© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
Nur ein Gespenst der Vietcong
Afghanistan: Warum man den Krieg gegen die Taliban - noch - nicht mit Vietnam vergleichen kann
Walter Post

Der amerikanische Krieg gegen das Taliban-Regime und die Terrororganisation al-Quaida in Afghanistan wird in der öffentlichen Diskussion immer wieder mit dem Vietnamkrieg verglichen. Eine nähere Betrachtung dieser beiden Konflikte zeigt aber große Unterschiede, und es scheint kaum möglich, vom Vietnamkrieg aus irgendwelche Prognosen über den Krieg in Afghanistan zu machen.

Die weltpolitische Konstellation, vor deren Hintergrund der Vietnamkrieg stattfand, war eine gänzlich andere als heute. Die internationale Politik der sechziger Jahre wurde vom Kalten Krieg, dem Konflikt zwischen der westlichen und der kommunistischen Welt beherrscht. Ein wesentlicher Teil dieses Konflikts war der Gegensatz zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China.

Präsident Franklin D. Roosevelt hatte im Zweiten Weltkrieg das Ziel verfolgt, die Sowjetunion für eine dauerhafte Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten im Rahmen einer neuen Weltordnung zu gewinnen. Roosevelt betrachtete China als einen traditionellen amerikanischen Verbündeten und trotz seiner wirtschaftlichen Rückständigkeit als eine zukünftige Großmacht. In China hatten seit 1927 die Nationalisten unter Generalissimus Chiang Kai-shek und die Kommunisten unter Mao Zedong einen blutigen Bürgerkrieg gegeneinander geführt, wobei die Nationalisten bis zum Ausbruch des Krieges mit Japan 1937 weitgehend die Oberhand gewonnen hatten.

In den Augen der Roosevelt-Administration wurden die chinesischen Kommunisten durch die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion deutlich aufgewertet. Da Roosevelt Stalin auch im Fernen Osten einen größeren Einfluß zugestehen wollte, sollte nach der siegreichen Beendigung des Krieges gegen Japan in China eine Koalitionsregierung aus Nationalisten und Kommunisten gebildet werden. Washington schickte im Dezember 1945 den ehemaligen Generalstabschef der amerikanischen Armee, George C. Marshall, in einer Sondermission nach China, um durch seine Vermittlung die gewünschte Koalitionsregierung zustande zu bringen. Aber im Frühjahr 1946 brach im Nordosten Chinas, in der Mandschurei, wieder der offene Bürgerkrieg aus. Um auf Chiang Kai-shek Druck auszuüben und ihn zur Einwilligung in die geplante Koalitionsregierung zu bewegen, verhängte Marshall ein Waffenembargo gegen die Nationalisten; gleichzeitig begann die Sowjetunion, die chinesischen Kommunisten systematisch aufzurüsten. Dies führte zu einer langfristigen Verschiebung des militärischen Kräfteverhältnisses in China: Die kommunistische „Volksbefreiungsarmee“ gewann schließlich die Oberhand und konnte nach den Entscheidungsschlachten in der Mandschurei 1948 das gesamte chinesische Festland erobern. Am 1. Oktober 1949 rief Mao Zedong in Peking die Volksrepublik China aus.

Trumans antisowjetischer Kurswechsel kam zu spät

Der Sieg der Kommunisten in China und der erfolgreiche Test der ersten sowjetischen Atombombe im August 1949 waren ein schwerer Schock für die amerikanische Öffentlichkeit. Präsident Harry S. Truman hatte schon unmittelbar nach dem Tode Roosevelts im April 1945 begonnen, einen Kurswechsel der amerikansichen Außenpolitik einzuleiten, aber die notwendige völlige Kehrtwendung ließ sich nicht von heute auf morgen bewerkstelligen. Die alte Roosevelt-Administration, mit der Truman regieren mußte, und die amerikanische Öffentlichkeit mußten erst zur Einsicht gebracht werden, daß eine dauerhafte Zusammenarbeit mit der Sowjetunion eine Utopie war. Truman und sein Außenminister Dean Acheson entwickelten 1947/48 das Konzept der „Eindämmung“ der kommunistischen Expansionsbestrebungen, aber für die antikommunistischen Kräfte in China kam die amerikanische Neuorientierung zu spät.

