ist vorbei. Noch bis 1989 verhinderte eine beklemmende Loyalität gegenüber den Westalliierten im Kontext der Ost-West-Auseinandersetzung eine offene Beschäftigung jenseits akademischer Kreise mit dem Bombardement, das das Gesicht des "zivilisierten Westens" zu einer Fratze entstellt. Schließlich galt es, den kommunistischen Ostblock als "Reich des Bösen" zu charakterisieren, da mußte die Rolle der Westalliierten so zurückhaltend wie möglich geschildert werden. Friedrich kompiliert in seinem Werk, als Regisseur zahlreicher Rundfunk- und Fernsehproduktionen geschult, eindringlich die Entfesselung dieser "systematisch geplanten und durchgeführten Vernichtungskampagne gegen Deutschlands Städte". Diese dramaturgische Verdichtung der deutschen Tragödie ist die Leistung seines Buches, das mit Recht große Beachtung verdient. Warum das Thema Bombenkrieg jetzt auf die Tagesordnung kommt, liegt vielleicht daran, daß es im Augenblick des Abtretens der Erlebnisgeneration ein Bedürfnis nach Artikulation der nationalen Traumata gibt, die der Zweite Weltkrieg bei den Deutschen selbst hinterlassen hat. Friedrich hat sich wie die meisten deutschen Historiker zunächst mit den eigenen Verbrechen des Krieges beschäftigt. 1982 erschien sein erstes Buch "Freispruch für die Nazi-Justiz", gefolgt von weiteren, in denen er sich mit der juristischen Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches beschäftigte. Er kritisierte dort die von ihm als unzureichend empfundene juristische Verfolgung der deutschen Verbrecher. In einem 1993 bei Pieper erschienenen tausendseitigen Mammut-Werk, "Das Gesetz des Krieges", bewältigt er das komplexe Kapitel der Verbrechen, die sich im Verantwortungsbereich der Wehrmacht während des Rußlandfeldzuges ereignet haben. Gerade weil die Facetten der Verbrechen des Hitlerregimes in einer Weise aufgearbeitet und im kollektiven Gedächtnis seit Jahrzehnten allgegenwärtig sind, ist ein Vakuum entstanden, in das Günter Grass mit seinem "Krebsgang" und nun Jörg Friedrich mit seinem Buch über den alliierten Bombenkrieg vorgestoßen sind. Diese Mentalitäts-Wende ist wohl von Martin Walser in seiner heiß diskutierten Rede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in Frankfurt erahnt worden, als er dort sagte: "Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande, kein Tag, an dem sie uns nicht vorgehalten wird. Könnte es sein, daß die Intellektuellen, die sie uns vorhalten, dadurch, daß sie uns die Schande vorhalten, eine Sekunde lang der Illusion verfallen, sie hätten sich, weil sie wieder im grausamen Erinnerungsdienst gearbeitet haben, ein wenig entschuldigt, seien für einen Augenblick sogar näher bei den Opfern als bei den Tätern? Eine momentane Milderung der unerbittlichen Entgegengesetztheit von Tätern und Opfern." Jetzt wendet man sich mutig den eigenen Opfern zu. Zuvor war es eben so, wie es Volker Ullrich in der Zeit in Bezug auf das Friedrich-Buch noch einmal klischeehaft wiederholt: "Wer vom deutschen Leid sprach, weckte den Verdacht, von deutschen Verbrechen ablenken und Schuld aufrechnen zu wollen." Wer sich dem Thema "deutsche Opfer" nähere, hege allzu oft den Wunsch, seine "Rolle als Täter in den Hintergrund zu drängen". Die schätzungsweise 635.000 Zivilisten, die verbrannten und erschlagenen Frauen, Kinder und Männer waren also kollektiv "Täter", die durch den Bombenkrieg zu Recht vernichtet worden sind? Andreas Kilb sieht dies in der FAZ anders: "Dieses Buch mußte kommen" - weil es 60 Jahre nach dem Krieg nicht mehr darum geht, Schuld