© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Die kommende allumfassende Humanität
Richard Herzingers unfreiwillige Satire
Günter Maschke

Während Westeuropa sich von Fremden invadieren läßt, befürchtet einer unserer hartnäckigsten intellektuellen Spaßvögel, Richard Herzinger, daß es sich hinter seinen Außengrenzen verschanze. Während Herzinger jede Suche nach einem allgemeinverbindlichen Sinnzentrum unserer Gesellschaft für vergeblich hält, wird es gerade in Berlin erbaut: unser Holocaust-Zentrum.

Während alle „Diskurse“ in Deutschland jegliches Eingehen auf den Kern einer Sache vermeiden (man versuche einmal, in einer öffentlichen Diskussion über die Abtreibung die Frage aufzuwerfen, ob es sich hier um Mord handele) oder die Verhinderung von Diskursen über die Menschen bedrängende, offensichtlich wichtige Probleme ungeniert gefordert wird („Das müssen wir aus den Wahlkämpfen raushalten!“), erklärt unser Buffone, daß der diskursiv-gewaltfreie Konflikt die Grundlage unseres Sys-tems sei, in dem die gegenseitigen Wahrheiten einander „argumentativ herausfordern“. Während das Völkerrecht spätestens mit dem Kosovo-Krieg implodierte (was nur die Konsequenz der um 1880 einsetzenden Diskriminierung des Krieges war) und nur noch das Faustrecht des Stärkeren übrigblieb, von dessen Lefzen ununterbrochen der moralische Schaum trieft, erzählt uns der Herr Richard etwas von der „Neuformulierung“ des Völkerrechts. Während fast alle politischen Kräfte der Republik um einen Platz in der „Mitte“ rangeln und sich dort auf die Füße treten, erklärt Herzinger unser Land zur „Republik ohne Mitte“ weil ein allgemeinverbindliches Wertesystem fehlt. Diese Pluralität massenhaft durcheinander wuselnder Individuen, die alle das laut Herzinger einzig Legitime tun, nämlich nach ihrem privaten Glück zu streben (wie steht’s denn da mit der Erfolgsquote?), wird von Herrn H. gelobt und gepriesen - Aldous Huxley hat umsonst gelebt. Doch gerade wenn es ihm kannibalisch wohl ist als wie fünfhundert Säuen, ist der Sklave ganz Sklave. Wir erfahren von Herrn Richard, daß das Wissen noch nie so leicht zugänglich war (die Dialektik des Verbergens durch das Zeigen ist ihm fremd und ebenso, daß auch hier das „Il faut décourager les arts“ gilt). Doch wenn ein angeblich weder besonders dummer noch besonders ungebildeter junger Mann in einer Quizsendung auf die Frage nach dem Vater von Kain und Abel mit „Moses“ antwortet, ist nach Herrn Richard die Redaktion nur von der irrigen Voraussetzung ausgegangen, daß Grundkenntnisse der Bibel noch zum Bildungskanon gehörten. „Hätte man den Kandidaten gefragt, wie der Onkel von Donald Duck heißt, er hätte wohl kaum mit der richtigen Antwort gezögert“. Ob der Herr Richard es für möglich hält, daß das Oberste Wesen ein Enterich sei, wissen wir noch nicht.

