© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/01 09. November 2001


„Wie ein Schneeball, der sich zur Lawine entwickelt“
Im Gespräch: Otto von Habsburg über sein ungarisches Europa-Picknick, das den Eisernen Vorhang einriß, den Weg zum 9. November 1989 und Politik für Europa heute
Baal Müller / Katja Wascher

Kaiserliche Hoheit, Sie haben am Fall der Mauer und damit an der Einigung Deutschlands und Europas durch das von Ihnen an der österreichisch-ungarischen Grenze veranstaltete Paneuropa-Picknick am 19. August 1989 einen erheblichen Anteil. Hatten Sie damals schon eine Vorstellung, welche Bedeutung dieses Picknick erlangen würde?

Habsburg: Nein, das habe ich nicht gewußt. Es war klar, daß sich große Ereignisse ankündigen, aber der tatsächliche Ablauf war dann wie bei einem Schneeball, der sich zu einer Lawine entwickelt. Ich war damals während des Zerfalls des kommunistischen Regimes wieder in Ungarn und habe erst auf Einladung der Jüdischen Gemeinde in Budapest und dann der Universität Debrezen und des Demokratischen Forums gesprochen. Es waren Veranstaltungen mit einer unglaublichen Aufbruchstimmung. Danach haben wir überlegt, wie diese Stimmung weiter zu nutzen ist, ohne den Friedensprozeß zu gefährden, schließlich standen ja noch 80.000 sowjetische Soldaten in Ungarn. Es hat dann jemand - ich weiß nicht mehr genau, ob es meine Tochter Walburga oder mein Sohn Georg gewesen ist, - dieses Picknick vorgeschlagen. Wichtig war auch die Rolle des Malteserordens, an deren Spitze damals Frau Czilla von Böselager stand. Sie hatte die Idee, auch Deutsche aus der DDR, die zu dieser Zeit in Ungarn waren, einzuladen. Es gab einen unglaublichen Ansturm von Trabis an der österreichisch-ungarischen Grenze, bis Walburga eigenmächtig mit deren Öffnung begann. Es war ein kritischer Moment, schließlich gab es noch den Schießbefehl, aber die Grenzbeamten drehten sich um und schauten weg, und die Deutschen liefen alle zu meiner Tochter und baten sie um ein Autogramm. Es war wie in der Chemie: Wenn die richtige Mischung da ist, genügt ein Funken zur Explosion. So hat es begonnen. Es war nicht absehbar, hat sich dann aber ganz konsequent entwickelt. Wenn man an eine Sache glaubt, muß man in ihrem Sinne handeln.

Dabei hat ja vor dem 9. November 1989 kaum noch ein Politiker an die deutsche Einheit geglaubt ...

Habsburg: Es gab ein paar wie Franz Josef Strauß, auf die man zählen konnte, aber die meisten haben genau das Gegenteil betrieben. Wenn man jetzt die Äußerungen dieser Persönlichkeiten, die zum Teil immer noch in hohen Positionen sind, liest, ist es atemberaubend, was die damals gesagt haben. Noch Ende des Jahres 1989, als die Dinge immer sichtbarer wurden, hat man behauptet, die Wiedervereinigung sei kein Thema. Das ist wirklich erschreckend.

Gerade diese Personen haben bald allerlei Verdienste für sich in Anspruch genommen.

Habsburg: Das ist doch immer so. Man tut etwas, und ein anderer krönt sich dafür.

Sie sprechen vor allem Ronald Reagan besondere Verdienste um die Wiedervereinigung zu ...

Habsburg: Wenn wir weiter zurückgehen, dann steht an allererster Stelle Reagan, an zweiter der Papst, der ungeheuer gewirkt hat. Man weiß heute gar nicht mehr, was das für eine Bombe war, als ein Slawe zum Papst gewählt worden ist, noch dazu einer, der den Kommunismus gekannt hat - und an dritter Stelle Helmut Kohl.

Gorbatschow hat dagegen nur reagiert?

