© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Erstrahlt im neuen Glanze
Nach dreijähriger Sanierungs- und Umbauphase ist die Alte Nationalgalerie wieder zugänglich
Wolfgang Saur

Endlich! Es ist soweit, der Kunstschrein öffnet wieder seine Pforten. Nach drei Jahren der Sanierung und des Umbaus und im 125. Jahr ihrer Gründung ist die Alte Nationalgalerie zu Berlin seit dem 4. Dezember dem Publikum wieder zugänglich. Seit der kriegsbedingten Schließung 1939 sind damit erstmals wieder die Bestände aus Ost und West vereint. Mit einem Kostenaufwand von 133,5 Millionen Mark wurde so das erste Projekt des zehnjährigen Masterplans für die Museumsinsel, dem „größten Kulturbauprojekt der Welt“ (Nida-Rümelin), erfolgreich abgeschlossen.

Die Nationalgalerie als historisch drittes Gebäude dieses den Weltkulturen gewidmeten Ensembles, zwischen 1865-76 von Stüler und Strack erbaut, intendierte zunächst die ästhetische Vergegenwärtigung der Kulturnation in Ermangelung der staatlichen, als noch während der Bauzeit die politische Einheit als gleichsam „innnerweltliche Erlösung“ (Stürmer) Deutschland zufiel. Auf dies Ereignis nimmt auch die Inschrift „Der Deutschen Kunst 1871“ des Architravs Bezug. Die Nationalgalerie sollte zudem die künstlerische Gegenwart würdigen. Beide Aspekte konstellierten eine „Streitkultur“, die später zwischen den disparaten ästhetischen Konzepten der Direktoren und der von Anton von Werner, dem offiziösen Hofmaler, angeführten Partei ausgetragen wurde. Konservative Skepsis wandte sich gegen naturalistische wie impressionistische Strömungen, welchen es an „nationalem, literarischem und erbaulichem Gehalt” fehle. Der Konflikt bezog sich also auf die institutionelle Funktion, die ästhetische Automiefrage und die Rezeptionshaltung.

Doch war der Sammlung von Anfang an eine transnationale Tendenz einbeschrieben. Diese Tradition gründete im Vermächtnis des Konsul Wagener, der seine Privatsammlung von 262 Bildern dem preußischen Staat für eine zu errichtende Nationalgalerie hinterließ (1861). Seine zeitgenössische Kollektion umfaßte auch Franzosen und Belgier.

Peter-Klaus Schuster, heutiger Direktor der Nationalgalerie und Generaldirektor der Staatlichen Museen, hebt die überragende Bedeutung der beiden Malgenies Caspar David Friedrich (1774-1840) und Adolph Menzel (1815-1905) für ihr Jahrhundert hervor. Doch muß dem Paar ein dritter zugesellt werden, der Gründern und gebildetem Publikum als der Gegenstand ästhetischer Verehrung schlechthin galt: Peter Cornelius (1783-1867). Der dem christlichen Nazarenerkreis entstammende, idealistische Linienkünstler galt seinen Zeitgenossen als „deutscher Raffael“. Folglich bildeten die ästhetische Andacht seiner Person und die Präsentation seiner berühmten Kartons das konzeptionelle Herzstück der Galerie, die Max Jordan, ihr erster Direktor bis 1896, am 21. März 1876 mit 391 Gemälden, 85 Kartons und Zeichnungen und 16 Plastiken eröffnete. Sein Nachfolger wurde (1896-1909) Hugo von Tschudi, der sich für den internationalen Naturalismus und vor allem für die französischen Impressionisten und Postimpressionisten einsetzte und diese Neuerwerbungen mit den heterogenen Bestandteilen der bürgerlichen Genrekunst Wageners, dem spätromantischen Figuralstil der Fresken und Kartons und den patriotischen Militärbildern vereinbaren mußte. Die Nationalgalerie wurde so das erste europäische Museum, das seit 1896 Manet, Renoir, Monet, Degas, Cézanne, Pissarro, Sisley und van Gogh aufnahm.

Tschudis Nachfolger von 1909 bis 1933, Ludwig Justi, engagierte sich besonders für den deutschen Expressionismus. Dafür konnte 1919 das Kronprinzenpalais gewonnen werden. Dies setzte sich nach 1945 fort mit der Neuen Nationalgalerie Mies van der Rohes, heute Sitz der klassischen Moderne und dem Hamburger Bahnhof als Ort für die zeitgenössische Avantgarde, wodurch drei Abteilungen entstanden sind. So ist die „alte“ Nationalgalerie, ursprünglich Hort der deutschen Kunst, dann auf die europäische Gegenwartskunst erweitert, zu einem Haus des 19. Jahrhunderts geworden, ähnlich der Hamburger Kunsthalle oder der Pinakothek in München.

Aber welch ein Jahrhundert! „Reich an Eigenschaften und Ereignissen; gesegnet mit Erkenntnissen und mit Leistungen riesigen Formats; beladen mit Problematik, unerlöster Sehnsucht; düster und glanzvoll, erdenschwer bei aller kühnen Gespanntheit des Geistes; brutal bei aller sittlichen Empfindlichkeit; rührend ungenügend bei allem technischen Können; fragmentarisch, genial vorwegnehmend, in die Zukunft weisend, reich an Widersprüchen, Niederlagen und Triumphen, reich an geistig-moralischen Aufschwüngen und abstoßend durch Habgier, Materialismus...; heroisch in der Selbstkritik; das Gesicht des Planeten und das Lebensgefühl der Menschheit phantastisch verändernd: so geht das große 19. Jahrhundert in die Geschichte ein.“ (Klaus Mann) Ein Jahrhundert als „bürgerliches Heldenleben“!

