© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001

 
Rückblick auf eine vergangene Utopie
100 Jahre Wandervogel: Eine Tagung in Berlin vertieft die Vielfalt einer revolutionären Bewegung
Wolfgang Saur

Die im Sommer abgebaute Ausstellung über den Wandervogel im Heimatmuseum Steglitz (JF 37/01) wird jetzt durch eine weitere, ansprechende Rückschau des Kulturamtes Steglitz ergänzt, die am 1. November in der Schwartzschen Villa eröffnet wurde.

„Fokus Wandervogel“ stellt besonders ab auf die „Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg“. Neben eindringlichen Themenanalysen sehen wir dort berühmte Photos von Julius Groß (1892-1986), synkretistische Tempelentwürfe von Meister Fidus (Hugo Höppner, 1868- 1948) oder Fahrtenbänder und Gitarren von der Burg Ludwigstein. Das Begleitbuch thematisiert ausgewählte Aspekte wie Reformkleidung oder würdigt kritisch Persönlichkeiten wie Paul Schultze-Naumburg (1869-1949) und Hans Blüher (1888-1955).

Warum der Bezirk Steglitz sich derart engagiert? Weil genau hier vor hundert Jahren der Wan­dervogel entstand, und zwar im humanistischen Gymnasium. Es steht noch, und sein gotisierender roter Backsteinbau zog drei Tage lang, vom 1. bis 3. November, zahlreiche Historiker aus dem Bundesgebiet an: Die Gesellschaft für Geistesgeschichte/Potsdam, der Arbeitskreis für Historische Jugendforschung/Ulm und die Bundeszentrale für Politische Bildung/Bonn gestalteten das Symposium „100 Jahre Wandervogel. Geschichte - Deutung - Wirkung“, wo sich den Referenten Gelegenheit bot, die bisherige Wandervogelforschung zu bilanzieren und in einigen Themenkomplexen zu vertiefen. Die Jugendbewegung ist der Gesellschaft für Geistesgeschichte, die mit der Konferenz ihre 43. Jahrestagung bestritt, ein geläufiges Thema, war doch ihr Gründer, Hans-Joachim Schoeps (1909-1980), eine der herausragenden Gestalten des deutschen Konservativismus und der bundesdeutschen Wissenschaft, bündisch geprägt. So hatte sich bereits die 29. Jahrestagung 1986 unter dem Stichwort „Logos und Eros“ mit der „Phänomengeschichte der deutschen Jugendbewegung“ befaßt; der Tagungsband („Typisch deutsch: Die Jugendbewegung“, 1987) hat seither in der Diskussion eine bedeutende Rolle gespielt.

Die aktuelle Tagung nun entfaltete in den drei Sektionen „Zeitgeschichtliche Voraussetzungen“, „Das eigene Wollen: Der ‚neue Mensch’ - der neue Lebensstil“ und „Utopie und Gesellschaft“ eine Fülle neuer Aspekte durch 14 Vertreter der Kunst- und Kulturgeschichte, Pädagogik, Frauen- und Jugendforschung, Sportgeschichte und Musikwissenschaft. Fragen wie: „Nietzsche als Prophet der Jugendbewegung?“, „Die Jugendpolitik im Kaiserreich“ oder „Kameradschaftlichkeit als Leitbild“ wurden diskutiert.

