© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/01 23. November 2001

 
Die paschtunische Frage
Afghanistan-Krieg: Das Ende des Taliban-Regimes könnte weitreichende Konsequenzen für die Region haben
Michael Wiesberg

Der für viele Beobachter überraschende militärische Zusammenbruch des Taliban-Regimes in Afghanistan, der in dieser Form und Schnelligkeit nicht abzusehen war, wirft eine Reihe von grundsätzlichen Fragen auf, deren Beantwortung die weitere Entwicklung dieser Region entscheidend prägen werden. Eine dieser Fragen betrifft die zukünftige Rolle der Paschtunen, die die Bevölkerungsmehrheit in Afghanistan stellen. Mehr oder weniger alle Kommentatoren sind sich darin einig, daß die Lösung der paschtunischen Frage von zentraler Bedeutung sein wird, soll eine halbwegs friedliche Zukunft für Afghanistan sichergestellt werden.

Die Dringlichkeit dieser Frage gilt ungeachtet der Ankündigung des Außenministers der Nordallianz, Abdullah Abdullah, eine Konferenz unter Beteiligung aller Volksgruppen und der Vereinten Nationen bereits in dieser Woche einberufen zu wollen. Keiner kann derzeit sicher beurteilen, was diese Absichtserklärung wirklich wert ist. Eine andere Frage betrifft die weitere Entwicklung der zentralasiatischen Region insgesamt, die von der Peripherie der öffentlichen Wahrnehmung im Westen in den letzten Wochen mehr und mehr in das Zentrum des Interesses gerückt ist.

Um die Rolle der Paschtunen in Afghanistan richtig einordnen zu können, bedarf es eines kurzen Überblickes über die Geschichte der afghanisch-pakistanischen Beziehungen. Etwa 13 Prozent der pakistanischen Bevölkerung sprechen derzeit eine Spielart des paschtunischen Sprache. Die pakistanisch-afghanische Grenze, die sogenannte Durand-Linie, ist von den Briten vor etwa einhundert Jahren willkürlich gezogen worden, hat aber am Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen afghanischen und pakistanischen Paschtunen nicht viel geändert. Diese Grenze wurde von den Briten als bindend festgeschrieben, von den folgenden afghanischen Regierungen aber als von außen aufgezwungen betrachtet. Die afghanischen Paschtunen haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß sie diesen Grenzverlauf als illegitim betrachten. Immer wieder fanden wegen dieser Frage Beratungen und Gespräche auf beiden Seiten der Grenze statt.

Es waren diese Einwände, die zum Einspruch Afghanistans gegen die Aufnahme Pakistans in die Vereinten Nationen führten. Afghanistan votierte als einziger Staat, und dies ist bezeichnend für die Konfliktlage, gegen eine Aufnahme Pakistans. Von 1893 an war zunächst die britische Indienpolitik und dann die pakistanische Politik im Hinblick auf Afghanistan von Befürchtungen wegen der paschtunischen Frage inspiriert. Insbesondere in Pakistan nimmt man die Möglichkeit einer potentiellen paschtunischen Wiedervereinigung sehr ernst, der Afghanistan unter Umständen den Zugang zum Indischen Ozean eröffnen könnte.

In den fünfziger Jahren suchte die Sowjetunion die paschtunische Frage in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Sie unterstützte Afghanistan und thematisierte mit Blick auf Pakistan unentwegt die Frage des paschtunischen Selbstbestimmungsrechtes. Als Anfang der siebziger Jahre Ost-Pakistan wegbrach und zu Bangladesch wurde, sahen pakistanische Militärstrategen bereits furchterregende Perspektiven für Pakistan heraufziehen. Auf der einen Seite ein Pakistan feindlich gesonnenes Indien, auf der anderen Seite ein von der Sowjetunion unterstütztes Afghanistan und dazwischen Pakistan, das von beiden Machtblöcken zerrieben wird. Das durch dieses Szenario ausgelöste Unsicherheitsgefühl des vergleichsweise jungen Staates Pakistan wurde weiter durch das ständig steigende Engagement der Sowjetunion in Afghanistan forciert.

