© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/01 16. November 2001

 
„Die Gerechtigkeit der Schwachen“
Der Militärtheoretiker Martin van Creveld über die drohende Niederlage der USA in Afghanistan und das deutsche Engagement
Moritz Schwarz

Herr Professor van Creveld, Sie sind einer der bedeutendsten Militärtheoretiker der Gegenwart. Bereits vor zehn Jahren haben Sie in Ihrem vielbeachteten Buch „Die Zukunft des Krieges“ die weltpolitische Entwicklung, die wir derzeit erleben, strukturell vorausgesagt. Wäre durch eine gerechtere und respektvollere Politik gegenüber anderen Kulturen die derzeitige Eskalation zu vermeiden gewesen?

Creveld: Was der eine als gerecht ansieht, sieht der andere ganz anders. Diese Diskussion zu führen ist letzlich sinnlos. Meine Voraussagen besagten, im 21. Jahrhundert werde der Terrorismus die neue Form des Krieges sein, und so scheint es gekommen.

Das heißt, Sie akzeptieren den Terrorismus als legitime Form des Krieges?

Creveld: Ob wir etwas Terrorismus nennen oder nicht, tut eigentlich nichts zur Sache. Die einen betrachten es als Terrorismus, die anderen als Selbstverteidigung.

Muß es aber nicht um des Selbstverständnisses einer kulturellen und sozialen Gemeinschaft willen ethische Normen geben, an denen sich auch der Krieg ausrichtet? Legitimer Kampf ist demnach „Krieg“, illegitimer Kampf „Terror“.

Creveld: Sicher, aber das sollte nicht dazu verleiten, zu glauben, diese Maßstäbe könnten allgemeine Gültigkeit beanspruchen. So glauben die Araber etwa, der Hamas-Terror gegen uns Juden sei vollkommen legitim, weil es sich um einen Freiheitskrieg handele, dagegen sei unsere Herrschaft in den besetzten Gebieten der reine Terror. Diese Sicht teile ich natürlich nicht. Es ist aber sinnlos, darüber zu streiten.

Wenn Sie diese Diskussion für sinnlos halten, folgt daraus, daß Sie die Gleichwertigkeit beider Seiten akzeptieren. Keiner kann also beanspruchen, objektiv Recht zu haben, beide dürfen sich subjektiv „im Recht“ sehen?

Creveld: Ich bin eben weder Moralist noch Politikwissenschaftler, sondern beschäftige mich mit Strategie. Mein Lehrmeister ist der deutsche General Carl von Clausewitz, und der hat mich gelehrt, daß man Krieg und Moral am besten nicht vermischt.

Aber genau diese bislang in der ganzen Welt verehrten Lehren Clausewitz‘ halten Sie doch inzwischen für nicht mehr gültig.

Creveld: In der Tat sind seine Theorien zum Teil veraltet. Aber erstens, nicht alle und zweitens bleibt er unangefochten der größte unter den Militärtheoretikern, und ich nach wie vor sein größter Bewunderer.

Clausewitz vertritt die Theorie vom trinitarischen Krieg, also dem Krieg, der auf beiden Seiten getragen wird von den drei Säulen: Armee, Staat und Volk. Nach Ihrer Analyse haben aber diese drei Pfeiler abendländischer Kriegführung ihre Bedeutung verloren.

Creveld: So ist es, und dafür ist der derzeitige Afghanistan-Krieg das schlagende Beispiel: Dort gibt es keine einheitliche Regierung eines einheitlichen Volkes, dem eine einheitliche Armee zur Verfügung stünde. Gäbe es dort reguläre Streitkräfte, hätte der Westen längst leicht gewinnen können.

Die USA ist nach dem traditionellen trinitarischen Grundsatz auf das Beste gerüstet. Was kann den Sieg also verhindern?

Creveld: Erstens, die Tatsache daß sie sich auf einen koventionellen, das heißt trinitarischen, Krieg vorbereitet haben. Zweitens, sie wissen nicht wo Bin Laden sich versteckt. Deshalb sind sie gezwungen, Afghanistan Meter für Meter abzusuchen, sprich auf die ein oder andere Art zu erobern und zu besetzen. Natürlich ist es möglich, daß das Pentagon etwas weiß, was wir nicht wissen, deshalb muß man auch auf einen überraschenden Faktor gefaßt sein. Aber sehr wahrscheinlich ist diese Hoffnung nicht.

