© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/01 14. Dezember 2001

 
Die Polarität der Geschlechter
Zum hundertsten Geburtstag der US-amerikanischen Anthropologin Margaret Mead
Ellen Kositza

Haben wir die Männer übermäßig domestiziert, ihnen ihre natürliche Abenteuerlust genommen und sie an Maschinen gefesselt, die schließlich nichts anderes sind als glorifizierte Spindeln, Webstühle, Mörser, Stößel und Grabstöcke, alles einst Werkzeuge der Frauenarbeit? Haben wir die Frauen von ihrer natürlichen Nähe zu ihren Kindern abgeschnitten und ihnen beigebracht, nach einem Beruf zu streben statt nach der Berührung einer Kinderhand, nach einer Stellung in einer wettbewerbsgeprägten Welt statt nach dem einzigartigen Platz am glühenden Herdfeuer?“ Mit diesen Fragen läßt Margaret Mead ihr 1949 erschienenes Buch „Mann und Weib“ beginnen, einen Meilenstein der modernen Anthropologie und eine in Teilen hochaktuelle soziologische Ausarbeitung über Fragen männlicher und weiblicher Identität. Neben „Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften“ (1935) und „Kindheit und Jugend in Samoa“ (1928) zählt ihre Studie über „Das Verhältnis der Geschlechter in einer sich wandelnden Welt“, so der Untertitel zu „Mann und Weib“, zu den vielgelesenen Hauptwerken der amerikanischen Kulturanthropologin. Am 16. Dezember wäre Margaret Mead, eine der weiblichen Pioniere auf dem Gebiet der Sozialwissenschaften, hundert Jahre alt geworden.

In Philadelphia, Pennsylvania, als Tochter einer Intellektuellenfamilie geboren, wurde sie als 24jährige von ihrem akademischen Lehrer Franz Boas 1925 erstmals alleine nach Samoa geschickt. Während ihres neunmonatigen Aufenthalts dort untersuchte sie vor allem die Adoleszenz heranwachsender Mädchen, ihr Alltagsleben, rituelle Feiern und ihre Initiation. In den folgenden Jahren erforschte Mead sechs weitere sogenannte Primitivkulturen in der Südsee, lehrte an der Columbia Universität in New York und arbeitete dort fast vier Jahrzehnte im Museum für Naturgeschichte.

Was ihre weitgehende Idealisierung der Südseevölker angeht, gelten ihre Forschungen, vor allem durch einen vom neuseeländischen Anthropologen Derek Freeman angeschobenen, ebenfalls wissenschaftlich nicht astrein fundierten Pressefeldzug im Jahre 1983, als überholt. Gewiß, die junge Wissenschaftlerin forschte stets subjektiv, unterlegte ihren Untersuchungen stets einen Filter eigener Intention, vereinfachte Beobachtungen und Resultate, und ihren Ruhm verdankt sie auch dem eher populärwissenschaftlichen Stil ihrer Bücher. Zeitlos aktuell jedoch sind ihre Überlegungen zur Polarität der Geschlechter, die sie während ihrer Studien in unterschiedlichsten Ausformungen und mit verschiedenen Rollenzuweisungen, doch stets ausgeprägt, erfuhr.

Als eine der Essenzen ihrer Forschungen auf Bali, Samoa und Neuguinea hob sie den Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern als wichtigste Bedingung, aus denen sich die Vielfalt menschlicher Kulturen entwickeln konnte und die dem menschlichen Wesen Form verleihen, hervor. „Was für Verschiedenheiten der Funktionen, der Fähigkeiten, des Empfindungsvermögens, der Verletzlichkeit entstehen dadurch, daß die Körper für komplementäre Rollen bei der Fortpflanzung der Gattung geschaffen sind? Wie hängt das, was der Mann leisten kann, mit der Tatsache zusammen, daß seine reproduktive Rolle mit einem einzigen Akt vorüber ist; wie die Möglichkeiten der Frau damit, daß der reproduktive Anteil der Frauen neun Monate Schwangerschaft und, bis vor kurzem, viele Monate des Stillens umfaßt? Welches ist der Beitrag jedes Geschlechts in seiner Eigenart, nicht als unvollkommene Version des anderen gesehen? Es kann uns, die wir bekleidet und eingehüllt in der modernen Welt leben und gezwungen sind, unser Körpergefühl auf dem Umweg über abgelegene Symbole wie Spazierstöcke, Regenschirme und Handtaschen, auszudrücken, leicht widerfahren, daß wir den Blick auf die Unmittelbarkeit des menschlichen Körperbauplans verlieren.“

Mit ihren amerikanischen Landsleuten und deren unsinnlicher, jeglicher Traditionalität enthobener Lebensweise ging Mead hart ins Gericht. Genüßlich liest man heute ihre Auslassungen über die Rollenverteilung in der US-Mittelstandsfamilie: Anklagend, fast zynisch beschreibt sie die adrette Hausfrau, nach dem Ausverkauf der Großfamilie isoliert im weißgetünchten Heim existierend, deren weibliche Bestimmung in reinlichen Wohnräumen, wo Menschen nur zu leben meinen, und in der farblichen Abgestimmtheit des Handgriffs am Schneebesen mit der Haushaltstrittleiter ihren Ausdruck findet. Demgegenüber der versorgte Familienvater, der es aufgeben durfte, sich als Mann zu beweisen.