Worum ging es im Wandervogel? Ein Appell Hans Breuers, der den „Zupfgeigenhansl“ schuf (1908), gibt uns einige wichtige Grundmotive. Er schreibt dort: „Aus dem großen Häusermeer steigt das neue Ideal. Erlöse dich selbst! Ergreife den Wanderstab und gehe hinaus und suche den neuen Menschen.“ Gegenwartskritik, Selbstentfaltung, Sinnsuche und Identitätsfindung als utopischer Aufbruch greifen hier ineinander. Die gemeinsamen Fahrten durchbrachen die Einengung beobachtender und kontrollierender Institutionen wie Familie und Schule und eröffneten neue Erlebnisräume, begründeten ein neues Gemeinschaftsgefühl. Dieser temporäre Auszug aus der modernen Urbanität mit ihrer „psychosozialen Ortlosigkeit“ und rationalen Struktur, ist als „rigoroser Rousseauismus“ bezeich­net worden. Doch tritt hier als positive Bezugsgröße nicht der abstrakte Universalismus eines naturrechtlich fingierten idealen Urzustandes auf, sondern die konkreten Erfahrungs­welten der wirklichen Natur, der bäuerlichen Lebenswelt und der heimatlichen Altertümer. Der gewachsene, „organische“ Charakter der alten Städte, Dome und Burgen schien humanen Bedürfnissen besser zu entsprechen als der anonyme Massencharakter moderner Großstädte. Ricarda Huch drückt das 1927 („Im alten Reich“) so aus: „Ich gestehe, daß ich aus Liebe zur Vergangenheit von ... alten Städten erzähle. Ich glaube, daß es eine Grenze des Umfangs gibt, jenseits welcher die Dinge und Verhältnisse nicht mehr schön, nicht mehr zweckdienlich, nicht mehr organisch sein können, und ich glaube, daß wir diese Grenze überschritten haben. Nur das halte ich dem Menschen angemessen, was er persönlich übersehen kann, nur das befriedigt seinen Schönheitssinn und seine Vernunft. Aus diesem Grund liebe ich unsere alten Städte so wie sie bis etwa zum Beginn des 19. Jahrhunderts waren... Viele wissen nicht, wie viel Ursachen wir Deutsche haben, auf unseren Reichtum an Schönheit stolz zu sein“. Diese Erneuerung aus der Rückbesinnung ist ein gemeinsames Charakteristikum europäischer Reformbewegungen um 1900, die Diethart Kerbs/Berlin gliederte in: Naturschutz, Denkmalpflege, Heimatstil, Neue Wohnkultur, Kunsterziehungsbewegung, Körperkultur und Tanz, Gartenstadtbewegung und die neuen ästhetischen Projekte des Jugendstils und Expressionismus. Peter Krüger/Marburg verdeutlichte, daß eine simple Kontrastierung von Modernismus und Antimodernismus sinnlos sei und den dialektischen Charakter oppositioneller Strömungen verkenne. Kritik und Reformprojekte gehörten vielmehr zum Phänomen der Moderne selbst. Den Auftakt zu diesen Bestrebungen hatte die Romantik gegeben, indem sie metakritisch der Aufklärung deren eigene Defizite vorhielt und sie konzeptionell zu überbieten suchte. Dies läßt sich verdeutlichen am Komplex des Sports und der Körperkultur, dem Bernd Wedemeyer/Göttingen eine analytisch luzide Darstellung widmete. Er unterschied drei Paradigmen: die traditionelle staatliche Sportpflege, die englische Idee des Sports und schließlich das Programm des Wandervogels. War die sich von Jahn herleitende, offiziell verordnete Turnerei in stickigen Turnhallen von Drill und Kommandoton geprägt, so war die englische Tradition im Strukturzusammenhang von Leistung, Vergleich und Wettkampf begründet und bereitete mit ihrem Ideal des „Schneller-höher-weiter!“ den modernen Leistungssport vor. Das ganzheitliche Konzept der Jugendbewegung hingegen lehnte die Zurichtung des Körpers als „Mittel zum Zweck“ ab und rückte die Leiblichkeit selbst ins Zentrum. Unter Abweisung des agonalen Aspekts ging es ihr um eine Ästhetisierung und Individualisierung des Körpers, dessen Freiheit und Spontaneität, seine Entfaltung in der Bewegung.

