© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Nach dem Jüngsten Gericht der Geschichte
Peter Graf Kielmanseggs abschließendes Werk der Siedler Handbuchreihe „Die Deutschen und ihre Nation“
Kai Zirner

Ein Reihenwerk, das „Die Deutschen und ihre Nation“ heißt, beziehungsweise in seinen das Mittelalter behandelnden Teilen „Das Reich und die Germanen“ sowie „Das Reich und die Deutschen“, läßt die Vertreter politischer Korrektheit Schlimmes vermuten und wird wohl nur noch vom Titel des Parallelwerkes „Deutsche Geschichte im Osten Europas“ übertroffen. Wenn dann noch Horst Möller („Fürstenstaat oder Bürgernation“) und Michael Stürmer („Das ruhelose Reich“) mittun - ursprünglich war sogar Ernst Nolte vorgesehen -, müssen bei Jürgen Habermas die Alarmglocken schrillen.

Auch daß das Werk im Hause des vielleicht letzten Bildungsbürgers und Patrioten Wolf Jobst Siedler erscheint, macht die Sache für die linksliberalen Meinungsführer nicht besser. Zwar befindet sich der Siedler Verlag im Zeichen der Monopolbildung längst im Besitz von Bertelsmann, der Verleger Siedler mischt glücklicherweise aber immer noch mit. Die zwölfbändige deutsche Geschichte zeichnet ohnehin ganz die Handschrift Siedlers aus. Dem letzten Band der Reihe aus der Feder des Nipperdey-Schülers Adolf Birke, „Nation ohne Haus. Deutschland 1945-1961“, ist nun noch ein dreizehnter gefolgt, der sich teilweise mit dem Birkes überlappt. Noch vor dem Mauerfall hatte Siedler mit dem Mannheimer Politologen Peter Graf Kielmansegg, einem gestandenen Historiker („Deutschland und der Erste Weltkrieg“), über die Fortschreibung des Reihenwerkes gesprochen. Nach zehnjähriger Arbeit ist nun seine „Geschichte des geteilten Deutschland“ erschienen.

Im Vergleich zu den Vorgängerbänden ist die Bebilderung spärlicher ausgefallen, dafür wirkt das Druckbild angenehmer. Der Anmerkungsapparat enthält im wesentlichen nur den Nachweis der Zitate und einige Ergänzungen, dafür ist das gegliederte Quellen- und Literaturverzeichnis recht umfangreich. Ein feingliedriges Inhaltsverzeichnis und ein Personenregister beschließen den Band. Der Preis von knapp hundert Mark ist für das Gebotene moderat. Als Zielgruppe erscheint das Ebenbild des Verlegers, der Bildungsbürger.

Kielmansegg beschränkt sich nicht auf gehobene Chronologie, vielmehr verbindet er Ereignisgeschichte mit historischen Reflexionen, schildert Alternativen und Sackgassen, nimmt zu Forschungsmeinungen Stellung und nennt Desiderata. Das zeigt sich schon bei seinem Ausgangspunkt: der totalen Niederlage der Deutschen am 8. Mai. Die Niederlage war total auf allen Ebenen: militärisch, wirtschaftlich, kulturell, politisch und moralisch. „Nie zuvor in der neuzeitlichen Geschichte Europas war ein besiegter Staat so vollständig in die Gewalt der Sieger gefallen“, da drängte sich die Frage auf: Finis Germaniae? Kielmansegg antwortet ambivalent: Nach 1945 habe eine neue deutsche Geschichte begonnen - mit Abstrichen. Der deutsche Osten, es „gibt ihn nicht mehr - er ist in einem wirklichen Jüngsten Gericht der Geschichte untergegangen. Und mancher Stadt, Dresden etwa, werden die Male eines beinahe karthagischen Endes immer aufgeprägt bleiben.“