Nach der klassischen Lehre bedeutet Niederlage: Besetzung des Territoriums, Gefangennahme des Königs, Entwaffnung der Armee, Annexionen. Das droht den USA aber sicherlich nicht. Was bedeutet „Niederlage“ nach Ihrer Theorie des Krieges im 21. Jahrhundert?

Creveld: Niederlage bedeutet für die USA, den Terrorismus gegen sie nicht verhindern zu können. Das ist zwar in der Tat keine klassische Kapitulation, bedeutet aber vom Standpunkt der Überlegenheit der USA durchaus auch eine Kapitulation. Und sollten dann noch fragwürdige Kriegsbilder auftauchen, wie zum Beispiel einst das Bild von dem heulenden, von Napalm verwundeten, Mädchen in Vietnam, können sie dazu auch die moralische Üeberlegenheit verlieren.

Also eine Niederlage à la Vietnam.

Creveld: Ja, mit dem Unterschied, daß damals die Amerikaner wirklich nur in Vietnam geschlagen wurden. Gelingt es ihnen nicht, den Terror zu unterbinden, werden sie weiterhin auch in ihrem Mutterland bedroht sein. Diesmal geht es also nicht darum, ob ein Land in Übersee dem Kommunismus anheim fallen wird, sondern ob sie bin Laden aufspüren, bevor er sie aufspürt.

Gibt es denn eine Methode, mit der die USA diesen Krieg gewinnen können?

Creveld: Ja, insoweit man mit einem guten Nachrichtendienst solche Feinde tatsächlich erfolgreich bekämpfen kann. Nein, insofern auch mit einer Ausschaltung Osama bin Ladens der Terrorismus noch nicht besiegt ist. Selbst wenn es den USA gelänge, jeden einzelnen Quadratmeter Afghanistans mit einem Infanteristen zu besetzen, wäre der Kampf gegen den Terror noch nicht gewonnen. Der Terrorismus bleibt die Herausforderung der Zukunft.

Ist er wirklich die Herausfoderung der Zukunft? Ist er vielleicht nicht nur ein momentanes Problem, daß eines Tages angesichts neuer Rivalitäten nebensächlich werden könnte. Heißt die Herausforderung der Zukunft nicht vielleicht China?

Creveld: Kriege zwischen Staaten werden in Zukunft immer seltener werden, denn ein starker Staat ist früher oder später dazu in der Lage, Atomwaffen zu bauen. Diese Waffen bedrohen allerdings sogar Supermächte wie die USA oder Riesenreiche wie China in ihrer Existenz. Dieser Gefahr werden Staaten im allgemeinen um jeden Preis auszuweichen versuchen. Genau deshalb werden aber andererseits Guerillakrieg und Terrorismus um so attraktiver, weil sie Konflikte unterhalb der atomaren Eskalationsstufe ermöglichen. Der Terror wird also gerade deshalb das Problem der Zukunft sein.

Sie sind der einzige nichtamerikanische Militärtheoretiker, dessen Schriften zur Pflichtlektüre der Offiziere der US-Streitkräfte gehören. Offenbar haben die Amerikaner dennoch Ihre Thesen nicht ernst genommen, denn statt sich den neuen Herausforderungen zu stellen, führen sie nun eine klassisch trinitarische Kampapagne gegen Afghanistan.

Creveld: Sie müssen verstehen, daß wir es beim Pentagon mit einer riesigen Organisation zu tun haben. Solch eine Organisation umzusteuern, nur weil ein Professor ein Buch geschrieben hat, ist kaum möglich. Zudem bleibt natürlich immer auch die Möglichkeit, daß es doch auch einmal anders kommt, als von den Theoretikern vohergesagt; man muß einen sogennanten „Versicherungsraum“ behalten und nicht alle alten, zum konventionelle Krieg bestimmten Waffen und Streitkräfte gleich umstrukturieren.