Diese monströse Komplexität des „langen 19. Jahrhunderts“ ist notwendig auch in seiner Kunst reflektiert, und so wird ein Gang durch die Nationalgalerie zur Besichtigung ihres Jahrhunderts, seiner Mentalitäten, Ereignisse und Themen, seiner ästhetischen Programme, Stile und Genies. Wir erleben den radikalen Kreativitätsanspruch der Romantiker an den Innenraumbildern Kerstings, deren formal umgesetzte kontemplative Stille und asketische Versenkung den privaten Ort als Ursprung schöpferischer Kräfte erweisen. Allgegenwärtig bleibt die Italien-Sehnsucht, so wie die Leidenschaft für die Geschichte ein ganzes Jahrhundert prägte. Die Historienmaler inszenierten die Lust am Theatralischen. Das Lützowsche Corps erinnert an die Befreiungskriege, die altdeutsche Symbolik Friedrichs dagegen an Restauration und Demagogenverfolgung. Menzels „Eisenwalzwerk“ (1875) thematisiert die industrielle Revolution und Uhdes naturalistisches „Tischgebet“ (1885) einen Christus der Armen. Spannend die Wandlungen und Spielarten des Realismus bis hin zum Anspruch der Impressionisten, Wahrnehmung ästhetisch neu zu begründen und nicht das zeitlose Wesen der Dinge, sondern den Wechsel ihrer Erscheinungsformen zu privilegieren. Besondere Magie eignet Werken, deren phantastische Motivik und traumartige Stilisierung auf eine überraschende Vorwegnahme des Surrealismus hindeuten. Faszinierend schließlich das Studium der Künstlerporträts selbst mit ihrer phänomenalen Spannweite: So greift Böcklin im Selbstbild mit „fiedelndem Tod“ (1872) tragisch-faustisch auf das alte Memento-Mori-Motiv zurück, tritt hingegen im Porträt „mit Weinglas“ (1885) als selbstbewußter, beleibter Bourgeois auf; dazwischen Menzel mit düsterer Ibsenmine und schließlich der sich als Renaissancemensch monumentalisierende Stuck.

Der stilgeschichtliche Rundgang führt nun von der Goethezeit und Romantik des Dachgeschosses hinunter bis zu den Sezessionisten der Jahrhundertwende in den exquisiten Jugendstilräumen Justis auf der Belle Étage. Den Auftakt bilden, als Inkunabel des christlichen Idealismus, die Josephsfresken aus der Casa Bartholdy in Rom (Overbeck, Cornelius, 1816/17). Empfängt die Alte Nationalgalerie den Besucher unten mit Schadows legendärer Statue der Prinzessinnen (1797), so bewundert man in der 3. Etage sein eben restauriertes, 1788-90 für den Grafen Alexander von der Mark gestaltetes Grabmal. Unter einer gewaltigen Marmornische, in der die Parzen über das menschliche Schicksal rätseln, liegt der Junge anmutig auf einem reliefgeschmückten Sarkophag, indes feierliche Girlanden seinen Schlaf umkränzen. Die Sensation freilich bilden derzeit die beiden, durch Ausbau der Lichtschächte neu entstandenen Räume, jetzt ausschließlich Schinkel und Friedrich gewidmet.

Wir steigen durchs riesige Treppenhaus, vorbei am kolossalen „Gastmahl“ (1874) Feuerbachs, und betreten auf der mittleren Ebene durch die rekonstruierte Rotunde mit dem neubarock-wilhelminischen Figurenschmuck von Reinhold Begas den ersten der früheren Cornelius-Säle, dessen Oktogon die Werke der Deutsch-Römer Feuerbach, Marées und Böcklin füllt. An der Stirnseite die herrliche Berliner Fassung der „Toteninsel“, mit welcher Böcklin die künstlerische Chiffre des Fin-de-siècle gelang.

Im anschließenden Impressionisten-Saal flaniert man an den malerischen Ikonen der Frühmoderne entlang und ermißt vor den Rodinschen Schlüsselwerken des „ehernen Zeitalters“ (1876) und des „Denkers“ (1883) noch einmal den neuzeitlichen Bogen der Kunst.

Der im Treppenhaus umlaufende monumentale Figurenfries Otto Geyers gibt nicht bloß ein deutsches Panorama von den Germanen bis zur Gegenwart, sondern beschwört auch unseren Kulturföderalismus. Das erste Ausstellungsgeschoß rückt dann vor allem umfassend das Genie Menzels ins Zentrum. Hier lassen sich vor Ort seine frühimpressionistischen Genrebilder, die Preußen-Bilder oder seine malerische Auseinandersetzung mit der Zeit studieren, wie im formal ungeheuren „Ballsouper“ (1878), das ikonographisch und stilistisch in einem faszinierenden Kontrast steht zu Werners „Hofball“ (1895). Mit Segantinis symbolistischem Meisterwerk „Rückkehr zur Heimat“ (1895) und dem skizzenhaften Farbauftrag der Werke von Slevogt und Corinth betritt man schließlich die eigentliche Moderne.

Diese entfaltete sich zunehmend in transnationalen Vernetzungen. Das entspricht der ursprünglichen Universalität des deutschen Geistes, vergißt man über dem aktuellen Weltpanorama nur nicht die legitimen eigenen Wurzeln und Traditionen. 


 
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