© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001

 
Er zog einen Revolver und schoß
Frankreich: Erstmals seit Jahrzehnten demonstrierten zehntausende Polizisten in Paris
Charles Brant

Von der allgegenwärtigen Gewalt und der Kaltblütigkeit derer, die sie begehen, überfordert, hat die französische Polizei wiederholt mit Demonstrationen auf ihre Notlage aufmerksam zu machen versucht. Momentan scheint es, als reichten die Versprechen des sozialistischen Innenministers nicht aus, die Wogen ihrer Wut zu glätten. In der vorletzten Novemberwoche gingen sie erneut zu Zehntausenden auf die Straße.

Am Abend des 19. Novembers hatte der französische Innenminister Daniel Vaillant mit Vertretern aller Polizeigewerkschaften Gespräche führen wollen. Allerdings zogen zwei Organisationen es vor, sich ihnen fernzuhalten. Gleichzeitig fand vor dem Kommissariat des neunten Pariser Arrondissement eine Kundgebung statt. Zum selben Zeitpunkt wurde in der Pariser Gegend ein Geldtransporter überfallen. Später in der Nacht schossen die Fahrzeuginsassen bei einer Verkehrskontrolle im Südwesten Frankreichs einen Gendarm an.

Seinen ersten Siedepunkt erreichte der Unmut der Polizisten am 16. Oktober, als bei einem Schußwechsel in Plésis-Trévise im Département Val-de-Marne zwei der zu Hilfe gerufenen Polizisten ums Leben kamen. Unter den Angreifern befand sich ein bekannter Straftäter, der kurz darauf von einem Richter wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Am Abend des 7. November erlitten zwei Polizisten in Saint-Ouen (Seine-Saint-Denise) Schußverletzungen - sie hatten in der Nähe des Pariser Flohmarkts einen unter Drogen stehenden Autofahrer kontrollieren wollen, als dieser einen 38er Revolver zog und schoß. Erst ein dritter Beamter, der den beiden angeschossenen Kollegen zu Hilfe kam, konnte den mehrfach vorbestraften 32jährigen illegalen Asylanten überwältigen. Seit Jahresbeginn wurden in ganz Frankreich sogar acht Polizisten im Dienst getötet.

Dem Problem zugrunde liegt ein unkontrollierter Anstieg der Gewalt und der Verunsicherung, der mit großen und kleinen Alltagsdramen einhergeht. Nicht nur die Zahl der Toten und Verwundeten ist es, die die Mißstände deutlich macht - es sind auch die Beleidigungen und die auf Polizei-, Feuerwehr- und Krankenwagen geworfenen Steine. In den Zügen und Bussen des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs kommt es zu Übergriffen - manchmal nur Drohungen, manchmal auch Gewaltanwendung - auf Reisende und Personal (über 2.000 Fälle wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gemeldet). Der Drogenhandel ist enorm angestiegen, und die Prostitution Minderjähriger wird vor allem in Paris mit Hilfe des Hotelgewerbes betrieben. Insgesamt herrscht in der Bevölkerung ein Gefühl völliger Ohnmacht, das durch die oft unverständlichen Entscheidungen der Justiz noch verschlimmert wird. Allerdings sind den Richtern selbst die Hände gebunden. Die derzeit gültigen Gesetze sind jugendlichen Wiederholungstätern gegenüber äußerst nachsichtig: Sie haben keine Strafen zu fürchten. Nach einem Gesetz, das die frühere Mitterand-Vertraute und heutige Sozialministerin Élisabeth Guigou als Justizministerin durchsetzte, ist jeder Verdächtige als unschuldig zu behandeln.