1950 gerieten die Vereinigten Staaten und das kommunistische China in Korea in einen direkten bewaffneten Konflikt. Nach wechselvollen Kämpfen kam es zu einem Patt. Die Amerikaner hatten trotz ihrer weit überlegenen Luftwaffe und trotz der Feuerkraft ihrer Heeresverbände in Korea keinen entscheidenden Sieg über die Rotchinesen erringen können. Dank ihrer schier unerschöpflichen Menschenreserven und dank unbeschränkter sowjetischer Waffenlieferungen, konnten die Chinesen ihre Verluste, die ein Vielfaches der amerikanischen betrugen, leicht ersetzen. Einen direkten Angriff auf China oder den Einsatz von Atomwaffen wagte die amerikanische Führung nicht, da dies zu einer unabsehbaren Ausweitung des Krieges geführt hätte. Die Amerikaner hatten sich trotz ihrer enormen waffentechnischen Überlegenheit nicht gegen die Menschenmassen des asiatischen Festlandes durchsetzen können.

In Französisch-Indochina hatte sich während der japanischen Besetzung eine nationalkommunistische Befreiungsbewegung nach chinesischem Vorbild gebildet, die 1945 große Teile des Landes, vor allem im Norden, kontrollierte. Als Frankreich nach der Kapitulation Japans und dem Abzug der japanischen Truppen seine Kolonialherrschaft über Indochina wieder aufrichten wollte, stieß es sehr bald auf bewaffneten Widerstand. Die Vietminh unter der Führung von Ho Chi Minh und General Vo Nguyen Giap entfesselten einen Guerillakrieg, der für die Franzosen auf die Dauer nicht zu gewinnen war. Frankreich hatte weder genug Truppen, um das Land effektiv zu kontrollieren, noch konnte es der Bevölkerung eine attraktive politische Perspektive bieten. Nach der schweren Niederlage bei Dien Bien Phu Anfang Mai 1954 mußte Paris in Waffenstillstandsverhandlungen einwilligen. Am 8. Mai 1954 begann die Genfer Indochinakonferenz, an der außer den Vertretern der Großmächte Frankreich, England, der USA, der Sowjetunion und der Volksrepublik China auch Abgeordnete aus ganz Indochina, aus Nord- und Südvietnam, Laos und Kambodscha teilnahmen. Gemäß den Beschlüssen der Großmächte wurden die Königreiche Laos und Kambodscha unabhängig und Nord- und Südvietnam am 17. Breitengrad durch eine entmilitarisierte Zone geteilt. Diese Teilung sollte aber nur provisorischen Charakter haben, denn es war vorgesehen, das Land nach gesamtvietnamesischen Wahlen wiederzuvereinigen. Diese Wahlen fanden aber niemals statt.

Während der Norden mit der Hauptstadt Hanoi fest in kommunistischer Hand war, rief im Süden Ministerpräsident Ngo Dinh Diem im Oktober 1955 in Saigon die Republik Vietnam aus. Die kommunistische Führung im Norden war jedoch nicht gewillt, sich mit der Teilung des Landes abzufinden. Sie aktivierte deshalb die noch vorhandene kommunistische Untergrundbewegung im Süden, die unter der Bezeichnung Vietcong ab 1956 einen Guerillakrieg gegen das Regime Diems führte. Für einen Guerillakrieg bietet Vietnam ein ausgezeichnetes Gelände; es ist fast vollständig mit Dschungel bedeckt und hat im Westen eine etwa 1000 km lange, offene Grenze zu Laos und Kambodscha, die praktisch nicht zu kontrollieren ist. 1959 hatte der Vietcong etwa 5000 aktive Kämpfer und wurde ständig durch ausgebildete Kader aus dem Norden verstärkt. Da die Guerillabewegung das Regime Diems zunehmend in Schwierigkeiten brachte, beschloß Präsident John F. Kennedy 1961, Südvietnam mit Militärberatern und Spezialeinheiten zu unterstützen. Kennedy war wie Truman und Roosevelt Demokrat. Der Sieg Mao Zedongs im chinesischen Bürgerkrieg hatte in den USA in den fünziger Jahren eine heftige Debatte ausgelöst, in der die Republikaner die Demokraten beschuldigten, durch ihre kommunistenfreundliche Politik für den „Verlust“ Chinas verantwortlich zu sein. Die demokratische Kennedy-Administration wollte sich daher auf keinen Fall dem Vorwurf aussetzen, nun auch noch den „Verlust“ Südvietnams zu verursachen.