Habsburg: Gorbatschow ist ein hochintelligenter Mensch, er ist aber auch ein Kommunist und wollte retten, was zu retten ist. Ein Motor der Freiheitsbewegung war er nicht. Es ist erschreckend, daß man in Deutschland immer solche Treueanfälle für ungeeignete Objekte hat. Ich sehe das jetzt wieder daran, wie Putin in Berlin empfangen worden ist. Putin ist ein ehrlicher Mann - so wie Hitler ehrlich gewesen ist. Wer „Mein Kampf“ gelesen hat, hat gewußt, was Hitler tun wird; aber kaum jemand hat dieses Buch gelesen. Bei Putin ist es das Gleiche. Der Chef des britischen Nachrichtendienstes hat mir nach dem Krieg einmal gesagt: Es gibt keine Staatsgeheimnisse. Bei den Amerikanern werden die geheimen Beschlüsse am nächsten Morgen in der Washington Post veröffentlicht, und bei den Russen erscheinen sie drei Wochen später in irgendeiner Provinzzeitung.

Viele Politiker fordern jetzt eine verstärkte Annäherung an Rußland.

Habsburg: Ein absoluter Wahnsinn! Putin ist ja ein sehr ehrlicher Mensch. Er hat zum Beispiel die von Jelzin eingeführte neue russische Nationalhymne sofort wieder abgeschafft und diejenige wieder eingeführt, die zu Ehren Stalins komponiert worden ist. Stellen Sie sich vor, die deutsche Bundesrepublik hätte nach dem Krieg als Hymne das Horst-Wessel-Lied genommen, mit einem anderen Text. Was wäre dann für ein Geheul gewesen? Und bei ihm nimmt das niemand zur Kenntnis.

Rußland betreibt weiterhin imperialistische Großmachtpolitik ...

Habsburg: Ich bin der Überzeugung, daß Rußland in einer Phase der Resowjetisierung ist. Iwanow reorganisiert die Geheimdienste, genau nach Stalinschem Modell, nachdem sie Jelzin etwas liberalisiert hatte. Aber jetzt ist Rußland geheimdienstlich und polizeilich wieder auf dem Weg dahin, wo es unter Stalin gewesen ist. Und das sagen die uns dazu noch offen!

Glauben Sie, daß uns auch woanders vergleichbare totalitäre Entwicklungen drohen?

Habsburg: Nein, nicht in diesem Ausmaß. In mitteleuropäischen Staaten nicht. Schauen Sie, auch die polnischen Kommunisten sind nicht so wie die russischen. Im kommunistischen Machtbereich hat es überall zwei Zonen gegeben: Eine, in der der Kommunismus siebzig und eine, wo er vierzig Jahre geherrscht hat. Im ersten Fall ist es ihm gelungen, fast alles auszurotten, während es im zweiten noch ein kulturelles Fundament bei den älteren Leuten gibt. Das hat uns beim Wiederaufbau geholfen; es war aber auch ein Grund für die Irrtümer bei der Behandlung Rußlands. Dort hat es keine Infrastruktur mehr gegeben, man hätte bei Null anfangen müssen, stattdessen hat man die größten Kapitalien nach Rußland geschickt und war dann enttäuscht, daß sie weg waren, während man Länder, die noch eine gewisse Infrastruktur hatten, vernachlässigte.

Resultieren diese Unterschiede nicht auch aus den unterschiedlichen Kulturen, schließlich waren Länder wie Ungarn oder Tschechien Teile Mitteleuropas?

Habsburg: Sie sind immer mitteleuropäisch gewesen, natürlich. Rußland hat auch eine Tendenz nach Mitteleuropa gehabt, aber wir können es keinesfalls näher an Mitteleuropa heranführen, bis es nicht dekolonisiert ist. Rußland ist das einzige große Kolonialreich, das noch besteht. Und wenn man es von Asien aus betrachtet, dann sieht man, was noch auf uns zukommt. Es gibt eine stille Invasion von China aus nach Sibirien. Der Gouverneur von Wladiwostok hat darauf hingewiesen, daß etwa 5000 Chinesen jeden Tag den Amur illegal überschreiten, um in Sibirien zu verschwinden. Diese friedliche Invasion, die viel zerstörerischer als eine kriegerische Invasion ist, betreiben die Chinesen im asiatischen Teil Rußlands, in Gebieten, die originär zu China gehörten. Die Chinesen werden nie vergessen, daß Stalin diese Teile Chinas 1945 annektiert hat. Oder denken Sie an die Kurrilen: Dort gibt es noch eine russische Verwaltung und daneben eine Unterverwaltung der chinesischen und koreanischen Mafia. Mit solchen Entwicklungen beschäftigt sich bei uns niemand, obwohl das von entscheidender Wichtigkeit ist. Erst muß Rußland dekolonialisiert werden, bis dahin ist eine zu große Annäherung selbstmörderisch.

Andererseits wirft man auch dem Westen - und zumal den Amerikanern - Imperialismus vor.