Was heute zum Standardrepertoire aller Festreden à la Weizsäcker gehört, alles Leiden der Deutschen - vom Beginn des Zweiten Weltkrieges bis zur Teilung - sei eine unausweichliche Konsequenz von „1933“ gewesen, weist Kielmansegg für die Teilung entschieden zurück. Sie ist ein Produkt des Kalten Krieges, der jedoch erst nach dem schrittweisen Zerbröckeln der Anti-Hitler-Koalition 1946/47 begann. Der Nationalsozialismus und sein Krieg waren nur Bedingungen, die die Teilung möglich machten. Und wenn man nach Vorentscheidungen sucht, dann sind dies, so Kielmansegg, das singuläre Kriegsziel der bedingungslosen Kapitulation, das vom US-Präsidenten Roosevelt ins Spiel gebracht worden war. Hinzu kommt die Entscheidung, Deutschland mit der Fiktion eines einheitlichen Wirtschaftsgebietes in Besatzungszonen aufzuteilen, und Stalins Ansinnen, sich auf Kosten einer polnischen Westverschiebung zu bereichern. Man muß Kielmansegg zustimmen, die Entscheidung über den Osten war am 8. Mai 1945 de facto endgültig. Alle rechtlichen Vorbehalte und alle Hoffnungen der Vertriebenen waren Illusionen. Nicht Helmut Kohl hat den deutschen Osten verraten, wie es rechte Rhetorik will, der deutsche Osten war längst weg, und daraus ergab sich eine einfache Konsequenz, die heutzutage kaum ein Historiker auszusprechen wagt. Kielmansegg tut es: „Deutschland würde ohne seinen Osten nie mehr sein, was es einmal gewesen war.“ Kielmansegg setzt also entgegen landläufiger Trends sehr stark auf den Zäsurcharakter vom 8. Mai 1945.

Den Ausbruch des Kalten Krieges erklärt Kielmansegg aus dem Systemgegensatz von Ost und West, den Weg zur deutschen Teilstaatlichkeit, zur Bildung des Weststaates, seien die Angelsachsen gegen den erbitterten Widerstand der Franzosen als Reaktion auf die russische Hegemoniebildung in Osteuropa und die daraus resultierende Bedrohung gegangen. Aber auch die Westdeutschen stemmten sich nicht erbittert gegen die Teilung: die Anfänge der Westbindung liegen auch im westdeutschen Bedürfnis nach Sicherheit und Wohlstand. Anders als heute war das Gemetzel der Roten Armee noch jedem präsent. Stalins strategischen Ziele bleiben unklar, wie überhaupt Kielmansegg nicht zu vorschnellen Urteilen neigt.

Die Reeducation wertet er allerdings im Einklang mit neueren Urteilen der Geschichtswissenschaft wohl zu positiv. Sie war eben nicht nur Demokratisierung, sondern auch Uniformierung und Nivellierung bedeutender deutscher Traditionsstränge. Die Westbindungspolitik Adenauers feiert der Autor unkritisch als ein endlich geglücktes Ankommen im Westen. Kielmansegg verengt bei dieser Urteilsbildung die sogenannte „Westernisierung“ zu sehr auf die außenpolitische Option, obgleich er ansonsten auch eine sehr breite Mentalitätsgeschichte der Bundesdeutschen liefert. Die „Westernisierung“ müßte jedoch auch als Verlustgeschichte geschildert werden, um sie angemessen verstehen zu können.

