© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
Das Gedächtnis der Toten
Von allen Ängsten befreit: Am Volkstrauertag und Totensonntag gedenken wir der Verstorbenen
Lothar Groppe S.J.

In der Aussegnungshalle des Frankfurter Hauptfriedhofes findet sich ein Wort aus Goethes Schauspiel „Hermann und Dorothea“: „Des Todes rührendes Bild ist ein Schrecken dem Weisen und nicht ein Ende dem Frommen.“ Man müßte wohl richtiger sagen: Ist nicht ein Ende dem Weisen und nicht ein Schrecken des Frommen. Denn die bloße Weisheit dieser Welt genügt nicht, um vor Gott bestehen zu können, während der Fromme Gott mit Zuversicht gegenübertreten kann, wenngleich ihm die kreatürliche Angst nicht fremd ist.

Nach dem Ersten Weltkrieg regte der Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge einen Gedenktag für die Gefallenen an. Die erste Feierstunde fand 1922 in Berlin statt. In der Zeit des Dritten Reiches wurde er 1934 zum „Heldengedenktag“ erhoben, nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte man ihn zum Volkstrauertag um. Er ist dem Gedenken an die Toten beider Weltkriege und der Opfer des Nationalsozialismus gewidmet und seit 1952 gesetzlich verankert.

An diesem Tag erinnern wir uns daran, daß Millionen Söhne und Töchter unseres Volkes im Krieg und in der Zeit danach ihr Leben verloren. Ein besonderes Gedenken gebührt denen, die, „wie das Gesetz es befahl“ als Soldaten ihr Leben für ihr Vaterland einsetzten und dabei den Tod fanden. Daß immer wieder enthemmte Chaoten deren Gräber schänden, läßt erkennen, daß ihnen jedes Gespür für menschlichen Abstand abhanden gekommen ist. Der wohl bedeutendste deutsche Historiker Leopold von Ranke, der die Aufgabe seiner Zunft nicht darin sah, über die Vergangenheit zu richten, schrieb einst: „Den Charakter einer Nation erkennt man daran, wie sie ihre Soldaten nach einem verlorenen Krieg behandelt.“

Der Totensonntag oder eigentlich Ewigkeitssonntag ist in den evangelischen Kirchen Deutschlands am letzten Sonntag des Kirchenjahres dem Gedächtnis der Verstorbenen gewidmet. Wenn in der modernen „Spaßgesellschaft“ der Tod auch gern verdrängt wird, bleibt er doch eine unentrinnbare Realität, eine letzte Gewißheit. Der langjährige Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, sagte an seinem 60. Geburtstag: „Ich habe mir schon sehr früh klargemacht, daß die wichtigste Stunde im Leben die Stunde des Todes ist. Ich habe immer gefunden, daß wir Menschen einen kapitalen Fehler machen, wenn wir den Gedanken an den Tod verdrängen, wie es leider in der westlichen Welt gang und gäbe ist.“ Eine längere Amtszeit lehnte er ab mit der Begründung, er wolle sich auf den Tod vorbereiten.

Wie denken die Menschen unserer Tage über den Tod? Der Philosoph Martin Heidegger schreibt darüber in seinem Werk „Sein und Zeit“ (1927): „Die Öffentlichkeit des alltäglichen Miteinander kennt den Tod als ständig vorkommendes Begebnis, als ’Todesfall‘. Dieser oder jener Nächste ’stirbt‘. Unbekannte sterben täglich oder stündlich. Der Tod begegnet als bekanntes, innerweltliches Ereignis. Als solcher bleibt er in der für das alltäglich Begegnende charakteristischen Unauffälligkeit. Das Man hat für dieses Ereignis auch schon eine Auslegung gesichert. Die ausgesprochene oder auch meist verhaltene ’flüchtige‘ Rede darüber will sagen: Man stirbt am Ende auch einmal, aber zunächst bleibt man selber unbetroffen. (…) Das treffe gleichsam das Man. (…) Was sich gemäß dem lautlosen Dekret des Man ’gehört‘, ist die gleichgültige Ruhe gegenüber der ’Tatsache‘, daß man stirbt.“

Leo Tolstoi hat in seiner Erzählung des Todes des Iwan Iljitsch das Phänomen der Erschütterung und des Zusammenbruchs dieses „man stirbt“ dargestellt: „Das Sterbenmüssen in grauenhafter Unentrinnbarkeit. Die leere Beamtenhülle zerfällt, die Welt des ’man‘, Gericht am Ich, das falsch gelebt, ehrgeizig, für nichts. Erst die Auflösung im Schmerz, im Tod bringt ’Licht‘.“

Jemand hatte Mutter Teresa gefragt: „Haben Sie Angst vor dem Tod?“ Sie gab zur Antwort: „Nein, überhaupt nicht. Haben sie vielleicht Angst, zu Ihren Lieben nach Hause zurückzukehren? Ich warte sehnsüchtig auf den Augenblick des Todes. Da oben werde ich Jesus treffen und die Menschen, denen ich in diesem Leben Liebe zu schenken versucht habe. Ich werde all die Armen treffen, denen ich beigestanden habe, die Sterbenden, die ihren letzten Atemzug in dem Haus taten, das ich für sie in Kalkutta errichtet habe. Kurz, ich werde alle Menschen wiedersehen, die mir auf Erden lieb und teuer waren. Es wird also eine wundervolle Begegnung sein! Scheint es Ihnen nicht so?“

Der Lieblingsheilige auch derer, die keinen eigentlichen Zugang zur Welt des Religiösen haben, Franz von Assisi, beschloß seinen „Lobgesang der Schöpfung“ mit den Worten: „Gelobet seist du, Herre mein, durch unseren Bruder, den leiblichen Tod,/ welchem keiner der Lebenden zu entrinnen vermag.../ Selig jene, die sterben in deinem heiligsten Willen.../ Lobet und preiset meinen Herrn in Dankbarkeit./ Und dienet ihm in Frieden.“

So kann wohl nur der gottverbundene Mensch schreiben, dem Gott alles bedeutet, der sich ihm gänzlich hingegeben hat. Die gewöhnlichen Sterblichen werden sich wohl eher an den evangelischen Pfarrer und Dichter Paul Gerhardt halten, in dessen bekanntem Lied: „O Haupt voll Blut und Wunden“ es heißt: „Wenn ich einmal soll scheiden, so tritt du dann herfür;/ wenn mir am aller-bängsten wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten kraft deiner Angst und Pein./ Erscheine mir zum Schilde, zum Trost in meinem Tod,/ und laß mich sehn dein Bilde, in deiner Kreuzesnot./ Da will ich nach dir blicken, da will ich glaubensvoll/ Dich fest an mein Herz drücken. Wer so stirbt, der stirbt wohl.“ Lothar Groppe S.J.

 

Pater Lothar Groppe SJ war Militärpfarrer und Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr sowie zeitweise Leiter der deutschen Sektion von Radio Vatikan.


 
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