© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Allzu viel stumpft ab
Analyse eines Blutrauschs: Hans Neuenfeld inszeniert in Berlins Deutschem Theater Shakespeares „Titus Andronikus“
Hans-Jörg von Jena

Shakespeares „Titus Andronikus“ ist der Nachwelt, voran ihrem deutschen Teil, seit eh und je die reinste Verlegenheit. Verehrungsvolle Gelehrsamkeit schüttelt den Kopf über das blutrünstige Römerdrama. Goethe, dem doch Shakespeare zeitlebens als „Stern der höchsten Höhe“ voranleuchtete, überging es mit Stillschweigen, Wieland übersetzte es nicht.

Das tat dann Wolf Graf Baudissin pflichtbewußt für die große Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe. Aber erst 1925, im Banne des Expressionismus, wurde es in deutscher Sprache erstmals gespielt. Das blieb, wie nachfolgende vereinzelte Inszenierungen seither, ohne tiefere Wirkung. Selbst in England fand sich niemand, der T. S. Eliots zorniger Kennzeichnung, beim „Titus Andronikus“ handle es sich „um eins der dümmsten und uninspiriertesten Stücke, die jemals geschrieben wurden“, laut widersprochen hätte.

Was veranlaßt Hans Neuenfels, ausgerechnet mit diesem Drama seinen Einstand als Hausregisseur an Berlins Deutschem Theater zu geben? Die Lust an der Provokation, der Spaß am Abseitigen ist es offensichtlich nicht. Was davon einschlägig sein mag, ist schon Teil der Handlung und bedarf kaum des Regiekitzels. Höchstens so, daß man nichts versteckt.

Was zeigt Shakespeare? Einen Machtkampf, historisch kaum beglaubigt, im späten Rom; aber diesen eigentlich nur als Vorwand für blutige Exzesse, wie sie das Publikum liebte, für das er schrieb. Titelheld Titus Andronikus, der gestandene Feldherr, will nicht Kaiser werden. 21 seiner 25 Söhne hat er im Krieg für Rom dahingegeben, für das höchste Amt jedoch schlägt er den Weichling Saturninus vor. Erbarmungslos ersticht er seinen Sohn Nr. 22, als der ihm widerspricht. Erbarmungslos fordert er von der gefangenen Gotenkönigin Tamora den Sühnetod ihres Ältesten und läßt ihn, allem Jammer der Mutter zum Trotz, rituell zerfleischen. Ihr bietet sich Gelegenheit zur Rache, als der Kaiser sie überraschend heiratet. Durch eine widerwärtige Intrige belasten ihre beiden überlebenden Söhne die Titus-Söhne Nr. 23 und 24 einer Mordtat, die sie selbst begangen haben. Sie vergewaltigen und verstümmeln die einzige Titus-Tochter, der sie beide Hände und die Zunge abschneiden. Daß der Feldherr selbst für seine Söhne eine Hand opfert, nützt nichts; statt sie freizulassen, schickt man ihm nur die Köpfe. Aber auch die Gegenaktion des Getäuschten ist nicht von Pappe: Er schlachtet Tamoras Söhne und setzt sie dem Kaiserpaar zum Mahl vor. Nach Orgien der Grausamkeit, mindestens einem Dutzend Mordtaten und dem Tod sämtlicher Protagonisten liegt am Ende die vage Hoffnung auf dem allerletzten Titus-Sohn, der die Herrschaft übernimmt.

Der Widerstreit von Chaos und Gesetz ist erkennbar

Fürwahr eine Häufung hanebüchener Vorgänge, als wolle Shakespeare mit Stephen King in Horror-Konkurrenz treten oder das „Theater der Grausamkeit“ eines Antoine Artaud vorwegnehmen. Tatsächlich konkurrierte er wohl mit dem genialischen Christopher Marlowe unter dem Motto „Was der kann, kann ich schon lange“ und setzte übermütig auf einen Schelmen anderthalbe. Mit ihrem erschrockenen Ekel vor der blutigen Drastik des Stücks haben die Ästheten übrigens nicht so ganz recht. Sie übersehen, mit welcher Virtuosität die Handlung geballt, gestaut, gesteigert und übersteigert ist. „Titus Andronikus“ ist zwar ein Anfänger-, kein Meisterstück. Aber es zeigt die Spur des Löwen. Motive des „Lear“, des „Hamlet“ klingen an. Und Shakespeares Tragödien-Grundthema, der Widerstreit von Chaos und Gesetz, ist deutlich erkennbar.

Das sich verstolpernde „Welt, ich liebe dich“ auf dem Rundhorizont (Bühne: Hugo Gretler) kommentiert das Geschehen sarkastisch. Im übrigen nimmt Neuenfels, was er vorzuführen hat, prinzipiell ernst. Wovor sich der gesittete Theaterbesucher mit Grausen wendet, gerade dies interessiert ihn. Und ist nicht Grausamkeit auch im 21. Jahrhundert nach wie vor an der Tagesordnung? Attentate, Folter, Terror? Und verschließen wir davor nicht allzu gern die Augen? Statt sich in obzönem Blutrausch zu baden, sucht Neuenfels die grausamen Begebenheiten, indem er sie zeigt, nüchtern zu analysieren. Es ist, als wolle er des alten Adenauer weises Diktum vom „dünnen Eis, über das wir gehen“, illustrieren. Und uns den wahren Schrecken einjagen nicht durch Sensationen, sondern durch die Einsicht,daß jederzeit alles, auch das blutrünstig Archaische, möglich ist unter Menschen.

Ganz alternder, starrer Haudegen und nur scheinbar rational gesteuerter Berserker, hilft ihm Hans-Michael Rehberg in der Titelrolle dabei. Herausragende Schauspieler neben ihm: Ingo Hülsmann als schleichend nackter, kohlrabenschwarzer Mohr Aaron, ein Inbegriff abgründig lüsternen Hasses wie Jago, und Inka Friedrich als verstümmelte Lavinia, unmißverständlich ausdrucksvoll im stummen Spiel. Auch Sven Lehmann, als Kaiserbruder ein resignierender Confident von klarer Diktion, verdient Anerkennung. Die meisten anderen bleiben blaß. Dafür können sie nichts. Shakespeare schuf hier keine Menschen, sondern exzellierte in Kunstfiguren. Das Schema durchbricht am ehesten Elisabeth Trissenar (Tamora) mit vitaler Weiblichkeit.

Im ganzen aber entbehrt „Titus Andronikus“ jener Poesie, die erst das tiefere Interesse weckt. Kein Wunder, daß Neuenfels gelegentlich den vorgefaßten Ernst durchbricht und für Augenblicke die heimliche Komik absurder Überdrehtheiten aufscheinen läßt.


 
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