Mit philosophischen Floskeln verbrämt, hatten die linken „Gutmenschen“ jahrzehntelang nichts Besseres zu tun gehabt, als das „übertriebene“ Bemühen um Innere Sicherheit der „Rechten“ zu denunzieren. Sie eigneten sich die neo-marxistischen Axiome Michel Foucaults an und bekundeten ihr Mißfallen gegenüber der „Klassenjustiz“: „Überwachung ist Strafe“, hieß es. Der Slogan „CRS = SS“, der aus den 1968er Mai-Unruhen stammte, war lange das unausgesprochene Credo linker Kleingeister, die sich auf ihre Ablehnung jeder Ordnung etwas einbildeten. („CRS“ steht für „Compagnie rébublicaine de sureté“, die französische Bereitschaftspolizei.) Die jungen Amtsrichter stehen sämtlichst unter dem Einfluß dieses gefährlichen Unsinns - das Verständnis für den Verbrecher geht allen anderen Erwägungen vor.

Daß die Folgen des Kulturschocks, den die Masseneinwanderung auslöste, unterschätzt werden, ist ebenfalls der Linken zu verdanken. Die Einwanderung hat die Soziologie der französischen Städte, insbesondere ihrer Randzonen, auf den Kopf gestellt. In den rechtlosen Zonen, die sich dort rapide vermehren, herrscht das Gesetz der Banden: Drogenhandel, Schutzgelderpressung, die „rituelle Verbrennung“ von Autos, für die das elsässische Straßburg den Rekord hält - ganz zu schweigen von der islamistischen Agitation und der „Stadtguerilla“, die sie hervorgebracht hat. Von all diesen Problemen machen sich die politischen Verantwortlichen bislang nur ein vages Bild.

Der Ex-Sozialist und heutige „Linksnationalist“ Jean-Pierre Chevènement mag mehr Durchblick gehabt haben. Dennoch sind die Maßnahmen, die er in seiner Amtszeit als Innenminister ergriff, nichts als Augenwischerei. Die massive Rekrutierung von Polizisten und Hilfspolizisten aus den Reihen der Einwanderer hat lediglich bei den Kolumnisten der Tageszeitungen Libération und Le Monde Anklang gefunden.

In der Misere der französischen Polizei spiegelt sich die Lage des Landes: Sie ist eine Krise der Linksliberalen und ihrer Theorien. Im Moment machen einige selbst Linke Anstalten, ihre Haltung zu ändern, denn im Frühjahr 2002 sind Präsidentschaftswahlen! Die Meinungsumfragen in der Bevölkerung können sie dazu nur ermuntern. Manchmal meint man sogar, Front National-Chef Jean-Marie Le Pen aus ihren Mündern sprechen zu hören! Aber das Übel ist schon geschehen. Um die Gegebenheiten zu ändern, wie die Sozialisten vor zwanzig Jahren zu sagen pflegten, bedürfte es einer umfassenden Reform des Justizsystems, einer neuen strafrechtlichen Doktrin, eines Programms der öffentlichen Ordnung und einer neuen Politik der Inneren Sicherheit.

Die Milliarden, die der 51jährige frühere Biotechnologe Vaillant in den „Aktionsplan gegen die Gewalt“ stecken will, die Schaffung von dreitausend neuen Stellen, die die Stärke der Polizei landesweit auf 150.000 erhöht, die Bereitstellung kugelsicherer Westen können nicht auf einen Schlag den Schaden wettmachen, der Frankreichs Innerer Sicherheit in den letzten Jahrzehnten zugefügt wurde. Selbst die von der Polizeigewerkschaft Unsa-Police geforderten 20.000 zusätzlichen Polizeibeamten könnten die unhaltbaren Zustände in den „Ghettos“ der Vorstädte nicht beseitigen. Auch bei den dem Verteidigungsministerium unterstellten Gendarmen macht sich Unmut breit: per Internet oder Veteranenverbände, denn als Militärs dürfen sie nicht demonstrieren.

Der Notstand der Polizei und die steigende Kriminalität sind nur Symptome einer Krankheit, die die polis befallen hat: Sie hat die Bedeutung ihrer eigenen Gesetze verlernt. Nach der französischen Niederlage 1870 forderte Ernest Renan eine „intellektuelle und moralische Reform“. Vielleicht wäre es an der Zeit, daß die Franzosen wieder in dieser Richtung ihr Heil suchten.


 
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