© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Illegale Lohndrücker werden legalisiert
Sozialpolitik: Osteuropäische Hilfskräfte sollen in der ambulanten Pflege eingesetzt werden / Angst vor Billigkonkurrenz
Jens Jessen

Im Dezember 1999 waren insgesamt 2,02 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig, wobei 1,44 Millionen (72 Prozent) zu Hause versorgt wurden. Das Gros der zu Hause lebenden Pflegebedürftigen erhielt Pflegegeld (1,03 Millionen), weitere 415.000 nahmen ambulante Pflegedienste in Anspruch. 573.000 Pflegebedürftige lebten in Heimen. Viele Familien können sich die professionelle Pflege in ausreichendem Umfang nicht leisten.

Nicht nur in Deutschland, sondern in vielen europäischen Ländern fehlen Pflegekräfte für den ambulanten und stationären Bereich. Die Versammlung der Regionen Europas hat deshalb ein Modellprojekt gestartet, mit dem regionale Kooperations- und Austauschprogramme eingeführt wurden. Während im Norden, Süden und Westen Europas Pflegepersonalmangel herrscht, gibt es in den meisten früheren Ostblockländern und auch in den neuen Bundesländern in Deutschland einen Pflegepersonalüberschuß. Seit kurzem nehmen zwei polnische Regionen an diesem Programm teil, meldete die Ärzte-Zeitung am 19. November. Pflegepersonal aus Tschechien, der Slowakei und Rumänien will jetzt ebenfalls in Westeuropa Arbeit finden. Arbeitsminister Riester hat den Ball der Versammlung der Regionen Europas aufgenommen. Er will aber noch weiter gehen: Auch osteuropäische Hilfskräfte sollen in der ambulanten Pflege eingesetzt werden. Neben ausgebildeten Pflegekräften arbeiten schon etwa 20.000 meist osteuropäische Hilfskräfte illegal in Deutschland. Deren Tätigkeit will er mit einer Rechtsverordnung legalisieren.

Der Arbeitgeber- und Berufsverband Privater Pflege (ABVP) hat dagegen scharfen Protest eingelegt. Der Geschäftsführer des Verbandes, Heiner Schülke, wirft Riester vor, daß er damit nicht nur illegale Arbeitsverhältnisse legalisiert, sondern auch einen qualitäts- und rechtsfreien Raum in der ambulanten Pflege schaffe. Die Hilfskräfte kommen in Familien zum Einsatz, für die eine professionelle Pflege zu teuer ist. Der Stundensatz für eine ausgebildete Pflegekraft beträgt nach Angaben des ABVP zwischen 35 und 65 Mark. Ein Vergleich mit der Gesellenstunde für Elektriker und Maler, die mit 68 Mark berechnet wird und mit Heizungsinstallateuren und Kfz-Mechanikern bis zu 114 Mark pro Stunde, zeigt eine Schieflage, die durch den Einsatz der Hilfskräfte aus Polen und anderen ehemaligen Ostblockländern noch verschärft wird. Diese Hilfskräfte arbeiten nach Angaben von Heiner Schülke für 45 Mark pro Tag (!) bei freier Unterkunft und Logis.

Treibende Kraft für den Vorstoß Riesters war der hessische Innenminister Bouffier, der schon im September des Jahres gefordert hatte, einer Beschäftigung ausländischer Hilfskräfte zur Betreuung von Pflegebedürftigen keine ausländerrechtlichen Hemmnisse in den Weg zu legen. „Ausländerrechtlich ist aus der Sicht der Landesregierung alles klar. Jetzt ist die Arbeitsverwaltung und hier vor allem Bundesarbeitsminister Riester am Zug. Er muß die zwingend notwendigen Arbeitserlaubnisse erteilen“, sagte Bouffier im September.

Die CDU-Sozialministerin von Hessen, Silke Lautenschläger, begründete diese Initiative des Landes damit, daß es auf dem deutschen Arbeitsmarkt für diese Tätigkeiten keine einheimischen Arbeitskräfte gibt. Ob die beiden hessischen Minister etwas anderes als der nackte Populismus geritten hat, läßt sich nicht feststellen. Wenn allerdings Hilfskräfte die Pflege alter und abhängiger Menschen übernehmen sollen, wenn Fachkräfte fehlen, dann wird das Problem am falschen Ende angepackt. Die Leidtragenden sind die Pflegebedürftigen. Die von Minister Riester entworfene Rechtsverordnung löst die Probleme nicht, weil die Arbeitsämter die Einhaltung bestimmter Auflagen nicht prüfen können. Dazu gehört, so Heiner Schülke, daß die ausländischen Hilfskräfte keinen schlechteren Arbeitsbedingungen unterworfen sein sollen als deutsche Kräfte, und daß sie sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden müssen.

Die Zahl der deutschen Fachkräfte, die sich kurz nach ihrer Ausbildung zu einer Umschulung entschließen, ist erschreckend hoch. Neben der schlechten Bezahlung werden die schwierigen Arbeitsbedingungen für die Aufgabe des Pflegeberufs durch das qualifizierte Personal genannt. Viele Pflegekräfte werden in ihrer Ausbildungszeit nicht ausreichend auf die psychischen Belastungen vorbereitet, die dieser Beruf mit sich bringt. Das eigentliche Problem aber ist in der Pflegeversicherung selbst zu suchen. Die Sätze, die dort für die häusliche Pflegehilfe festgelegt wurden, sind so gering, daß damit keine Pflegekraft ihrer Ausbildung entsprechend von den Pflegediensten bezahlt werden kann. Ein Beispiel für die Pflegestufe III soll das belegen. Für diese Pflege sind bis zu 2.800 Mark vorgesehen. In § 15 „Soziale Pflegeversicherung (SGB XI)“ wird beschrieben, was diese Pflege verlangt: „Pflegebedürftige der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) sind Personen, die bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität täglich rund um die Uhr, auch nachts, der Hilfe bedürfen und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigen.“

1999 gehörten 58.100 Menschen in die Pflegestufe III. Statt eine Rund-um-die-Uhr-Pflege mit 2.800 Mark abzugelten, die zu diesem Preis nicht erbracht werden kann, wäre eine Erhöhung auf 5.000 Mark nötig, um qualifiziertes Personal zu erhalten. Auf billige Hilfskräfte auszuweichen, die den Anforderungen wegen fehlender Ausbildung nicht nachkommen können, ist eine Unverfrorenheit gegenüber den Pflegebedürftigen.


 
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