Habsburg: Die Amerikaner haben zwar Einflußzonen, wie jede Großmacht sie gehabt hat, aber die Kolonialokkupation, wie Rußland sie betreibt, ist etwas ganz anderes.

Außer diesen Zonen ist es aber besonders die kulturelle Vormachtstellung der Amerikaner ...

Habsburg: ... die aus ihrem technologischen Vorsprung folgt, wobei der Begriff der Kultur heute auch auf Unkultur angewandt wird.

Kultur ist nach angelsächsisch geprägtem Sprachgebrauch alles, was vom Menschen geschaffen wurde. Im Gegensatz dazu unterschied man ja früher im Deutschen zwischen Kultur und Zivilisation.

Habsburg: Wissen Sie, da kommen wir zu dem Problem der Sprache. Die deutsche Sprache ist doch total kaputt gemacht worden. In der Politik gibt es keine klare Aussprache mehr. Ich habe das im Zusammenhang mit den Ostverträgen gesehen: Die wurden auf Deutsch und Russisch geschrieben, und am Ende gab es einen Paragraphen, daß beide gleichermaßen gültig sind. Faktisch sind beide Formulierungen sehr schwammig, und wie immer bei unklaren Verträgen hat sich die Auffassung des Stärkeren durchgesetzt.

Gibt es einen Gegensatz zwischen Kultur und Zivilisation?

Habsburg: Natürlich! Kultur ist das Wirkliche, das aus dem Boden Gewachsene. Zivilisation ist der Überbau.

Zivilisation ist aber auch das, was universal gelten soll, von anderen Kulturen aber oft nur als westlich empfunden wird. Glauben Sie an den ‚Kampf der Kulturen‘?

Habsburg: Daß man jetzt von dem Krieg der Kulturen redet, ist meines Erachtens äußerst gefährlich und sehr unvernünftig, denn es gibt immer Verständigungsmöglichkeiten. Man sollte zuerst die Gemeinsamkeiten betonen, aber das kann man nur, wenn man von der eigenen Sache überzeugt ist. Unseren Kulturpessimismus empfinde ich als beängstigend. Wenn wir unser Selbstbewußtsein wiederfinden, dann können wir uns auch mit anderen verständigen.

Den Multikulturalismus kann man nur vertreten, wenn man selbst keine Kultur mehr hat.

Habsburg: Ja. Es ist das gleiche mit der Religion. Wenn man überzeugt ist von der eigenen Religion, kann man mit den anderen vernünftig reden, weil es doch viel Gemeinsames gibt in der göttlichen Offenbarung.

In der heutigen EU spielt aber der Gedanke einer gemeinsamen abendländischen Kultur keine große Rolle.

Habsburg: Man war etwas ungeduldig bei der Schaffung des vereinten Europa. Robert Schumann und Charles de Gaulle haben gesehen, daß der Beginn mit der wirtschaftlichen Integration ein Fehler war; er war aber notwendig, weil noch keine politische Lösung mit Deutschland - so kurz nach dem Zweiten Weltkrieg - denkbar war. Deshalb mußte man den Weg über die Wirtschaft gehen. Später haben Leute wie Hallstein daraus eine Doktrin gemacht und geglaubt, daß die Wirtschaft die Vorbedingung der Politik ist, aber das ist sie nicht.

Sehen Sie Ihre Arbeit besonders unter dem Aspekt der kulturellen Einheit?

Habsburg: Unter dem kulturellen und dem politischen Aspekt, dem sicherheitspolitischen vor allem. Man glaubte an ewige Sicherheit, weil man einige Jahrzehnte keinen Krieg in Europa mehr hatte. Wenn man 1989 besser vorbereitet gewesen wäre, hätte man beispielsweise unter der Regierung Gaidar in Rußland die Aufnahme der baltischen Staaten in die Nato erwirken können. Heute ist das schon sehr schwierig, und wenn wir noch ein paar Jahre warten, wird es unmöglich.

Gibt es nicht Probleme mit den USA, wenn die Europäer ihre eigene Sicherheitspolitik forcieren?

Habsburg: Wir müssen das tun, wenn wir unsere eigene Sicherheit bewahren wollen. Wir können das nicht anderen überlassen, da waren die Gedanken von General de Gaulle vollkommen richtig. Wenn Frankreich heute immer noch eine gewichtige Position innehat, ist das ausschließlich auf de Gaulles zurückzuführen.

De Gaulle hat sich aber mit seinem Konzept eines starken unabhängigen Europa der Vaterländer nicht durchsetzen können.

Habsburg: Wir müssen selbstverständlich die Partnerschaft mit Amerika fortsetzen, wir verdanken den Amerikanern sehr viel, aber wir müssen auch sehen, daß wir auf eigenen Füßen stehen. Ich verstehe durchaus, daß viele Amerikaner sagen: Warum sollen wir denen helfen, wenn sie sich nicht selber anstrengen; die sind ja wirtschaftlich stärker als wir und weigern sich, ihre Aufgaben zu übernehmen.

Können wir uns zur Wahrung unserer Sicherheit auf Europa und sein näheres Umfeld beschränken, oder müssen wir uns, mit oder ohne amerikanische Anleitung, weltweit engagieren?

Habsburg: Die Freundschaft mit den Amerikanern ist vollkommen klar, nur müssen wir deren Partner werden und nicht immer denken, die Amerikaner sollen doch ein Protektorat aus uns machen. Das ist zwar bequem, aber auf die Dauer wird es unbequem werden.

Eine gewisse Emanzipation von den Amerikanern ist also notwendig?

Habsburg: Bitte, eine Partnerschaft! Wir sind an einer Partnerschaft von Gleichen interessiert, aber ein Protektorat wollen wir nicht.

Gehören zur Partnerschaft auch Einsätze in Afghanistan?

Habsburg: Im Augenblick verkennt man völlig die Realität in Afghanistan. Die Russen sind nach großen Verlusten gescheitert, obwohl sie zuletzt nur noch Asiaten eingesetzt haben, weil die europäischen Russen dafür unbrauchbar waren.

Der Westen möchte dem früheren afghanischen König wieder eine gewichtige Rolle übertragen, und in Bulgarien hat Simeon II. kürzlich die Wahlen gewonnen. Sehen Sie darin, bei aller Unterschiedlichkeit der Bedingungen, nicht ein Indiz dafür, daß man sich in Krisensituationen auf die integrative Funktion von Monarchen besinnt?

Habsburg: In Bulgarien ist Simeon einer der wirklich fähigen Politker, das hat er in seinem ganzen Leben gezeigt. Er ist ein sehr erfolgreicher Wirtschaftsmann, und wenn man die Korruption seiner Vorgänger sieht, dann ist es sehr verständlich, daß er gewählt wurde. Er hat aber eine fürchterlich schwierige Aufgabe vor sich, und ob ihm alles gelingen wird, ist eine andere Frage. Die ganzen Strukturen des Landes sind von den Russen zerstört worden, und auch die sogenannte konservative Regierung in Bulgarien war kein Ideal. Man hat ihn gerufen, weil er erstens ein Sachverständiger, zweitens ein bulgarischer Patriot und drittens kein Parteimensch ist. Es gibt Völker, bei denen die Parteien wenig zählen. Nehmen wir Ungarn als Beispiel: Ich habe sehr gut mit verschiedenen ungarischen Regierungen wie auch mit der jeweiligen Opposition zusammengearbeitet; in den großen Staatsfragen hatten sie alle die gleiche Linie.

Und in Bulgarien war es eine reine Persönlichkeitswahl, keine Renaissance der Monarchie?

Habsburg: Nein, es war eine Persönlichkeitswahl, weil Zar Simeon kein Parteimensch ist. Natürlich hat die Bekanntschaft des Namens eine Rolle gespielt; vieles in Bulgarien ist von der Dynastie, speziell von Simeons Großvater, geschaffen worden. Was der alte König Ferdinand geleistet hat, ist unglaublich.

Aber in ihrem Buch über die paneuropäische Idee erwähnen Sie auch die Vorteile einer gemischten Verfassung, die monarchische Elemente mit demokratischen verbindet. Verhindert das nicht ein allzu schnelles Umkippen in den Extremismus nach der einen oder anderen Richtung?

Habsburg: Das ist ja auch bei einem Automobil so. Man braucht Motor und Bremse. Darum bin ich auch ein Anhänger des Zweikammersystems. Eine gemischte Verfassungsform ist also sinnvoll; wie man sie praktisch gestaltet, hängt aber von den Zeitumständen und dem Genius des Ortes ab.

Man kritisiert immer, daß die Parteien zu viel Einfluß ausüben. Könnte man nicht diese Macht von zwei Seiten beschränken, durch mehr direkte Demokratie einerseits und eine monarchische Instanz, die Tradition und Kontinuität verkörpert, andererseits?

Habsburg: Das muß man pragmatisch sehen, nicht als religiösen Grundsatz. Die Politik ist sehr kompliziert, man kann nicht von Menschen, die ihrer Arbeit nachgehen müssen, erwarten, daß sie sich über alles informieren können. Deswegen bin ich ein Anhänger der repräsentativen Demokratie. Schlecht ist allerdings das Listenwahlrecht. Bei einem Persönlichkeitswahlrecht wird derjenige ins Parlament gewählt, der sich zu Hause bewährt hat. Ich beurteile die Qualität eines Parlaments weitgehend nach dem Hundertsatz der Bürgermeister unter den Abgeordneten. Es ist auch nie eine totalitäre Diktatur über ein Persönlichkeitswahlrecht an die Macht gekommen, sondern immer nur durch Listenwahl. Bei dem ersten großen Sieg der Nationalsozialisten haben sie nicht einmal genug Kandidaten gehabt, so daß dann auch Hitlers Chauffeur Abgeordneter wurde. Ich halte es sehr mit dem schönen Satz von Kaiser Franz Joseph, der auf eine Frage des amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt nach der Aufgabe des Monarchen im 20. Jahrhundert geantwortet hat, er müsse das Volk vor seiner Regierung beschützen. Das wäre jetzt die Aufgabe der Abgeordneten.

Heute sind Exekutive und Legislative aber weitgehend zusammengewachsen.

Habsburg: Ja, die Mischform ist weg. Die Macht der Parteien läßt sich beschränken, wenn man für das Persönlichkeitswahlrecht eintritt. Aber das ist nicht politisch korrekt.

Aufgrund dieser politischen Korrektheit haben sich die großen Parteien einander sehr angeglichen. Alle drängen in eine imaginäre Mitte ...

Habsburg: Darum müssen wir wieder mehr Kontakt zwischen dem Mandatar und seinem Wähler schaffen. Man muß den Staat von unten nach oben bauen.

Andererseits haben wir eine durch die Medien vermittelte Persönlichkeitswahl; die politischen Bindungen lassen nach, und die Menschen wählen denjenigen Kandidaten, der ihnen attraktiver erscheint.

Habsburg: Aber das ist immer einer. Deshalb gibt es diese Korrumpierung unseres politischen Systems durch die Kosten solcher Wahlen. Eine Persönlichkeitswahl ist relativ billig; wenn Sie aber einen einzigen Menschen im ganzen Land popularisieren wollen, müssen sie viel mehr ausgeben. Ich halte es für eine der wenigen Leistungen meines Lebens, wann immer mir es möglich war, verweigert zu haben, mein Bild auf irgendein Plakat drucken zu lassen, weil das gegen meine Auffassung verstößt.

Sollten sich die konservativen Parteien nicht stärker dem Mainstream in Politik und Medien entgegensetzen?

Habsburg: Ja! Einfach sich trauen, so zu sprechen, wie es der Political Correctness widerspricht. Das ist sehr schwer, ich weiß es. Es gibt da ein amerikanisches Sprichwort: „Every kick a push.“ Jeder Fußtritt schiebt einen doch ein bißchen nach vorne. Bismarck hat mit Recht gesagt, es sind nicht die schlechtesten Birnen, an denen die Wespen nagen.

 

Otto von Habsburg wurde am 20. November 1912 als Sohn des österreichisch-ungarischen Kaiserpaares Karl und Zita geboren. Von den Nationalsozialisten steckbrieflich verfolgt, kämpfte er gegen den Anschluß Östereichs, das von Hitler nach ihm benannte ‚Unternehmen Otto‘. Zwischen 1938 und 1945 verhalf er zahlreichen Menschen zur Flucht; außerdem gelang es ihm durch Interventionen beim amerikanischen Präsidenten Roosevelt, eine Bombardierung Österreichs weitgehend zu verhindern. Seit Kriegsende setzt er sich für die Einigung Europas sowie die Befreiung Osteuropas ein; 1972 wurde er Präsident der von Graf Coudenhove-Kalergi 1922 gegründeten Paneuropa-Union, von 1979 bis 1999 vertrat er die CSU im Europäischen Parlament. Otto von Habsburg ist Verfasser zahlreicher Bücher, darunter Die Reichsidee (1986), Karl V. (1990), Zurück zur Mitte (1991), Friedensmacht Europa (1995) und Die Paneuropäische Idee (1999). Zuletzt erschien Ein Kampf um Österreich 1938-1945 (2001).

 

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