Als ebenfalls symptomatisch für die zwischenmenschlich funktional ausgerichtete US-Mentalität beschreibt Mead die Irritation, die während des Krieges bei europäischen Soldaten der oberflächliche Kameradschaftsbegriff der GIs auslöste, ebenso wie das bis heute bestehende Phänomen des unverbindlichen „Datings“, der zutiefst unsinnlichen, durch klare Verhaltenskodizes eingegrenzten Verbredungsform unverheirateter Paare.

Die dynamische, abenteuerlustige Vielschreiberin und gefragte Vortragsrednerin reagierte auf die sich ändernden Vorzeichen in der Zeit, die sie erlebte, fand sich zu flammenden Plädoyers gegen die fatale Vermännlichung der Frauen und gegen die vielfach manipulierenden Auswirkungen der Pille bereit. Ihre Agitation gegen die vorrangig noch theoretisch manifestierte Frauenemanzipation revidierte, besser: präzisierte sie an dem Punkt, als erkennbar wurde, daß die praktizierte Gegenposition zur aufgeklärten, kinderlosen Mannfrau die gesichtslose Vorstadthausfrau war, die ihr Kind in gleichsam anonymer Umgebung im chemisch desinfizierten Kreißsaal zur Welt brachte, es im günstigen Fall an die sorgsam sterilisierte Brust legte, meist jedoch zu Babyflasche, Industrienahrung und Meßskala griff, um das kosmetisch durch Luxus-Cremes versorgte Neugeborene ins weichgespülte Bettzeug zu legen. Derart, so Mead, würden Erfahrungen der frühen Kindheit durch Substitute geprägt. Wenn solcherart großgezogene Jungen „später als Soldaten nach Übersee gehen, werden Fremde, die sich über die Moral der Amerikaner Gedanken machen, mit Verwunderung feststellen, daß das Allerwichtigste für sie (...) Coca-Cola und andere vergleichbare amerikanische Nahrungsmittel sind“.

Ihr Buch „Mann und Weib“, ein Plädoyer für essentielle Weiblichkeit wie Männlichkeit, läßt sich als Gegenstück lesen zum im gleichen Jahr erschienenen hochemanzipatorischen Werk Simone de Beauvoirs, die in „Das andere Geschlecht“ die Frau als von Natur aus minderwertige und anatomisch gefesselte Kreatur empfand, die sich aus biologischen Zwängen befreien müßte, um Mensch zu werden. Dabei seien es die Frauen, die kraft ihrer Fähigkeit, Kinder hervorzubringen, die Geheimnisse des Lebens bewahren. Die Rolle des Mannes dagegen sei „ungewiß, undefinierbar und vielleicht unnötig“.

Bleibt als Wahrheit - und hier spricht Mead das Grundthema des in der Südsee erfahrenen Initiationskultes primitiver Kulturen an - : „Frauen (...) machen menschliche Wesen, aber nur Männer können Männer machen.“

Mead heiratete dreimal - stets wissenschaftliche Kollegen - und ließ sich dreimal, meist in erbitterter Feindschaft, scheiden, aus ihrer letzten Ehe mit Gregory Bateson entstammt eine Tochter.

1944 nahm Mead - wobei ihre Rolle und Bedeutung hierbei unklar sind - im wissenschaftlichen Beirat an einer geheimen Konferenz der amerikanischen Kriegsmacht teil, in der die kulturellen und politisch-psychologischen Eckpunkte der zivilen Besatzungsherrschaft ausgearbeitet wurden. Resultat dieser Beratungen war die Re-education, die geistige Umerziehung Deutschlands, mithin Europas, durch Überwindung der „undemokratischen“, nationalitätsspezifischen Mentalitäten: Dasjenige Vorhaben also, welches sich letztlich gegenüber dem zunächst favorisierten „Morgenthau-Plan“ durchsetzte.

Am 15. November 1978 erlag Margaret Mead in New York einem Krebsleiden.

Margaret Mead: Die Anthropologin spricht 1953 auf den zu Papua-Neuguinea gehörenden Admiralitätsinseln mit einer Manus-Mutter und deren Kind. Die Aufnahme stammt aus ihrem Buch „New Lives for Old“.


 
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