© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Die Grenzen der Erkenntnis
Vom dunklen Hintergrund der Welt: Zum hundertsten Geburtstag des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg
Günter Zehm

In der Beschränkung zeigt sich die Größe. Nur wer seine Grenzen erkennt, gewinnt volle Gestalt. Das gilt für einzelne wie für Gemeinschaften oder Epochen oder Projekte.

Indem Werner Heisenberg, der vor hundert Jahren, am 5. Dezember 1901, in München geborene Physiker, Philosoph und Schriftsteller, in glorioser Weise die Grenzen menschlicher Naturerkenntnis markierte und definierte, machte er zum ersten Mal die ganze ungeheure Dimension und Großartigkeit dieses Projekts „Naturerkenntnis“ bewußt. Was einst bei Thales von Milet und Demokrit von Abdera als noch unsicher tastende Anfangskadenz angeschlagen wurde, das fand im zwanzigsten Jahrhundert bei Heisenberg seinen monumentalen Schlußakkord. Seitdem wissen wir (nicht, was die Natur „ist“, aber immerhin) wie die Natur „klingt“.

„Unbestimmtheitsrelation“ hieß der Heisenbergsche Schlußakkord. Er war die Krönung einer ausgedehnten Coda von physikalischen Einsichten, die von Männern wie Planck und Einstein, Maxwell, Bohr und Schrödinger geschaffen worden war, und gab der seit Jahrhunderten waltenden Generaltendenz der Naturwissenschaft eine dramatische, paradoxe Wendung.

Seit Demokrit war es dominierendes Motiv der Wissenschaftler gewesen, der Kraft und Zuverlässigkeit der menschlichen Sinnlichkeit zu mißtrauen und unseren Wahrnehmungs- und Anschauungsapparat gleichsam zu durchbrechen, ihn in Richtung einer „Hinterwelt“ zu erweitern. Heisenberg nun trieb die Tendenz in jederlei Hinsicht auf die Spitze - und brach ihr dadurch die Spitze ab. Darin besteht seine Originalität, daraus ergibt sich seine epochemachende Wirkung.

Er war Atomphysiker und strebte wie alle seine Kollegen danach, sämtliche unseren Sinnen und unseren Experimenten zugänglichen Phänomene auf atomare Vorgänge zurückzuführen, die in einfachen mathematischen Formeln niedergelegt werden konnten. Die Methode funktionierte sehr gut und ermöglichte viele technische Fortschritte, gleichzeitig aber führte sie in immer höhere Abstraktionen und Formelwelten, die sich der wissenschaftlichen Grundmethode, mit der alle Forschung angetreten war und weiter antritt, nämlich der empirischen Beobachtung, zunehmend entzogen. Vielen, auch genialen Physikern des zwanzigsten Jahrhunderts machte das kaum noch etwas aus, der junge Heisenberg aber stutzte darüber und litt darunter.

Es bereitete ihm Pein, daß die atomaren Vorgänge zwar durch die außerordentliche Verfeinerung der experimentellen Technik zuverlässig registriert werden konnten, doch in keiner Weise mehr Gegenstand unserer unmittelbaren sinnlichen Anschauung waren. „Die Naturwissenschaft“, so klagte er, „handelt nicht von der Welt, die sich uns unmittelbar darbietet, sondern von einem dunklen Hintergrund dieser Welt, den wir durch unsere Experimente ans Licht bringen. Diese ’objektive‘ Welt wird also durch unseren Eingriff erst hervorgebracht, und insofern stoßen wir hier an die unüberschreitbaren Grenzen der menschlichen Erkenntnis.“

Wo genau lagen diese Grenzen? Diese Frage wurde zur Lebens- und Existenzfrage des jungen Heisenberg. Er machte sich klar, daß die inneratomaren „Teilchen“ - entgegen der herkömmlichen Ansicht - keineswegs unendlich verkleinerte „Stücke“ prinzipiell sinnlich wahrnehmbarer Materie waren, sondern es waren, erkannte er, „Teilchen ohne Eigenschaften“. Nicht einmal geometrische Eigenschaften, Raumfüllung, Ort und Bewegung, konnten ihnen zugesprochen werden. Heisenberg bewies, daß der Grad der Anwendbarkeit geometrischer Begriffe auf atomare Teilchen abhängig ist von den Experimenten, die wir an ihnen vornehmen. Dafür bekam er später den Nobelpreis.

