© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/01 01/02 21. Dezember / 28. Dezember 2001

 
Die Euphorie der Wendezeit ist verflogen
Hauptstadt: Nach der Illusion einer Wiederauferstehung als Industriemetropole will Berlin jetzt wenigstens einen „Großflughafen“ bauen
Wolf Jobst Siedler

Niemand wird es Berlin verdenken, daß es sich im Augenblick der Wende Euphorien hingab. Vierzig Jahre der Abschließung waren überstanden, nun plötzlich schien eine glänzende Zukunft vor der Stadt zu liegen. Die „Metropole“ des Kaiserreichs würde wiedererstehen oder die „Weltstadt“ der zwanziger Jahre. Wie sich große Erwartungen oft in Bagatellen niederschlagen, so ließ sich solcher Optimismus im Konkreten fassen. Die Grundstückspreise im Raum Berlin stiegen nach 1990 sprunghaft. Inzwischen fallen sie kontinuierlich.

Vierzig Jahre lang hatte Berlin unter ständiger Bedrohung gelebt. Mehr als eine Million Berliner hatten seit dem Winter 1944 die Stadt verlassen, und das waren gerade jene Eliten, von denen die intellektuelle Vitalität einer Stadt abhängt. Die Industrie war zwischen Eroberung, Blockade und Mauerbau weitgehend in den Westen gegangen, Siemens wie AEG, Borsig und Telefunken. Vorbei ist die Zeit, da Berlin die „größte Industriestadt zwischen Atlantik und Ural“ war. Berlin war einst auch der wichtigste Finanzplatz des Kontinents gewesen, vergleichbar nur der City of London. Jetzt ging die Bankenwelt nach Frankfurt, das schon in den sechziger Jahren der wichtigste Bankenplatz Deutschlands geworden war.

Auch die „Zeitungsstadt Berlin“, deren Bild nach dem Krieg Peter de Mendelsohn in einem verführerischen Gemälde nachgezeichnet hatte, war nur noch Vergangenheit. Mehr als einhundert Tages- und Wochenzeitungen waren in den vier Jahrzehnten zwischen 1890 und 1930 in Berlin herausgekommen, darunter fast alle wichtigen Blätter deutscher Sprache. Nun blieben im Westteil der Stadt nur noch die Morgenpost, der Tagesspiegel, die B.Z. und einige Parteizeitungen. Der Glanz einer hauptstädtischen Presse war in der Mauerstadt nur noch Erinnerung.

Politiker aller Parteien gaben der Versuchung nach

Einhundertfünfzig Buchverlage von S. Fischer über Rowohlt bis zu den Wissenschaftsverlagen Julius Springer und Walter de Gruyter waren in Berlin seßhaft gewesen, mehr geistige Kraft hatte sich an der Spree versammelt als an der Seine oder an der Themse. Fast nur Ullstein und Propyläen hielten jetzt die Stellung, nicht zuletzt dank Axel Springer, der auf Berlin setzte, als alle anderen ihre Zukunft an der Elbe, am Rhein, am Main oder an der Isar suchten. Da sollte die Stadt 1990 nicht einer euphorischen Verlockung nachgeben?

Aber von dem politischen und wirtschaftlichen Establishment Berlins hätte man erwarten können, daß es nüchtern die Realität ins Auge faßte. In Wirklichkeit gaben die Politiker aller Parteien der Versuchung am willenlosesten nach. Die Stadt schien es plötzlich für selbstverständlich zu halten, daß die Olympischen Spiele des Jahres 2000 nach 1936 noch einmal nach Berlin vergeben würden. Bei der Abstimmung der zuständigen Gremien spielte Berlin jedoch eine klägliche Rolle. Schon hatte die Stadt überall neue Stadien gebaut oder doch geplant. Nachdem die Realität sie eingeholt hatte, suchte man eine neue Verwendung für die Arenen zu finden, sofern man die Bauvorbereitungen nicht abbrechen konnte.