Im Jahr 1900 war fast die Hälfte der Deutschen unter 20 Jahren. Die „Jugendlichkeit“ der neuen Generationsgestalt hat also auch eine statistische Dimension. Dies ging einher mit der Entdeckung eines besonderen „Jugendalters“, seines spezifischen Wesens und Potentials, schließlich der Entwicklung eines „Jugend-Kults“. Als kulturerneuernde und kulturschaffende Kraft sollte der jugendliche Aufbruch aus der dekadenten Welt der Väter herausführen, was seinen vorläufigen programmatischen Abschluß 1913 in den Bekundungen auf dem Hohen Meißner fand. Das Kriegserlebnis veränderte den Wandervogel und radikalisierte ihn. So heißt es bei der Freideutschen Jugend 1921: „Wesen der Jugend aber ist es, revolutionär zu sein, sich aufzubäumen gegen die Enge und Einseitigkeit überkommener fester Normen und Formen... Immer, in Literatur, Philosophie oder Politik war die Jugend Träger eines neuen, vorwärtstragenden und stürmenden Geistes, ... immer war echte Jugend revolutionär.“ Die religiös-utopische Wendung stand im Zeichen des Expressionismus, einer „Essentialisierung der Erfahrung“ und „Sakralisierung des Lebens“ (Roland Eckert). Gleichwohl gewann das Engagement der aus dem Krieg heimgekehrten jungen Männer auf eindrucksvolle Weise praktische Gestalt. Zahlreiche sozialpädagogische Projekte wie Kindertagesstätten, Wohnheime, Schulen und Jugenderziehungsheime wurden von ihnen umstrukturiert und mit neuem Geist erfüllt. Mit ungeheurem Idealismus ging man daran, die Werte der „inneren Wahrhaftigkeit“ und „Selbstverantwortung“ umzusetzen: durch Liebe beispielgebend zu sein, statt Zucht und Ordnung zu verlangen, mithelfende Kameradschaft statt Autorität zu praktizieren und in Zöglingen Subjekte statt Objekte zu sehen, so Norbert Schwarte/Siegen. Heiner Ullrich/Mainz thematisierte die Schulreform anhand des Hamburger „Wende-Kreises“. Mit dem Verzicht auf die „Zensurenpeitsche“, feste Zeitstruktur, Stundenplan, Schulstrafen usw. („Entschulung“) ließ man die alte Regelschule hinter sich und wandte sich ganz der schöpferischen Kraft des Kindes zu. Doch erfolgte mit den Jahren eine Desillusionierung, so daß zwischen 1926 und 1930, im Zeichen der Neuen Sachlichkeit, ein rückläufiger Normalisierungsprozeß einsetzte, pädagogisch eine „Wiederentdeckung der Grenze“. Trotzdem beurteilen wir heute die Wirkung solch gescheiterter Versuche positiv als eine „Sensibilisierung für neue Problemlagen“. Ihr Innovationspotential befruchtet fortan die sozialen Bewegungen und wirkt den Mechanismen des Markts entgegen. So schloß Roland Eckert/Trier mit der Überzeugung, der Wandervogel enthalte eine „Botschaft, die nie vergessen werden darf“.

Daß die Wandervogelbünde gleichzeitig zu einem großen Bundestreffen zusammengekommen waren, bemerkte man an der erklecklichen Anzahl junger Leute, die malerisch in Kluft und mit Klampfe in den Saal einsickerten, am zweiten Tag freilich ganz ins Zentrum des Geschehens rückten. Abends füllten sie die Bühne, sangen und musizierten gemeinsam das reiche Liedgut, das seit einem Jahrhundert schöpferischer Ausdruck eines verwandelnden Gemeinschaftserlebnisses ist.

 

Die Ausstellung „Der Wandervogel und seine Beziehungen zu den Reformbewegungen vor dem Ersten Weltkrieg“ ist bis zum 20. Januar 2002 in der Galerie in der Schwartzschen Villa, Grunewaldstr. 55, zu sehen. Der Katalog mit 144 Seiten kostet 20 Mark. Info: kultur.steglitz-zehlendorf@berlin.de 


 
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