Zwar lassen sich die Experimente ausführen, die uns erlauben, den Ort eines Teilchens mit großer Genauigkeit festzustellen, aber bei dieser Messung muß das Teilchen einer so starken äußeren Einwirkung ausgesetzt werden, daß eine große Unbestimmtheit seiner Geschwindigkeit die Folge ist. Die Natur entzieht sich also der genauen Festlegung durch unsere mathematischen Messungen. Die menschliche Beobachtung ist in jedem Falle eine „Störung“ der beobachteten Phänomene, d. h. es gibt nicht jenen „objektiven“ Blick auf die Natur, der das Ideal jeglicher Wissenschaft seit Anbeginn gewesen ist.

Dies heißt nun freilich nicht, daß die Wissenschaft in irgendeinem Sinne überflüssig würde oder auch nur an Würde verlöre, im Gegenteil, sie erhält durch Heisenberg endlich wieder ihren sinnlichen Glanz zurück, jene existentielle Interessantheit für jedermann, die sie in früheren (man könnte in Anspielung auf Goethes Farbenlehre auch sagen: „goetheschen“) Zeiten gehabt hat. Das Eingedenken ihrer Begrenztheit, die Eliminierung der „Hinterwelt“ als Gegenstand seriöser Forschung, die Einsicht, daß jede bloße Formel, auf die Spitze der Abstraktion getrieben, sich letzten Endes in den Schwanz beißt und in Widersprüchen bzw. im Nichts endet, eröffnet der Wissenschaft die Chance, sich gewissermaßen zu literarisieren, sich auf konkrete Sprachspiele einzulassen, die alte, oft beklagte Kluft zwischen Natur und Geist sorgfältig einzuebnen.

Auch dafür liefert Heisenberg das lebendigste Beispiel. Er war nicht nur ein Meister der Formeln und Gleichungen, sondern gleichermaßen ein Meister der Sprache, des plastischen Ausdrucks, der treffenden Formulierung. Der deutschen und europäischen Geistestradition liebend zugetan, war er ein Patriot und Praktiker, der sich nie vom Leben der Nation abkapselte, ihr stets dienend zugewandt blieb und sich um ihre Institutionen Gedanken machte. Als er 1976 in München verstarb, war das ein tiefer, bitterer Einschnitt ins deutsche Geistesleben; es hat seither nicht mehr seinesgleichen gegeben.

Bis zuletzt trieb ihn die Sorge um, die Wissenschaft könnte „entarten“, sich gegen den Menschen und dessen Lebensinteressen wenden. Er sah voraus, daß die Biologie die Physik als Leitwissenschaft im kommenden Jahrhundert ersetzen würde, und riet deshalb zu doppelter Vorsicht.

„In der Tat werden wir gerne glauben“, so schrieb er in seinem großartigen Essay über „Die Goethesche und die Newtonsche Farbenlehre“, „daß die Naturwissenschaft dort, wo sie sich nicht mehr der leblosen, sondern der belebten Materie zuwendet, immer vorsichtiger werden muß mit den Eingriffen, die sie zum Zwecke der Erkenntnis an der Natur vornimmt. Je weiter wir unseren Wunsch nach Erkenntnis auf die höheren, auch die geistigen Bereiche des Lebens richten, desto mehr werden wir uns mit einer nur aufnehmenden, betrachtenden Untersuchung begnügen müssen.“

 

Werner Heisenberg (1901-1976): Der deutsche Physiker würdigt am 14. Mai 1958 im Münchner Maxi-milians-Gymnasium das Leben und Wirken von Max Planck. Beide waren dort Schüler.


 
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