Jedermann sprach nach der Wende auch davon, daß Berlin einen wirklichen Großflughafen brauche, nach dem Muster von London-Heathrow, Amsterdam-Schiphol und Paris-Charles-de-Gaulle. Wenn aber schon solche internationalen Vergleiche fehl am Platze seien, müsse Berlin zumindest an die Seite Frankfurts, Düsseldorfs oder Münchens treten, das sich gerade anschickte, draußen vor der Stadt ein Luftkreuz aus dem Boden zu stampfen. Alle Parteien Berlins stimmten darin überein, das wiederhergestellte Berlin werde mit Sicherheit das Luftkreuz Mitteleuropas werden.

Und da nur die Lumpen bescheiden sind, träumte man anstelle der drei bestehenden Flughäfen Tegel, Tempelhof und Schönefeld von einem „Großflughafen“, für den sich der damalige Bundesverkehrsminister Krause mit Mecklenburg zur Stelle meldete und Höppners Sachsen-Anhalt sich mit Stendal ins Spiel brachte. Ministerpräsident Stolpe suchte vergeblich die brandenburgischen Alternative Sperenberg bei Jüterbog anzubieten, wobei man auf einen ungenutzten sowjetischen Militärflugplatz zurückgreifen konnte. Zudem lagen beide Orte so einsam inmitten von Birken und Kiefern, daß keine Proteste von Anrainern zu befürchten waren.

All das zerrann. Am Ende einigte man sich als Kompromiß auf den Ausbau des alten DDR-Flughafens Schönefeld, für den man die verlockendste Zukunft ausmalte. Zwar liegt Schönefeld hart an der Grenze zur Millionenstadt Berlin, aber die 300.000 Betroffenen würden eben eine gewisse Belästigung in Kauf nehmen müssen. Zudem versprachen die beteiligten Länder Berlin und Brandenburg ein Nachtflugverbot für Schönefeld. Die grüne Partei hat sogar angekündigt, daß sie als Koalitionspartner auf jeden Fall das Nachtflugverbot durchsetzen werde. Soll man die Milliarden Baukosten aber wirklich in einen Notbehelf investieren? Der Bau eines neuen Flughafens war bis dahin gerade damit gerechtfertigt worden, daß er rund um die Uhr nutzbar sein würde, wobei man London und Paris und Rom als Exempel ins Feld führte.

Inzwischen sind schon 137.000 Einsprüche gegen den Ausbau Schönefelds zu einem Großflughafen eingegangen, und der „Bürgerverein Berlin-Brandenburg“ mit seinen 4.000 Mitgliedern kündigt massiven Protest an. Seiner Auskunft nach würden 300.000 Berliner unter dem Lärm und unter den Abgasen leiden. Das aber schreckt die Verantwortlichen Berlins nicht allzu sehr. Der jahrelange Protest gegen den Münchener Franz-Josef-Strauß-Flughafen hat ebenfalls Hunderttausende von Einsprüchen mobilisiert, und jede neue Landebahn für den Frankfurter Flughafen führt zu jahrelangen rechtlichen Auseinandersetzungen mit den Naturschützern. So ist der Lauf der Welt seit der Demokratisierung solcher Entscheidungsprozesse.

Münchens Flughafen ist kein Vergleichsmaßstab für Berlin

Von welcher jährlichen Flugfrequenz geht die Berliner Stadtverwaltung aus? Zwar rechnet man optimistisch mit 17,4 Millionen Passagieren für das Jahr 2007, aber auch dann würde Schönefeld im Grunde nur ein großer Stadtflughafen sein. Frankfurt zählt 49 Millionen jährliche Fluggäste, und selbst der neue Flughafen München kommt kaum ein Jahrzehnt nach seiner Eröffnung auf 23 Millionen Fluggäste und muß schon eine weitere Landebahn planen. Die europäischen Vergleichsflughäfen London, Amsterdam und Paris warten mit ganz anderen Zahlen auf.