Amerika hoffte auf eine „Abnutzung“ der Vietcong

Die amerikanische Militärhilfe für Südvietnam zeigte nicht die gewünschte Wirkung, der Vietcong wurde immer stärker, er verfügte 1963 bereits über 40.000 Kämpfer. Anfang November 1963 wurde mit Billigung des CIA Präsident Diem von südvietnamesischen Offizieren ermordet, aber die nachfolgenden Regierungen brachten dem Land keine politische Stabilität. Um eine völlige Niederlage Südvietnams abzuwenden, mußten die USA zunehmend mit eigenen Kampfverbänden intervenieren, die amerikanische Truppenstärke wuchs von 15.000 Mann im Jahre 1963 auf 535.000 Mann 1968. Die Amerikaner hofften, den Vietcong und die Einheiten der nordvietnamesischen Armee, die zunehmend den Süden infiltrierten, durch den Einsatz ihrer ungeheuren Feuerkraft allmählich „abnutzen“ zu können. Seit dem Februar 1965 griff die US-Air Force auch Ziele in Nordvietnam an. Die amerikanische Luftwaffe sollte über Vietnam ein Mehrfaches der Bombenmenge abwerfen wie im Zweiten Weltkrieg und ganze Landstriche in Mondlandschaften verwandeln. Aber der erwünschte Erfolg wollte sich nicht einstellen, die Kampfkraft des Vietcong schien ungebrochen. Die Gründe dafür sind leicht nachzuvollziehen. Menschen waren in Vietnam aufgrund der hohen Geburtenrate in Fülle vorhanden, Waffen und Munition kamen in nahezu unbeschränkten Mengen aus der Sowjetunion und China, Verluste spielten für die vietnamesischen Kommunisten daher keine große Rolle. Ganz anders als die Vereinigten Staaten mußte Nordvietnam aufgrund seines totalitären Systems auf die Meinung der eigenen Bevölkerung keinerlei Rücksicht nehmen. Trotz massiver Flächenbombardements gelang es den Amerikanern nie, den Nachschub über den „Ho Chi Minh-Pfad“, ein System von Dschungelstraßen, zu unterbrechen.

Einen Angriff auf Nordvietnam mit Bodentruppen wollte die amerikanische Führung nicht riskieren, da dies mit großer Wahrscheinlichkeit zu einer militärischen Konfrontation mit China geführt hätte. In Nordvietnam standen 300 000 Mann chinesischer Truppen, die dort unter anderem die Luftabwehr in den Händen hatten. China besaß seit 1965 die Atombombe, weshalb die amerikanische Regierung einem direkten Konflikt unter allen Umständen aus dem Wege gehen wollte. Um die Jahreswende 1967/68 schien die amerikanische Abnutzungsstrategie gegen die kommunistischen Guerillas endlich Erfolg zu haben, aber Ende Januar 1968 begann die sogenannte „Tet-Offensive“, mit der der Vietcong, unterstützt von regulären Einheiten der nordvietnamesischen Armee, die amerikanischen und südvietnamesischen Truppen zeitweise in schwere Bedrängnis brachte. Zwar konnte die „Tet-Offensive“ schließlich an allen Frontabschnitten zurückgeschlagen werden, aber in der amerikanischen Öffentlichkeit hinterließen die Ereignisse einen verheerenden Eindruck.

Der Krieg wurde von beiden Seiten unter völliger Nichtachtung der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention geführt. Da die amerikanischen Medien, vor allem das Fernsehen, über Völkerrechtsverletzungen der eigenen Truppe in großer Aufmachung berichteten, bildete sich in den USA eine breite Opposition gegen das amerikanische Engagement in Vietnam. Die „Tet-Offensive“ war für die amerikanische Vietnampolitik ein derartiges Debakel, daß Präsident Lyndon B. Johnson auf seine Wiederwahl verzichtete. Sein Nachfolger, Richard M. Nixon, gewann die Wahlen mit dem Versprechen, das Vietnam-Abenteuer zu beenden und gleichzeitig das amerikanische Prestige zu wahren. Diese Aufgabe sollte sich als unlösbar erweisen.