Die iranische Revolution von 1979 und die Invasion Afghanistans durch die Sowjetunion eröffnete Pakistan zunächst neue strategische Möglichkeiten. Einmal zeichnete sich die einzigartige Möglichkeit ab, die Führungsrolle in der Region zu übernehmen und damit die paschtunische Frage zumindest zu neutralisieren. Der Schlüssel dafür war der Widerstand gegen die Sowjetunion im Namen des Islams. Dieser Schachzug führte zur aktiven politischen, militärischen und auch finanziellen Unterstützung der USA, Saudi-Arabiens, der Staaten am Persischen Golf und durch islamistische Mudschaheddins.

Die Islamisierung Pakistans hat zwei Aspekte: Einmal dient diese der Stabilisierung Pakistans selber. Zum anderen konnte die paschtunische Militanz, wie bereits angedeutet, erfolgreich „umgeleitet“ werden. Und schließlich wurde der sowjetischen Instrumentalisierung der paschtunischen Frage der Boden entzogen. Pakistan konnte sich weiter erfolgreich als Bollwerk des sunnitischen Islams gegen den schiitischen iranischen Fundamentalismus inszenieren. Diese Inszenierung war eine Antwort Pakistans auf die indische Politik im Kaschmir und auf den sowjetischen Atheismus im Norden Zentralasiens.

Saudi-Arabien fungierte als emsiger Unterstützer der pakistanischen Mission. Diese Unterstützung brachte aber einen kontinuierlichen Anstieg des fundamentalistischen Wahhabitismus in der Region mit sich. Andere Protegés Pakistans wie die USA verfolgten mit der Unterstützung Pakistans zunächst eigene nationalen Interessen.

Nach dem Rückzug der Sowjetunion unterstützte Pakistan verschiedene paschtunische Splitterparteien; zuletzt die Taliban, die zum großen Teil in den islamistischen Schulen Pakistans ausgebildet wurden. Diese wurden vor allem unter Präsident Mohammad Zia ul-Haq, aber auch seinen Nachfolgern gegründet und gelten als vom pakistanischen Geheimdienst infiltriert bzw. kontrolliert.

Die Stützung des Taliban-Regimes durch Pakistan diente vor allem dem Ziel, die eigene Position als dominierende ausländische Macht in Afghanistan zu zementieren. Afghanistan stellte Ausbildungslager für Kämpfer bereit, die stellvertretend für Pakistan einen Guerillakrieg im Kaschmir führten. Gleichzeitig wurden auf diese Weise die Ambitionen der Fundamentalisten im eigenen Land eingedämmt. Die Taliban-Ideologie, die über tribalistischen Rivaliäten steht, hatte einen großen Anteil daran, daß die paschtunische Frage bis heute neutralisiert werden konnte. Dies war um so bedeutsamer, weil die Taliban nicht nur in Afghanistan Erfolg hatten, sondern auch in Pakistan, besonders durch ihre Parteigänger in Städten wie Peschawar oder Karatschi. Städte, die zu Zentren paschtunischer Aktivitäten geworden sind.

Paschtunische Interessen jenseits der Grenzen

Dieses Szenario hat sich nach dem 11. September dieses Jahres, als der pakistanische Staatschef Pervez Musharraf sich entschloß, mit den USA zusammemzuarbeiten, grundlegend geändert. Beide Staaten sehen sich jetzt mit der paschtunischen Frage konfrontiert. Das Ende der Taliban-Regierung wird dieses Problem mit allen Konsequenzen wiederaufleben lassen. Falls eine neue Regierung, die mit Sicherheit von der Nordallianz dominiert werden dürfte, dem Machtanspruch der Paschtunen nicht angemessen Rechnung tragen sollte, wird sich dieser anderswo Bahn brechen. Eine Allianz mit den paschtunischen Pakistanis könnte eine Folge sein.

