© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/01 02. November 2001


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Meßlatte
Karl Heinzen

In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ hat der Bundespräsident couragiert und besonnen vor falscher Ausländer-Freundlichkeit gewarnt. Er sagte: Man sollte auch an die 60jäh­rige Frau denken, die in einem Sieben-Familien-Haus als einzige mit deut­scher Herkunft lebt. Bei den vielen un­gewohnten Gerüchen und all der fremden Musik könnte sie sich nicht mehr zu Hause fühlen. Er meinte: Man sollte auch an diese Frau denken, wenn ihr fast das Herz stehenbleibt, weil sie eines Morgens in der Zeitung das Bild jenes netten, jungen Herren entdeckt, der einst ihr Nachbar war und ihr abends nach der Flugschule immer die Einkäufe hinaufgetragen hat. Denn wie so häufig, wenn Johannes Rau einen sei­ner angehimmelten Grundsätze aufgibt, hat er dafür einen guten Grund, und auch wenn er ihn aus nicht minder gutem Grund zu nennen unterläßt, so ist er doch ebenso häufig leicht zu erraten.

Anders als in der Frage, ob das geflügelte Wort „Nie wieder Krieg!“ wirklich nur die Bitte zum Ausdruck bringen soll, keinen Krieg zu führen, bis ein neuer beginnt, ist die Kurskorrektur in der Behandlung des Einwanderers nun aber nicht nur beschlossen, sondern auch vermittelbar. Nachdem die Bundes­republik eine sogar mit militäri­schen Mitteln vorgetragene Ausländer­feind­lichkeit im Ausland gutheißt und dort demnächst vielleicht selber auf diese Weise zur Tat schreitet, ist es nur folgerichtig, auch die bisherige Praxis im Inland neu zu überdenken. Die Zeit drängt. Offenbar haben es einige der Attentäter von New York verstanden, längere Zeit unbehelligt in Hamburg zu leben, ohne notorischen Ausländerhas­sern, auf die man sich doch sonst ver­lassen kann, in die Hände zu fallen. Wenn sich derartiges wiederholt, dürfte es den Amerikanern niemand übelnehmen, wenn sie Deutschland einer zumindest indirekten Duldung des Terrorismus be­zichtigen und mit Spezialkräften und unter Inkaufnahme der dabei üblichen Kollateralschäden in Ordnung bringen, was die dafür eigentlich zuständigen deutschen Stellen nicht schaffen oder nicht schaffen wollen.

Das Problem sind nicht jene Immigran­ten, die sich in unserem Land nicht in­tegrieren lassen können oder wollen. Das Problem sind auch nicht jene, die darüber vielleicht sogar zu Straftätern werden - sie sind sogar am allerwenigsten zu einem Handeln aus dem Ver­borgenen heraus imstande. Unsere Wach­samkeit hat vielmehr genau jenen zu gelten, die gut zu uns passen. Ihrem Respekt vor unserer Leitkultur sollten wir mißtrauen.

Die Absage an das Ius sanguis in der Einwanderungspolitik zeigt, wohin die Reise zu gehen hat: Wer bei uns bleibt, darf nicht anhand von starren Kriterien, sondern muß politisch entschieden werden. Weder die Abstammung, noch die Sprachkenntnisse, noch die Dauer des Aufenthaltes dürfen hier ausschlaggebend sein. Meßlatte ist einzig und allein das Grundgesetz. Seine Höhe von Fall zu Fall festzulegen, ist die Politik geübt.


 
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