© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/01 07. Dezember 2001


Bildung: Fünf minus
von Ellen Kositza

Deutschland ist bildungspolitisch ein Entwicklungsland. Eine bis 2006 angelegte OECD-Studie, die europaweit die Kenntnisse von 250.000 Schülern unter die Lupe nimmt, brachte nachdrücklich ans Licht, was Universitäten und Ausbilder längst beklagen: Lehre und Bildung werden kleingeschrieben an deutschen Schulen. Unter den 32 teilnehmenden Ländern rangieren unsere Schüler hinsichtlich Schreibfähigkeit und Auffassungsgabe abgeschlagen auf Platz 25. Das liegt nicht an grassierender Armut oder mangelhafter Ausstattung mit Computern und Internetzugängen, wie gerne behauptet wird, es dürfte auch weniger den als zu groß beklagten Klassen anzulasten sein. Das deutsche Schulwesen ist ein Haus mit marodem Dach und feuchtem Keller zugleich.

Nach dem Staatsexamen leitete ich ein Jahr lang eine Nachmittagsklasse an einer Gesamtschule, unterrichtete unter meinen 30 Schülern bisweilen 30 Ausländer. Die Lage war desolat: notorische Schulschwänzer, teilweise über Monate hinweg, Pausenkämpfe bis aufs Blut - zum Lernen blieb da wenig Raum, dergestalt, daß noch in der vierten Klasse Diktate vorher eingeübt werden mußten, und dennoch kein Schüler besser als Note drei bekam. Fließend einen Text vorlesen - undenkbar vor Klasse sechs. Und was wurde auf den Nachmittagskonferenzen im Lehrerzimmer diskutiert? Die nächste Projektwoche zum Thema „Fairständnis“ und wie eine moderate Handy-Nutzungserlaubnis in den Klassenräumen formuliert sein könnte. Das Thema Erziehung ist hier in seinem Kern getroffen. Ohne Erziehung kann selbst die elementarste Bildung nicht greifen.


 
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