Sie vertreten die These, daß in künftigen Auseinandersetzungen der starke Westen - auch wenn er seine Armeen für den Kampf mit Jagd- und Kommandoeinheiten umgegliedert hat - der Schwächere bleiben wird. Warum?

Creveld: Hier kommt die Moral wieder ins Spiel. Das Problem ist der Gegensatz zwischen Stärke und Moralität: Man kann entweder stark oder moralisch sein - beides geht auf die Dauer nicht. Wie ich eingangs schon ausgeführt habe, gibt es zwar keine allgemein verbindliche, moderne Moral, wohl aber eine archaische. Und das ist, wie Friedrich Nietzsche völlig richtig erkannt hat, die Moral, die aus der Gerechtigkeit des Schwachen gegen den Stärkern resultiert. Denn der Schwächere hat keine Wahl, der Stärkere aber wohl. Dem Schwächeren bleibt nach allgemeiner Auffassung gar nichts anderes übrig, als zu kämpfen, dem Stärkeren dagegen wohl. Und in diesem Sinne hat der Schwächere den Vorteil immer Recht zu haben. Der Stärkere ist in dem Dilemma, entweder mit allen Mitteln gegen den Schwächern vorzugehen, dann verliert er aber die Moral. Oder er erlegt sich selbst moralische Einschränkungen auf, dann verliert er aber seine Kampfkraft. Dem Schwachen dagegen werden letzlich immer auch noch Hinterlist und Terror verziehen, denn man fragt sich: „Wie soll er sich auch sonst wehren, gegen den übermächtigen Starken?“ Nach diesem Muster haben die Amerikaner Vietnam, die Franzosen Algerien und wir Israelis im Libanon verloren. Und das könnte auch heute wieder zur Falle für die USA und den Westen werden.

In der Verzweiflung über den ausbleibenden Sieg setzen die westlichen Armeen erfahrungsgemäß zunähst immer mehr Stärke an...

Creveld: ... und verlieren damit die Moral. Dann kommen die Filmbilder von den napalm-verbrannten Kindern und den chemisch entlaubten Wäldern in die Wohnzimmer...

... und die Heimatfront bricht moralisch zusammen.

Creveld: Nicht nur die Heimatfront, auch die Moral der kämpfenden Truppe. Der Soldat verliert das Gefühl, daß seine Sache gerecht ist. Warum aber für eine ungerechte Sache sterben? Die Kämpfer der schwächeren Partei dagegen beziehen einfach schon aus ihrer unterlegenen Position genug Moral, um den Glauben an ihre Sache nicht zu verlieren. Würde sich sonst jemand in diese ja auch persönlich gefährliche Situation begeben? Der Unterlegene legitmiert sich schon aus seiner Position. Der Schwache kann gewissermaßen gar nicht unmoralisch sein, denn er kämpft ja per Definition, um zu überleben. Für den Stärkeren aber gilt die chinesische Spruchweisheit: „Wenn man ein Schwert in Salzwasser taucht, wird es rosten.“ Die Frage ist nur, wielange es dauert - aber es wird unweigerlich rosten. Das heißt, die Moral der Truppe zerfällt. In günstiger Lage, mit guter Führung, und funktionierender Medienkontrolle mag es länger dauern, aber einmal beginnt dieser Prozeß doch.

Das heißt, der Westen wird am Stolz der Dritten Welt scheitern?

Creveld: Zumindest im Fall Afghanistans glaube ich, daß ist nicht unwarscheinlich.

Die USA versuchen nebem dem militärischen Druck, den Gegner auch immer zu kaufen: Carepakete, Aufbauhilfe, Konsum. Wird es dem Westen gelingen, den Islamisten und ihren Anhängern ihren Stolz abzukaufen?

Creveld: Das glaube ich nicht. Das hat man schon in Vietnam ohne Erfolg versucht. Aber die Methode ist alt bekannt, der Makedonenkönig Philipp II, der Vater Alexander des Großen, hat den Satz gesagt: „Ein Esel beladen mit Gold kann auch dorthin gehen, wohin ein Heer nicht marschieren kann.“

Sie definieren, Krieg sei, wenn die Männer bereit sind, nicht nur zu töten, sondern auch zu sterben. Die Hauptprämisse des Westens ist aber möglichst gar keine Verluste zu haben: Ist der weiße Mann feige?