Falls die Paschtunen allerdings zu einem dominierenden Machtfaktor in einem Afghanistan ohne die Taliban werden sollten, sind Konflikte mit Pakistan vorgezeichnet, da deren Interessenssphäre in das pakistanische Gebiet hineinragt. Pakistan kann aber keine Bewegung dulden, die die Gefahr einer Fragmentierung des Landes nach sich ziehen könnte. Darüber hinaus muß Pakistan versuchen, die Entstehung eines weiteren Brennpunktes (nach dem Kaschmir) unter allen Umständen zu vermeiden. Schließlich ist auch eine bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzung zwischen Nationalisten und Fundamentalisten (Stichwort: Unterstützung der USA durch die pakistanische Regierung) im Land nicht ausgeschlossen, was seine Brisanz insbesondere vor dem Hintergrund des Besitzes von Atomwaffen hat.

Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte ein Wiederaufbau des Landes unter Leitung der Vereinten Nationen sein. Die UNO müßte die Neutralität Afghanistans verbürgen und einen Neutralitätspakt zwischen Pakistan und Afghanistan herbeiführen, in dem festgeschrieben wird, daß Afghanistan paschtunischen Vereinigungstendenzen eine Absage erteilt. Weiter müßte dem Iran signalisiert werden, daß Afghanistan nicht zur Plattform für antiiranische Eiferer wird.

Innerhalb von Afghanistan muß eine Regierung zum Zug kommen, die in der Lage ist, einen Ausgleich zwischen allen Strömungen zu schaffen. Dafür könnte eine Rückkehr des Königs Zahir Schah als ein Symbol für die Einheit Afghanistans stehen. Daß dieser nicht als Marionette der USA oder der Nordallianz erscheinen darf, versteht sich von selbst.

Festzuhalten bleibt, daß die Paschtunen nicht ohne weiteres zwei Jahrhunderte Geschichte und Macht in Afghanistan zur Disposition stellen werden. Ohne eine einflußreiche Rolle der Paschtunen jedenfalls wird es keinen tragfähigen Frieden in Afghanistan geben.

Ein anderer Aspekt der derzeitigen Entwicklung betrifft die Zukunft der amerikanisch-zentralasiatischen Beziehungen. Staaten wie Usbekistan, Tadschikistan, Kasachstan, Kirgisistan und Turkmenistan, die bisher eher an der Peripherie der Interessen standen, haben ein größeres Gewicht gewonnen. Der militärische Zusammenbruch der Taliban und die russisch-amerikanische Annäherung werfen allerdings die Frage auf, von welcher Dauer dieses Gewicht sein wird. Nach Auffassung von John Schoeberlein, Direktor des „Forum for Central Asian Studies“ an der Universität von Harvard, wird die Bedeutung der bilateralen Beziehungen zwischen den USA und Zentralasien in dem Maße abnehmen, wie die Stabilität nach Afghanistan zurückkehrt und eine neue strategische Beziehung zwischen Rußland und den USA an Gewicht gewinnt.

Eine Ausnahme könnte Usbekistan darstellen, dem gegenüber die USA Sicherheitsgarantien hinsichtlich einer möglichen Bedrohung von außen zugesichert haben. Niemand kann heute aber beurteilen, wie sich die Beziehungen zwischen Usbekistan und den USA entwickeln werden, weil diese den Versuchen Rußlands entgegenwirken, in der zentralasiatischen Region wieder an Gewicht zu gewinnen. Nach Auffassung von Schoeberlein wird Washington, ungeachtet der neuen Qualität der Beziehung zwischen Putin und Bush, seine Interessenpolitik in Usbekistan und anderen Staaten der Region ohne substantielle Abstriche fortsetzen. Die Interessen der USA hier drehen sich (wie öfter in der JF dargestellt) vorrangig um die vorhandenen Energieressourcen. Deshalb unterstützen die USA auch weiterhin das geplante Pipeline-Projekt Baku-Ceyhan, das unter Aussparung russischen Territoriums insbesondere kasachisches Erdöl zu den westlichen Märkten bringen soll. Schoeberlein kommt zu dem Fazit, daß die USA ein langfristiges Interesse daran hätten, das Erdöl aus dieser Region für die eigenen Zwecke zu sichern. Er glaubt deshalb nicht, daß die USA Rußland eine Art Monopol bei dem Transport des Erdöls einräumen werden.