Gregor Gysi ist immer für Überraschungen gut

Denn Münchens Flughafen ist kein Vergleichsmaßstab für Berlin. München bedient nicht nur seinen eigenen Großraum, sondern auch die Städte Augsburg, Regensburg, Passau, Ingolstadt und Nürnberg, alles Plätze, die ihre Kraft aus sich selber ziehen. Auf was aber kann Berlin als Einzugsgebiet zählen? Auf Kyritz, Luckenwalde, Storkow und bestenfalls noch Cottbus. Die aber leiden selber unter einer Massenabwanderung. Alles mögliche brauchen sie, aber keinen Großflughafen. Aber warum hält Berlin dann am Ausbau des alten DDR-Flughafens Schönefeld fest? Nichts ist offensichtlich schwerer, als einmal gefaßte Beschlüsse aufzugeben. Jedes neue Nachdenken sagt eigentlich, daß man Anfang der neunziger Jahre Illusionen nachgehangen hat - etwa der von einem „Luftkreuz Mitteleuropas“, das genau in der Mitte zwischen den Ballungszentren Westeuropas und den Metropolen des Ostens liegt. Mit den Flugzielen Warschau, Prag, Budapest, Minsk, Kiew, St. Petersburg und Moskau hat man ja den Ausbau des Berliner Großflughafens zehn Jahre lang gerechtfertigt. Aber glaubt jemand heute noch ernsthaft daran? Der Flugverkehr von Berlin in die osteuropäischen und russischen Hauptstädte ist so gering, daß man ihn kaum in Prozentzahlen messen kann.

In diese Situation stieß vor wenigen Wochen die entschiedene Aussage Gregor Gysis gegen „ein gigantisches Luftkreuz Berlin“. Der PDS-Politiker, der immer für eine Überraschung gut ist, hatte damit in ein Wespennest gestochen. Natürlich bediente er mit seinen Bedenken vor allem die Ost-Berliner Wähler, also die eigene Klientel. Köpenick und Treptow, die Nachbargemeinden Schönefelds, wären ja am meisten von den Nachteilen eines Berlinnahen Großflughafens betroffen. Dennoch hätte es dieser Vorschlag aber verdient, ernstgenommen zu werden, auch wenn er von einem Mann kam, der bisher eher in Talkshows durch Geist und Witz geglänzt, als daß er konkrete Sachvorschläge gemacht hat.

Der Landesvorsitzende der SPD, Peter Strieder, meinte wegwerfend, daß es Gregor Gysi ganz offensichtlich an „wirtschaftlichem Sachverstand“ fehle. Machtpolitischen Sachverstand hat er dagegen inzwischen immerhin bewiesen, mit einem Salto um der rot-roten Koalition in Berlin willen, landete er nach der Wahl im Lager der Flughafenbefürworter. Beim Flughafen München, so hatte Strieder zuvor entgegengehalten, sehe ja jeder, welche Belebung ein solches „Drehkreuz“ einer Region bringe. Wenn Berlin am Aufschwung, am internationalen Luftverkehr teilhaben wolle, müsse Schönefeld schnellstens ausgebaut werden: „Die Schnellen fressen immer die Langsamen.“ Aber bei Licht besehen ist das kein Argument, das für Schönefeld spricht, sondern für einen möglichst stadtfernen Flughafen.

Nur zwei Prozent der Fluggäste fliegen weiter

Alle Befürworter berufen sich auf Martin Gaebges, Generalsekretär der 106 in Deutschland vertretenen Fluggesellschaften. Gaebges hat immer wieder festgestellt, daß ohne einen „Umsteigeverkehr“ Berlin nicht mit den anderen Metropolen Europas konkurrieren könne. Aber es gibt gar keinen Umsteigeverkehr in Berlin. Fast 98 Prozent aller Berliner Fluggäste haben die Stadt Berlin als Endpunkt ihrer Reise, nur zwei Prozent fliegen von hier aus weiter nach Warschau, Prag oder Moskau. Auch daran macht sich bemerkbar, daß Berlin, einst in der ost-westlichen Mitte des deutschen Reichsgebietes liegend, inzwischen eine Grenzstadt geworden ist.