festzustellen: "Es geht um die Feststellung des Schmerzes. Nicht daß das deutsche Trauma irgendein Recht hätte, sich tiefer als die Traumen anderer Völker zu dünken. Aber es hat ein Recht ausgesprochen zu werden." Der soeben verstrichene Volkstrauertag hat es wieder überdeutlich werden lassen: Die "Unfähigkeit zu trauern" hat Gründe, doch es ist offensichtlich Zeit, das zivilisatorische Gefälle, das zwischen alliierter und deutscher Kriegsführung immer noch holzschnittartig überzeichnet wird, horrible dictu zu "relativieren". Jörg Friedrich erklärte in einem Gespräch mit Focus, daß er sich nach seiner Auseinandersetzung mit den deutschen Verbrechen im Rahmen der Kriegsführung den Handlungen der alliierten Gegenseite zuwandte und dabei erkennen mußte, daß die bis dato überwiegend geltende Praxis des Kriegrechts, Zivilisten nicht in den Krieg einzubeziehen, "von beiden Seiten" abgeschafft worden ist. Friedrich erklärt: "Massaker, die mit Bomben 'vertikal' aus der Luft ausgeübt werden, sind nicht legitimer als 'horizontale' Massaker, die mit MGs begangen werden. Aus dieser Sicht existieren die rein Bösen und die rein Guten nicht mehr." Friedrich, der bereits vor Jahren mutig Reemtsmas Anti-Wehrmachtsausstellung als "nicht analytisch, sondern denunzierend" ablehnte, provoziert nun mit der berechtigten These, aus den Bildern des Luftkrieges könnte er "durchaus eine ähnliche Ausstellung machen wie die von Jan Philipp Reemtsma - mit den gleichen verbrannten Kindern, mit den gleichen Leichenfeldern." Friedrich zerstört mit seinem Buch zuletzt den Mythos, der bestialische Vernichtungskrieg durch Flächenbombardements stehe in irgendeinem Zusammenhang mit den industriellen Vernichtungsaktionen des Hitlerregimes an den europäischen Juden. Obwohl viele deutsche Städte, Köln, Hamburg und Berlin beispielsweise bis zu 300 Mal mit Bombern angegriffen und systematisch zerstört worden sind, wurde ein Ziel nie angesteuert: "Ein Ort blieb verschont, obwohl nicht wenige seiner Bewohner als einzige den Angriff ersehnten. Im Frühsommer 1944 war vier jüdischen Insassen des Vernichtungslagers Auschwitz die Flucht gelungen. Sie unterrichteten ihre Gemeinde in der Slowakei von den Funktionen der Gaskammer. Die Nachricht erreichte die Schweiz und am 24. Juni die Regierungen in Washington und London, verbunden mit der Bitte um Bombardierung eines Verkehrsziels, der Gleisanlagen von Auschwitz. Dem waren die Namen von zwanzig Bahnstationen entlang dieser Gleise beigefügt. Am 27. Juni las Churchill persönlich den Bericht ... Es kam nicht zu diesem Verkehrsangriff und auch zu keinem Plan für diesen Verkehrsangriff." Die Debatte um das Friedrich-Buch bietet vielleicht einen Einstieg in eine differenzierendere Sicht auf deutsche und europäische Geschichte - es wäre zu wünschen. "Das fünf Jahre währende Bombardement deutscher Städte und Gemeinden im Zweiten Weltkrieg ist ohne Vergleich in der Geschichte. Neben der Flucht und Vertreibung aus den Ostgebieten des Reiches war es die größte Katastrophe auf deutschem Boden seit dem Dreißig-jährigen Krieg. Bombardiert wurden mehr als tausend Städte und Ortschaften. Auf dreißig Millionen Zivilpersonen, überwiegend Frauen, Kinder und Alte, fielen nahezu eine Million Spreng- und Brandbomben. Mehr als eine halbe Million Todesopfer und der unwiederbringliche Verlust der seit dem Mittelalter gewachsenen deutschen Städtelandschaft waren zu beklagen." Jörg Friedrich Jörg Friedrich, Der Brand - Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Propyläen, 592 S., Leinen, EUR 25,- |