© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/01 30. November 2001

 
Pankraz,
J.W. von Goethe und der bestialische Edelmann

Zitat aus Eckermanns „Gesprächen mit Goethe“, erster Band, Eintrag vom 9. Juli 1827 (Goethe spricht): „Ich erinnere mich eines Falles aus meiner früheren Zeit, wo es unter den Adelichen hin und wieder noch recht bestialische Herren gab, daß bei der Tafel in einer vorzüglichen Gesellschaft und in Anwesenheit von Frauen ein reicher Edelmann sehr massive Reden führte, zur Unbequemlichkeit und zum Ärgernis aller, die ihn hören mußten. Mit Worten war gegen ihn nichts auszurichten. Ein entschlossener ansehnlicher Herr, der ihm gegenüber saß, wählte daher ein anderes Mittel, indem er sehr laut eine grobe Unanständigkeit beging, worüber alle erschraken und jener Grobian mit, so daß er sich gedämpft fühlte und nicht wieder den Mund auftat. Das Gespräch nahm von diesem Augenblick an eine anmutige, heitere Wendung, zur Freude aller Anwesenden, und man wußte jenem entschlossenen Herrn für seine unerhörte Kühnheit vielen Dank in Erwägung der trefflichen Wirkung, die sie getan hatte.“

Der Fall ist in mehrfacher Hinsicht interessant. Es geht hier nicht nur um die Bestätigung der alten Volksweisheit „Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil“, sondern man lernt daraus auch und vor allem, daß eine Unterbrechung des Diskurses manchmal die beste, ja die einzig mögliche Art ist, ihn in erträglicher, sinnvoller Weise fortzusetzen.

Die Unterbrechung darf freilich, um Fortsetzung zu ermöglichen, nicht allzu diskursfremd sein. Es hätte nichts gebracht, wenn der entschlossene Herr den rhetorischen Grobian geohrfeigt, zum Duell gefordert oder gar sofort über den Haufen geschossen hätte.

Das Mittel, das er statt dessen wählte, hatte gerade noch so viel rhetorische Qualität, um als Beitrag zum Diskurs wahrgenommen und durchschaut zu werden. Allen Anwesenden und nicht zuletzt dem Grobian selbst war sofort klar, daß es sich um eine logische Fortsetzung der „massiven Reden“ handelte, daß die Massivität lediglich in eine andere Lautklasse umschlug.

Andererseits war der Diskursbeitrag des ansehnlichen Herrn doch wiederum so ungewöhnlich und so hart aus der Rolle fallend, daß der Grobian im genauen Sinne des Wortes augenblicklich „gedämpft“ wurde. Es gab eine Schrecksekunde, einen echten Hiatus, alle erschraken. Leider erfahren wir aus der Goetheschen Erzählung nicht, wie lange die Schrecksekunde dauerte und ab wann genau sich das Gespräch ins Heitere und Anmutige wendete. Wer hatte den Mut und die Geistesgegenwart, als erster wieder das Wort zu ergreifen? Was sagte er, damit sich die Spannung löste? Das würde man gerne wissen.

Auch wäre es nicht unwichtig zu erfahren, wie sich der Dank der Anwesenden für die treffliche Wirkung der begangenen Unanständigkeit äußerte und ob er sich überhaupt äußerte. Kamen die einzelnen Mitglieder der Tafel, nachdem diese aufgehoben war, zu dem kühnen Herrn, um ihm ungeniert ihre Anerkennung auszusprechen? Das ist doch ziemlich unwahrscheinlich. Meistens verhält es sich so, daß, wer einen mächtigen Grobian „dämpft“, also mit extremen Mitteln zum Schweigen bringt, anschließend selber zum Schweigen gebracht wird, was ja auch irgendwie verständlich ist; der grobe Klotz rechtfertigt nicht den groben Keil als solchen.

Wie aber verhält es sich mit dem „gedämpften“ Herrn? War er nur momentan gedämpft, hielt er sich nur zurück, solange die Tafelrunde währte, um gleich danach in seine angestammte Bestialität und Massivität zurückzufallen? Die Frage bekommt Kontur, wenn man sie einmal auf die allgemeine Politik anwendet. Wie wirken punktuelle „Unanständigkeiten“, etwa von der Art des Terroranschlages vom 11. September 2001 in New York und Washington, in der Weltpolitik? Ist auch bei ihnen eine Wendung ins Anmutige und Heitere möglich, nachdem sich der anfängliche Schrecken gelegt hat, oder gibt es nun nur noch Schrecken ohne Ende?

Wer ehrlich daran interessiert ist, Weltpolitik nicht nur als Erzeugung von Schrecken, sondern tatsächlich als Diskurs zu betreiben, der muß ernsthaft über die Bändigung von rhetorischen Massivitäten nachdenken, bei sich selbst und bei den anderen. Die Rhetorik von Gotteskriegern ist grauenhaft, aber auch jedes Auftrumpfen und selbstgefällige Provozieren seitens des Westens, jedes aggressive Schwadronieren und vormoderne Sheriff-Gehabe erhöht die Gefahr, daß Unanständigkeiten begangen werden und die Politik sich am Ende in eine einzige Kette von Diskursunterbrechungen verwandelt.

Dabei ist natürlich zu bedenken: Politik ist keine evangelische Sommerakademie, deren Diskurse der Ausgabe von warmen Suppen gleichen. Es geht nicht um gemeinsames „Erarbeiten“ abstrakter Hochprinzipien, die so dünn sind wie jene Suppen, sondern um konkreten Interessenausgleich, Abgrenzung von Sphären, Markierung von Standards für Handel und Verkehr, die allen zumutbar sind und von allen eingehalten werden können. Kein ethisches Maximum wird angestrebt, heiße es nun Scharia oder globales Menschenrecht, sondern ethisches Minimum: Ein Katalog dessen, was nötig ist, damit man miteinander sprechen kann.

Auch muß man immer damit rechnen, daß Unanständigkeiten begangen werden, selbst ohne vorhergehendes massives Reden. Anmut und Heiterkeit des gegenseitigen Umgangs sind mehr Ideal als voraussetzbare Wirklichkeit. Sie scheinen erreicht, wenn sich die divergierenden Partner nicht dauernd gegenseitig versichern müssen, wie einig sie sind und daß sie doch alle dasselbe wollen, sondern wenn sie wie gut erzogene Gäste an einer Hoteltafel lässig und interessant parlieren und dem anderen so wenig wie möglich auf die Nerven gehen.

In dem eingangs zitierten Gespräch von 9. Juli 1827 lesen wir dazu (wieder spricht Goethe): „In der Politik direkt und grob seine Meinung herauszusagen, mag nur entschuldigt werden können und gut sein, wenn man durchaus recht hat. Eine Partei aber hat nicht durchaus recht, eben weil sie Partei ist.“


 
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