Creveld: In der Tat schwebt mir derzeit ein Aufsatz mit dem Titel „Der feige Krieg“ vor. Aber diese Feigheit ist nicht angeboren. Auch das hat wieder mit der Konstellation „stark und schwach“ zu tun, denn wenn man wirklich sehr stark ist, muß man dumm sein, sich umbringen zu lassen.

Sie halten einen Sieg mit den Mitteln kalssisch-abendländischer Kriegsführung - Feuerkraft, Abstandwaffen, mechanisierte Truppen, Massenvernichtung - nicht für warscheinlich. Stattdessen fordern Sie Kampfformen wie Jagdkampf und Kommandounternehmen. Das bedeutet aber den Kampf Mann gegen Mann. Finden unsere Männer dazu heute noch den Mut?

Creveld: Im Moment nicht, dennnoch fühlt sich der Westen sicher und stark. Wenn aber der Terror in unseren Städten weitergehen sollte, wir also mit der Bedrohung unserer Heimat konkret konfrontiert werden, werden sich auch wieder genügend Männer finden, die bereit sind, für die Verteidigung ihrer Heimat in den Tod zu gehen.

Was halten Sie von der Entsendung von 3.900 deutschen Soldaten in diesen Konflikt?

Creveld: Das ist eine politische Maßnahme, um den USA die Treue Deutschlands zu versichern. Militärisch ist es bedeutungslos.

In Deutschland wird das Engagement als notwendige Entlastung der US-Streitkräfte verkauft. -Wie empfinden Sie es, daß Deutschland sich mit Vorsatz in einen Konflikt hineindrängelt, der es bislang gar nicht bedroht?

Creveld: Eigentlich finde ich es in der Tat ein bißchen komisch. Aber ich kann dieses Verhalten verstehen, denn die USA sind heute die einzige Supermacht. In ihrer Nähe fühlen sich alle ein bißchen sicherer.

Da es keinen existentielle, sondern lediglich eine politische Motivation für das deutsche Engagement gibt, widerspricht dieses Verhalten doch der von Ihnen vertretenen Analyse, welche Grundsätze hinsichtlich des Krieges zu beachten sind?

Creveld: Sicher, aber da der deutsche Beitrag so klein und unbedeutetnd ist, fällt das kaum ins Gewicht. Es handelt sich ja nur um eine Brigade der Bundeswehr, das kann Deutschland auch ohne direkte Bedrohung aushalten, zumal es sich sowieso nicht um Fronttruppen handelt.

Hat das Bemühen um eine „gerechte“ Lösung von Konflikten überhaupt einen Sinn, oder bricht sich der Krieg als eine Art Naturgesetz immer wieder Bahn?

Creveld: Da es eben keine objektiv gerechte Ordnung gibt, ist dieses Bemühen sehr zweifelhaft. Für die Ursache des Krieges schlechthin, halte ich ganz simpel die Tatsache, daß Männer den Krieg lieben - und Frauen die Krieger. Insofern: Cherchez la femme.

 

Prof. Dr.

Martin van Creveld geboren 1945 in Rotterdam. 1950 wanderte die Familie nach Israel aus. Seit 1971 lehrt er als Militärhistoriker an der Hebräischen Universität von Jerusalem. Van Creveld gilt als einer der bedeutendsten Militärtheoretiker der Gegenwart. Er berät die Streitkräfte verschiedener Nationen, darunter auch das US-Verteidigungsministerium. Immer wieder erregte er mit seinen provokanten und unkonventionellen Thesen international Aufsehen. In seinem 1991 veröffentlichten Buch „The transformation of war“ („Die Zukunft des Krieges“, Gerling Akademie Verlag, 1998) beschrieb er bereits die neue Form des Krieges, mit der sich der Westen seit dem 11. September 2001 konfrontiert sieht.

 

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