Washington begann damit, die amerikanischen Streitkräfte aus Vietnam abzuziehen und parallel dazu immer mehr Kampfaufgaben der südvietnamesischen Armee zu übertragen. Gleichzeitig nahmen die Vereinigten Staaten Waffenstillstandsverhandlungen mit Nordvietnam auf. Diese Gespräche sollten die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, denn Hanoi war mehr an Propaganda als an substantiellen Zugeständnissen interessiert. Schließlich versuchte Nixon es sogar mit einer Verbesserung des Verhältnisses zu China. Da sich das sowjetisch-chinesische Verhältnis Ende der sechziger Jahre dramatisch verschlechtert hatte, zeigte die amerkanische Annäherung an Peking Erfolg. Aber auch dies konnte das Debakel in Vietnam nicht mehr aufhalten. Peking war nicht willens, Hanoi zu zwingen, einen Frieden zu amerikanischen Bedingungen anzunehmen, und Moskau lieferte Nordvietnam mehr Waffen denn je. Die südvietnamesische Armee konnte sich gegen die regulären nordvietnamesischen Truppen nur solange halten, als sie die massive Unterstützung der amerikanischen Luftwaffe besaß. Als jedoch auch die US-Air Force nach und nach aus Vietnam abgezogen wurde, brach der südvietnamesische Widerstand Stück für Stück zusammen. Mit der Kapitulation Saigons am 30. April 1975 endete der Krieg, Vietnam wurde unter kommunistischen Vorzeichen wiedervereinigt.

Das militärische Engagement der Amerikaner in Vietnam zielte vordergründig auf die Aufrechterhaltung des Status quo in Südostasien, in seinem Kern aber auf die Eindämmung der Volksrepublik China. Nordvietnam kämpfte faktisch als Stellvertreter Chinas und genoß dessen uneingeschränkte Unterstützung. Da der Vietnamkrieg gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit dem Weltkommunismus war, dessen Führung die Sowjetunion beanspruchte, engagierte sich auch Moskau in dem Konflikt und trug mit seinen Waffenlieferungen entscheidend zum Sieg der vietnamesischen Kommunisten bei. Die Amerikaner befanden sich politisch immer in der Defensive, und die amerikanische Öffentlichkeit brachte angesichts der eigenen Verluste nicht die notwendige Geduld auf, um diesen Krieg vielleicht doch noch mit einem Patt zu beenden. Die amerikanischen Verluste betrugen 47.000 Gefallene gegenüber 400.000 Toten der südvietnamesischen Armee und mehr als eine Million Gefallenen des Vietcong und der nordvietnamesischen Armee. Außerdem kamen durch Kampfhandlungen und Luftangriffe etwa zwei Millionen Zivilisten ums Leben. Für die kommunistische Führung Nordvietnams waren diese Menschenopfer bedeutungslos.

Der gegenwärtige Konflikt in Afghanistan hat ganz andere politische Voraussetzungen als der Vietnamkrieg und ist auch von einer sehr viel kleineren Größenordnung. Die Taliban, ursprünglich ein Geschöpf des pakistanischen Geheimdienstes ISI, haben die Unterstützung Islamabads verloren und sind derzeit völlig isoliert. Moskau und Peking haben sich aufgrund ihres Interesses, eine Ausbreitung des islamischen Fundamentalismus zu verhindern, dem amerikanischen Bündnis für den „Krieg gegen den Terrorismus“ angeschlossen. Ohne äußere Unterstützung können die Taliban, ihre Überreste oder irgendwelche Nachfolger, einen Guerillakrieg nur mit geringer Intensität führen. Falls die Amerikaner sich aber dazu entschließen sollten, in Afghanistan dauerhaft militärische Stützpunkte zu errichten und Truppen zu stationieren, um von dort aus eine Kontrolle über die Gas- und Ölreserven Zentralasiens zu gewinnen, dann könnte sich die Interessenlage Rußlands und Chinas ändern.

Das amerikanische Heer könnte überfordert sein

Die Führer der Organisation al-Quaida, Osama bin Laden und Aiman al Zawahiri, streben, folgt man ihren Erklärungen, die Herbeiführung einer islamischen Revolution in Pakistan, Saudi Arabien und Ägypten an. Sollten sie damit in einem oder mehreren dieser Länder Erfolg haben, dann wären die Vereinigten Staaten gezwungen, mit Bodentruppen zu intervenieren, und zwar in einer Zahl, die das kleine amerikanische Berufsheer (es umfaßt derzeit kaum mehr als 250.000 Mann) rasch überfordern könnte. Eine amerikanische Wehrpflichtarmee in einem bevölkerungsreichen Land, das von Revolution und Bürgerkrieg erschüttert wird - unter diesen Umständen könnten die Gespenster von Vietnam wieder zum Leben erwachen.

 

Dr. Walter Post ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er lebt als freier Publizist in München. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. Herausgeber von „Pearl Harbor 1941. Eine Amerikanische Tragödie“ (Herbig).


 
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