Man sieht, unserem Autor ist alles wurscht, wenn ihn auch gelegentlich ein sanftes Unbehagen angesichts der Fernseh-Quasselrituale befällt und angesichts der „Intimisierung“ der Politik. Wie jedes blinde Huhn findet auch er ein paar Körner; etwa wenn er feststellt, daß ein letztes persönlich-privates Refugium eine Bedingung der individuellen Freiheit sei. Ansonsten preist er die Menschenrechte als Richtschnur des politischen Handelns. Nun, wenn es ein Menschenrecht gibt, so heißt es Hungern und heißt Leiden (Grillparzer), doch genau genommen gibt es gar keins. Menschenrechte gäbe es nur, wenn alle Fremden in allen Staaten die absolut gleichen Rechte besaßen wie die Einheimischen. Was es gibt sind Italiener, Deutsche, Türken usw. H. übersieht auch, daß die Menschenrechte längst das Instrument eines rundum erneuerten Imperialismus sind, der zu den von ihm bedrängten Ländern sagt: „Wenn ihr versuchen solltet, Staaten zu gründen, so könnt Ihr dies nur mit autoritären Methoden tun. Nur so könnt Ihr die Chance erlangen, eine Relation von Schutz und Gehorsam aufzubauen; nur so könnt Ihr Rechte für Eure Bürger etablieren. Ich werde Eure Versuche zu verhindern wissen, ich werde die Bürger Eures Landes gegen Euch aufwiegeln wegen der Verletzung der Menschenrechte, denn ich will eines: Ich will Eure Länder ohne Schwierigkeiten penetrieren und das kann ich am besten, wenn Euch die Staatswerdung mißlingt.“ (Siehe Lateinamerika). Dies ist das wirkliche Geheimnis der Menschenrechte: Allumfassende Einmischung zu ermöglichen.

Die „Menschheit“, die Herr Richard anharft, ist freilich nicht mehr die moralisch und geistig strebende der Aufklärungszeit (daß man sich sogar nach der zurücksehnen kann!), sie ist die, die sie gegenwärtig ist. Herr Richard liebt die Menschen - so wie sie sind und hat, von seiner kommoden Caféhausterrasse aus, viel Verständnis für ihre Schwächen. Mit anderen Worten: Herr Richard ist ein Liebhaber von Platons Schweinestaat. Dessen spät- oder post-moderne Version dünkt ihm das aufgelöste Rätsel der Geschichte zu sein, Dieses neu-wilhelminische „Es ist erreicht!“ erobert ja unter der gegenwärtigen Tyrannei der Beliebigkeit alle Herzen im Nu. Während das „erschütterndste und tragischste Zeitalter der Menschheit“ (Panajotis Kondylis) sich anmeldet, während unter dem Klang der Propagandadrommeten des Humanitarismus das Blut noch aus den harten Felsen sprudeln wird, delektiert sich Herr Richard daran, daß es „keine fest umrissenen Grenzen mehr zwischen dem Ich und der objektiven Wirklichkeit“ mehr gäbe: dem Lob des kollektiven moralischen Schwachsinns folgt das Lob des kollektiven Irreseins. Die Erniedrigung des modernen Menschen, der stets hin und hergerissen ist zwischen Selbstvergottung, diffuser Angst und der Ahnung, daß er völlig entbehrlich sei, wird für Herrn Richard zum Beinahe-Himmel: Wo jeder nach seiner Façon die Seligkeit verlieren kann, da ist er zu Haus. Daß die individuelle Freiheit - soweit’s die Ökonomie erlaubt - ausgeweitet wird, dient doch gerade dem politischen System als Stütze, das nicht zuletzt auf dem fröhlich-konsumfreundlichen, pardon, Untermenschen beruht. „Die Sklaverei läßt sich bedeutend verfeinern, wenn man ihr den Anschein der Freiheit gibt“ (Ernst Jünger). Das entgeht unserem FDGO-Troubadour. Die soziale Auflösung als unschuldiges Gewimmel, die völlige Entfremdung, in der jeder jedem lachend auf die Schulter klopft, - das ist das Ideal dieses dummen, als Phänomen freilich interessanten Buches. Immerhin findet Herzinger am Ende doch noch einen Personenkreis, der sich dem „wachsenden Grundkonsens allumfassender Humanität“ entzieht: Es sind die „Neo-Nazis“. Die wollen mit der angeblich „diskursiven Struktur der liberalen Demokratie“ nichts zu tun haben. Weshalb, zum Teufel, fordert Herr Richard nicht deren schleunigste Ausrottung, auf daß wir endlich ins Reich der absoluten Humaniät eintreten?

Richard Herzinger: Republik ohne Mitte - Ein politischer Essay. Siedler Verlag Berlin 2oo1, 190 Seiten, 36,03 Mark


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen