© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/01 16. November 2001

 
Vermächtnis und Vermarktung
Der Widerstand der „Weißen Rose“ als Segment der bundesdeutschen Bewusstseinsgeschichte
Wolfgang Müller

Im Sommer 1941 fand sich an der Universität München ein Kreis junger Männer zusammen, die zur Fortsetzung ihres Medzinstudiums in eine Studentenkompanie abgestellt waren. Zu ihnen - Willi Graf, Christoph Probst, Alexander Schmorell und Hans Scholl - stieß im Sommersemester 1942 Inge Scholl. Im Juni und Juli 1942 versandten Schmorell und Hans Scholl vier Flugblätter der „Weißen Rose“. Nach ihrer Rückkehr von einem Fronteinsatz in Rußland erschien im Januar 1943 ein fünftes Flugblatt, das dem Titel zufolge auf eine „Widerstandsbewegung in Deutschland“ hinwies. Am 18. Februar 1943, bei der Verteilung eines sechsten Flugblattes, das der Münchner Philosoph Kurt Huber abgefaßt hatte, stellte ein Pedell die Geschwister Hans und Sophie Scholl im Lichthof der Universität. Nur vier Tage später wurden sie, zusammen mit Probst, vom Volksgerichtshof unter Vorsitz Roland Freislers, zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet. Zwei Monate später ergingen die Todesurteile gegen Schmorell, Graf und Huber.

Am Tag, als die Geschwister Scholl verhaftet wurden, knapp drei Wochen nach dem Untergang der 6. Armee in Stalingrad, dem verschärften angelsächsischen Luftterror gegen deutsche Städte und der sich ankündigenden Niederlage der U-Boote in der „Atlantikschlacht“, stimmte Joseph Goebbels im Berliner Sportpalast ein akklamierendes Publikum auf den totalen Krieg ein. Die „Weiße Rose“ ging der Gestapo also zum Wendepunkt des Krieges ins Netz, als es galt, die Geschlossenheit der „Heimatfront“ zu garantieren. Widerstandsaktionen, die - wie es im Volksgerichtshof-Urteil hieß - die Feinde des Reiches begünstigten und die Wehrkraft zersetzten, mußten mit drakonischen Maßnahmen unterdrückt werden. Es galt, in Freislers Diktion, dem deutschen Volk die Kraft zu „wehrhafter Selbstbehauptung“ zu erhalten und damit eine zukünftige politische Existenz in nationaler Selbstbestimmung zu sichern. In dieser Logik waren die Todesurteile gegen die „Weiße Rose“ ein Akt der Selbstverteidigung. Im Vergleich mit der seit 1942, als Freisler zum Präsidenten des Volksgerichtshofes ernannt wurde, geübten Spruchpraxis gegen „Defätisten“ aller Art, erging gegen die Scholls und ihre Freunde also ein hartes, aber nicht weiter bemerkenswertes, fast alltägliches Urteil.

Warum füllen dann Bücher über diesen in den Annalen der NS-Justiz doch so unspektakulären Fall inzwischen eine Bibliothek? Warum läßt sich Sophie Scholl vor Marie Curie oder Marlene Dietrich als „Frau des Jahrhunderts“ vermarkten? Barbara Schüler, die der Wirkungsgeschichte der „Weißen Rose“ ihre fast 600 Seiten umfassende Tübinger Dissertation gewidmet hat, kann für diesen gewaltigen Nachruhm keine schlüssige Erklärung liefern. Aber sie trägt soviel Material zusammen, daß, um den Preis eines leicht zynischen Zungenschlags, sich Schülers Forschungsresultate auf das vereinfachende Fazit bringen lassen: Anders als viele namenlose Freisler-Opfer verfügten die Scholls über geschickte Werbemanager, die sie für die Nachwelt zu Ikonen des Widerstands gegen das NS-Regime stilisierten. Vergleichbare Vermarktungserfolge gelangen, nach Schülers Einschätzung, nur noch jener „Witwenriege“, die prätendierte, das „Vermächtnis“ der Männer des 20. Juli 1944 zu hüten.

Tatsächlich leistet Schülers Werk in zweierlei Hinsicht Pionierarbeit: Sie rekonstruiert zum einen die bildungspolitischen Anstrengungen, mit denen Inge Scholl, Sophies Schwester, und der zur „Weißen Rose“ zählende Otl Aicher, an der Volkshochschule Ulm im „Geist der Gemordeten“ die Bewußtseinsformierung der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft zu beeinflussen versuchten. Zentral war dabei die Fixierung auf ein „abendländisch“, christliches und sozialistisches Europa des „dritten Weges“, das die „überlebenden Ideenträger“ Scholl und Aicher als „Erbe“ ihrer toten Freunde offerierten. Dieser für die Adenauer-Republik realpolitisch irrelevante Ideenkomplex erschien den einer religiösen „Respiritualisierung“ geneigten professionellen Sinnproduzenten zeitweise attraktiv. Schüler, und hier liegt ihr zweites Verdienst, kann die geistesgeschichtliche Kontinuität dieses Traums von der christlichen Gesellschaftsordnung Europas von den fünfziger bis in die dreißiger Jahre zurückverfolgen.

Die katholischen Publizisten Carl Muth und Theodor Haecker präsentiert Schüler dabei als die wichtigsten Mentoren der schwäbisch-protestantischen Scholl-Geschwister, die sich in verhärtender, von Lektüre- und Diskussionsexzessen ausgefüllter „Innerer Emigration“ auch zunehmend unter Einfluß des „Renouveau Catholique“ und Jacques Maritains „Humanisme intégral“ begaben, der die industrielle Moderne nach den Vorgaben des christlichen Humanismus zu zähmen versprach. Mit Recht weist Schüler darauf hin, daß die Widerstandsforschung hier auf ein Desiderat trifft. Die Ideengeschichte, vor allem aber die Geschichte religiöser Ideen, ihre Rezeption außerhalb kirchlicher Kreise, fristet ein zeithistorisches „Mauerblümchendasein“. Ein krasses Versäumnis angesichts der Tatsache, daß die Zwischenkriegsgeneration, zu der die Mitglieder der „Weißen Rose“ zählten, in Deutschland wohl die letzte des 20. Jahrhunderts gewesen sein dürfte, für die Religion überhaupt noch von existenzieller Relevanz war. Schade nur, daß Schüler, die so intensiv das vom Reformkatholizismus geprägte Münchner Studentenmilieu um 1940 erforscht, dessen Ambivalenzen zu stark vernachlässigt. Man denke nur an Haeckers aggressive Polemiken gegen das Versailler Diktat und die Weimarer „Erfüllungspolitiker“ sowie an seine Haltung in der „Judenfrage“. Oder an einen anderen, von Schüler etwas obenhin behandelten spiritus rector der „Weißen Rose“, Kurt Huber. Ihn, der von der Musikpsychologie zur Volksliedforschung kam, und der zivilisationskritisch in den Kategorien der Volkstumsideologie dachte, der die völkische Rasseidee aber katholisch-universalistisch ablehnte, hat vor kurzem die anglo-jüdische Historikerin Pamela Potter in ihrer Studie über die Musikwissenschaft im Dritten Reich einmal mehr mit Protagonisten der NS-Weltanschauung identifiziert.

Die Facetten des politischen Katholizismus zu beleuchten, heißt ja nicht, die ignoranten Urteile „aufgeklärter“ Zeithistoriker zu bestätigen, die - wie die von Schüler zitierten „Gestapo“-Historiker Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann - noch 1995 allen Ernstes behaupteten, die autoritäre Prägung des katholischen Milieus habe „aktiven politischen Widerstand“ gegen den Nationalsozialismus eigentlich nicht zur Entfaltung kommen lassen.

Barbara Schüler: „Im Geiste der Gemordeten“. Die „Weiße Rose“ und ihre Wirkung in der Nachkriegszeit. Schöningh Verlag, Paderborn 2000, 548 Seiten, 68 Mark


 
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