56 Kilometer vor den letzten Häusern Berlins beginnt mit der polnischen Grenze die östliche Welt. Zur Zeit werden die Flugverbindungen nach Ost und West eher reduziert als ausgeweitet. Eben hat die Lufthansa die einzige transatlantische Linie Berlin-Washington eingestellt, wobei man den Terroranschlag von New York und Washington ins Feld führte. Aber in Wirklichkeit hat sich dieser Verkehr, an dessen Eröffnungsflug seiner Bedeutung wegen sowohl Eberhard Diepgen als auch Manfred Stolpe teilnahmen, kommerziell niemals gerechnet. Die Erste Klasse blieb fast leer und in der Business Klasse waren selten mehr als 30 Prozent der Plätze besetzt. Einzig die Touristenklasse für Urlauber war ausgelastet. Die „Metropole Berlin“ hatte nicht einmal einen einzigen Flug wöchentlich in die Vereinigten Staaten wirtschaftlich gerechtfertigt. Von Frankfurt, Düsseldorf und München aus werden die Städte in Nord- und Südamerika und in Ostasien angeflogen. Berlin spielt hier gar keine Rolle.

Was folgt aus all dem? Daß Berlin es sich doppelt und dreifach überlegen muß, bevor es an Entscheidungen festhält, die in der Zeit der Euphorie gefaßt wurden. Damals ging ja das politische Establishment Berlins von einem explosionsartigen Anwachsen der Bevölkerung aus. Vier Millionen Einwohner in kürzester Zeit schienen für den damaligen Verkehrssenator Herwig Haase ausgemacht, fünf Millionen sagte der Bausenator Volker Hassemer mittelfristig voraus, und der Bundessenator Peter Radunski sprach davon, daß sich Berlin langfristig auf sechs Millionen Bürger einstellen müsse. Durch einen „Kranz von Hochhäusern am äußeren Stadtring“ wollte der Bausenat die drohende Überflutung der Innenstadt verhindern.

Inzwischen sind solche Ängste oder Hoffnungen vergangen. Damals hatte Berlin baureifes Industriegelände ausgewiesen, da man mit der Rückkehr zumindest einiger der traditionellen Industriewerke Berlins rechnete. Deren leere Hallen aus der Vorkriegszeit rosten aber seit der Wende in Oberschöneweide oder in Moabit vor sich hin und werden zu Lofts umgebaut.

Warum werden die Alternativen zum Großflughafen einfach so fallengelassen? Der ursprüngliche Vorschlag, das alte sowjetische Militärgelände Sperenberg für Berlins neuen Flughafen vorzusehen, ist nicht von der Hand zu weisen, es muß ja kein Großflughafen sein, ein Normalflughafen reicht auch. Der absurde Ausweg eines Nachtflugverbots für Berlins Großflughafen erübrigte sich dann. Statt langwieriger rechtlicher Auseinandersetzungen mit Anrainern hat man eher Dankadressen der Bevölkerung dieser strukturschwachen Gebiete zu erwarten.

 

Wolf Jobst Siedler ist Publizist und Verleger. Er lebt in Berlin

 

Flughafen Schönefeld: Bürgerinitiative kritisiert PDS

Der Bürgerverein Berlin-Brandenburg e.V. (BVBB) hat die PDS in Berlin heftig für ihre positive Entscheidung zum Flughafen kritisiert. Der Vorsitzende des Vereins, Ferdi Breidbach, erinnerte daran, daß selbst Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) die Flughafenposition der PDS immer als Nein zu Schönefeld verstanden habe. Die PDS, so Breidbach, hätte gemeinsam mit dem Bürgerverein zahlreiche Protestveranstaltungen durchgeführt. „Wer ja sagt zur Fortsetzung des Planfeststellungsverfahrens, sagt ja zu einem Großflughafen“, heißt es in einer Pressemitteilung. Der Antrag, den Gregor Gysi und die PDS nun plötzlich begrüßen, verlange den Nachtflug ausdrücklich - somit habe die PDS eine Chance versäumt, die Flughafenpolitik zu stoppen und über andere Standorte oder haushaltsschonende Konzepte zu entscheiden. (JF)


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen