© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001

 
Pankraz,
Plinius der Ältere und der geistige Milzbrand

Es besteht Anlaß, das Problemfeld Hysterie - Panik - Pogrom zu besichtigen. Wörter wie „Milzbrand-Hysterie“, „Panik-Keulung von Viehherden“, „Pogrom-Stimmung gegen Leute mit Turbanen und langen Bärten“ geistern herum. Experten sind sich einig, daß die Durchschlagskraft moderner Medien, ihre Allgegenwart, das Ausbrechen von Hysterie, Panik und Pogromstimmung ungemein befördert. Eine gefährliche Panikfront bilde sich heraus, gespeist aus Sensationsmeldungen und dem hinterhältigen Wirken sogenannter Trittbrettfahrer, die die Aufregung durch grundlose anonyme Briefe und Anrufe zusätzlich aufheizen.

An sich braucht es solche Trittbrettfahrer gar nicht. Wenn ein Schreckensereignis derart intensiv ist, daß sich alle nur noch mit ihm und immer wieder mit ihm beschäftigen, genügt oft der winzigste, banalste Anlaß, um innere Erregung unter Ausschaltung jeglichen Überlegens in körperliche Exzesse oder gar Funktionsstörungen umschlagen zu lassen, eben in Hysterie. Ein Mädchen kriegt einen Schreikrampf, und im Handumdrehen stimmen sämtliche alten Weiber der Nachbarschaft in das Geschrei und Geheul ein. So jedenfalls stellte sich die Medizin in älteren Zeiten den Anfang einer Hysteriewelle vor.

Hysterie war „die Krankheit, die aus der Gebärmutter kommt“. Plinius der Ältere empfahl, man solle bei Ausbruch einer Hysterie alle weiblichen Wesen, derer man habhaft werden könne, sofort ins kalte Wasser schmeißen. Das brachte schon deshalb nichts, weil kaltes Wasser selten in genügendem Umfang zur Hand war. Außerdem waren meistens auch Männer beteiligt, die zwar weniger schrien und weniger heulten, dafür aber vor Entsetzen wie gelähmt standen oder in wilder Flucht auseinanderstoben. Die Hysterie wird zur Panik, zum massenhaften Davonlaufen bzw. Händehochheben, manchmal auch zum blinden Umsichschlagen.

Panik bedeutet Zerfall herkömmlicher Führungsstrukturen. Politische Demagogen stellen sich ein oder geben sich zu erkennen, die den Tiger reiten und die panischen Energien in planvoll arrangierte, angeblich „spontane“ Aktionen gegen bestimmte Menschengruppen, gegebenenfalls auch gegen Institutionen oder Gebäude umwandeln, in „Pogrom“ (was russisch ist und soviel wie „Verwüstung“ bedeutet). Pogrome müssen sich nicht immer sofort austoben; besonders unter modernen Medienbedingungen baut sich statt dessen eine latente Pogrom-„Stimmung“ auf, die die momentane Hysterie und Panik überdauert und nun wie eine finster drohende Wolke über den Verhältnissen schwebt.

Verschwörungstheorien und andere Formen wahnhaften Suchens nach Zusammenhängen bekommen Hochkonjunktur. Beileibe nicht alle Trittbrettfahrer sind zynische Spaßvögel, denen es Freude macht, die Menschen zu hysterisieren und in Panik zu versetzen; wohl die meisten meinen es „furchtbar ernst“, fühlen sich als Erkenntnisträger und Warner, wobei ihr Anonymbleiben einzig das Bewußtsein für die Bedrohlichkeit der Lage stärken soll. So wie der Feind im Dunkel bleibt, so will auch der Freund und Warner im Dunkel bleiben, um „Gleichheit der Waffen“ herzustellen.

Noch häufiger als Verschwörungstheoretiker und dunkle Warner kommen in Panik- und Pogromzeiten Simulatoren, Fiktionalisten und Virtualisten vor. Es gehört ja zum Krankheitsbild der Hysterie, daß sich besinnungsloser Anfall und absichtliche Täuschung fast untrennbar vermischen. Der Hysteriker erleidet realen Durchfall und reales Erbrechen, aber er erleidet diese Symptome, weil er sie erleiden will. Die Anwesenheit der Medien und ihre Gier nach immer neuen einschlägigen „News“ leisten der Fiktionalisierung unerhörten Vorschub.

Das „Modell Sebnitz“ ist überall. Einsame Mädchen ritzen sich Hakenkreuze in die Stirn und behaupten, „Faschisten“ hätten ihnen derlei Leid angetan. Harmlose Orientalisten, die beim Spazierengehen - nachdenkend - mit dem einen Fuß in den Rinnstein geraten sind und nun denken, sie seien plötzlich hinkend geworden, schieben das sogleich einem Bioangriff Osama bin Ladens zu. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. „Alles hängt direkt mit mir zusammen“ - die alte Irrenhausperspektive wird Allgemeingut. Faktisch jeder hält sich für ein Opfer, und viele richten sich darauf ein, „unverzüglich zurückzuschlagen“.

Politikern im Amt nützt die latente Pogromstimmung und die Dauerhysterie. Ihre Aufrufe zu Ruhe und Besonnenheit stärken ihre staatsmännische Statur. Wie im Nebenbei können Widersacher zum Schweigen gebracht werden, indem man darauf hinweist, daß es jetzt darauf ankomme, zusammenzustehen und sich diszipliniert um die gerade waltende Führung zu scharen. Außerdem winkt die Aussicht, im Zeichen des faktischen Ausnahmezustands so manches Vorhaben unter Dach und Fach zu bringen, das unter normalen Umständen vielleicht nur sehr schwer oder überhaupt nicht zu haben gewesen wäre.

Den Medien nützt die Hysterie ebenfalls, teilweise schadet sie ihnen aber auch. Sie erhöhen ihre „Quote“, ihren Aufmerksamkeitsgrad, doch ihre Gängelung durch die Politik tritt scharf hervor und zehrt an ihrem Selbstbewußtsein. Und da wir - Pankraz hat schon früher darüber geschrieben - in einer „one-issue society“ leben, in einer Gesellschaft, die stets nur ein einziges Thema verdauen kann, müssen sie sich in einer Weise auf dieses eine Thema konzentrieren, die bald zu Monotonie führt. Es wird noch langweiliger, als es ohnehin schon ist. Tausend Kanäle und ein einziger Käse, in den sich alle teilen.

Der größte Verlierer bei der Dauerhysterie ist der in Sonntagsreden so gern beschworene „kritische Bürger“. Er zuerst muß die Langeweile ausbaden, ihm wird der Mund verboten, er muß sogar gewärtigen, zum bevorzugten Zielobjekt von Pogrom-Anheizern zu werden. Ihm droht nicht weniger als geistiger Milzbrand.


 
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