Ian Bremmer, Direktor der in New York ansässigen Eurasia Group, die auf Unternehmensberatung spezialisiert ist und die auch in Zentralasien aktiv ist, glaubt, daß eine enge Zusammenarbeit mit Rußland für die USA mehr zählt als die Beziehungen zu zentralasiatischen Staaten wie zum Beispierl Usbekistan. Er plädiert für eine neue Struktur der Nato vor dem Hintergrund der Diskussion um eine potentielle Mitgliedschaft Rußlands. Mit Blick auf Zentralasien müsse man multilaterale Wege finden, so Bremmer, um die Sicherheit in Zentralasien zu garantieren.

Nur der Iran dürfte aus der Situation Gewinn ziehen

Für Schoeberlein wird Zentralasien auch in Zukunft ein Unsicherheitsfaktor bleiben. Er verweist auf die Islamische Bewegung in Usbekistan, die auch auf andere zentralasiatische Staaten ausstrahle. Aber auch die Nordallianz weise eine radikalislamistische Orientierung auf, die es unmöglich mache, zu prognostizieren, wie die Entwicklung in Afghanistan in den nächsten Monaten verlaufen werde. Die aktuellen Irritationen zwischen der Nordallianz und den Briten zeigen, was Schoeberlein im Auge hat. Nach Informationen der BBC haben die Briten Pläne verschoben, 6.000 weitere Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Der Grund dafür seien „ernüchternde“ Berichte der Briten. Die Zusammenarbeit mit der Nordallianz verlaufe unerwartet schlecht. Daß diese kein Interesse an der Präsenz ausländischer Truppen in Afghanistan haben, hat die Nordallianz bereits des öfteren unterstrichen.

Ian Bremmer ist der Auffassung, daß der Iran das einzige Land ist, das aus der gegenwärtigen Situation Gewinn zu schlagen in der Lage ist. Teheran habe die Taliban immer als Feind betrachtet, so daß ihr Niedergang im Iran freudig registriert werden dürfte. Dazu kommt, daß sich die Beziehungen zwischen dem Iran und Rußland in den letzten Jahren ständig verbessert haben. Vom Sog der neuen Verbundenheit zwischen Rußland und den USA könnte deshalb auch der Iran profitieren, wofür schon seine wichtige geopolitische Position sprechen würde. Der Widerstand der Mullahs im Iran könnte allerdings verhindern, so Bremmer, daß der Iran seine geopolitischen Vorteile ausspielen könne. Diese seien nicht an einer Verbesserung der außenpolitischen Spielräume des Irans interessiert, sondern nur an ihrem Machterhalt. Obwohl ca. 77 Prozent der Iraner den Reformkurs der derzeitigen Regierung unterstützten, beherrschten die Mullahs immer noch das Land. Diese Konstellation könnte im Iran über kurz oder lang zu inneren Unruhen führen. Die Furcht vor diesen Unruhen sei die eigentliche Sorge vieler Iraner.

Das sich abzeichnende Ende der Taliban, denen viele Afghanen keine Träne nachweinen, wird Entwicklungen anstoßen, deren regionale und geopolitische Konsequenzen vom heutigen Standpunkt aus schwer zu kalkulieren sind. Schlimmstenfalls kommt dieses Ende einem Öffnen der Büchse der Pandora gleich. Die Neutralisierung des Problems „Taliban“ könnte zu einer Unzahl neuer Probleme führen, die nicht mehr mit Luftangriffen zu bewältigen sind.


 
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