Etwas blaß bleibt auch Kielmanseggs Schilderung des Mentalitätsbruches von 1968. Dagegen geht der Autor ausführlich der Frage nach, warum die westdeutschen Literaten „Bonn“ so aggressiv und denunziatorisch begleiteten, während ihre DDR-Kollegen dem „Pankower“ Staat viel positiver gegenüberstanden. Wie erklärt sich diese verkehrte Welt? Die West-Intellektuellen wollten nicht begreifen, daß ihre Mitbürger, anstatt Trauerarbeit zu leisten und den Sozialismus aufzubauen, am Wohlstand arbeiteten und sich erneut bewaffneten. Kielmansegg weist darauf hin, daß immerhin 10.000 Menschen wegen ihrer Rolle im Dritten Reich in der Nachkriegszeit verurteilt worden waren, 800 Todesurteile wurden gefällt. Damit nimmt Deutschland in der Vergleichsdisziplin „Aufarbeitung einer Diktatur“ wohl einen Spitzenplatz ein. Kielmansegg gibt jedoch die These Hermann Lübbes zu bedenken, daß eine „gewisse Zurückhaltung in der Thematisierung individueller oder institutioneller Nazi-Vergangenheit“ nötig gewesen sei, um zwar nicht diese Vergangenheiten, aber doch ihre Subjekte in den neuen Staat zu integrieren. Die moralischen Postulate der BRD-Literaten wirken gegenüber diesem Nachdenken demgegenüber geradezu primitiv. Später hat sich freilich Habermas - im Gegensatz etwa zu Heinrich Böll - für seine Ablehnung der Adenauerschen Westpolitik entschuldigt. Dennoch: Bei jedem innenpolitischen Konfliktpunkt, sei es die Wiederbewaffnung, die Notstandsgesetze, die Atompolitik, Nachrüstung oder die Asylgesetzgebung beschworen die Literaten ritualhaft die NS-Vergangenheit. Währenddessen gingen die DDR-Schriftsteller zunächst dem antifaschistischen Gründungsmythos ihres Staates, dann den Hoffnungen auf ein sozialistisches Potential und schließlich bis zum Schluß dem antikapitalistischen Feindbild auf den Leim. Verzweifelt kämpften sie selbst nach der Wende um eine sozialistisch reformierte DDR. Bei aller Zurückhaltung kann Kielmansegg sein Unverständnis gegenüber der literarischen Ignoranz in Ost und West nicht verbergen.

Ein Glanzstück in seinem Werk ist ihm dann noch einmal mit seinem Schluß gelungen, der dichten Schilderung der „329 Tage“ zwischen dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung. Dabei rückt er einige Legenden zurecht: Die Zustimmung Gorbatschows zur Nato-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands gab dieser schon am 31. Mai 1990 in Washington, und zwar gegenüber den US-Amerikanern. Beim berühmten Strickjacken-Treffen im Kaukasus im Juli wiederholte Gorbatschow dann dieses Zugeständnis gegenüber Kohl. Der hatte den Amerikanern versichert, eher werde er auf die Einheit verzichten als auf die Nato-Zugehörigkeit! Noch die Nachrüstung im Gedächtnis, glaubten die Amis ihm, während Genscher in der Bündnisfrage einen Schlingerkurs fuhr.

Für die Wiedervereinigung waren zunächst nur - sehr verklausuliert - Kohl mit seinem Zehn-Punkte-Plan und die Bush-Administration gewesen, welche die deutsche Bündnissolidarität sichern und sich ihren Vorposten in Europa ausbauen wollten. Kohl und Bush waren die treibende Kraft des Wiedervereinigungsprozesses, der keineswegs in dieser Form zwangsläufig war, wie Kielmansegg mit Blick auf die Alternative einer Lafontaine-Regierung feststellt. Neben Thatcher, Gorbatschow und Modrow war auch Kohls Freund Mitterrand gegen die von den Siegermächten 1955 eigentlich zugesicherte Wiedervereinigung. En passant bestätigt Kielmansegg die Version vom Tauschhandel „DM gegen Wiedervereinigung“. Schließlich tritt der Autor der Legende von der westdeutschen
Okkupation der DDR dezidiert entgegen. Denn demokratisch entschieden über die Vereinigung haben allein die DDR-Bürger: Erst in der Volkskammerwahl vom 18. März, die zu einem 75-Prozent-Plebiszit für die Wiedervereinigung geriet, dann repräsentativ in der Volkskammersitzung am 23. August. Auch lief nicht alles nach westdeutschem Wunsch. Die Währungsunion, die Bargeld sowie kleineren Guthaben das Wahnsinnstauschverhältnis „eins zu eins“ garantierte und die rechtsstaatswidrige Behandlung der Enteignungen sind zwei Beispiele dafür, wie die DDR-Führung Positionen zum Schaden des Gemeinwohls durchsetzte. Kielmanseggs Werk ist kein Handbuch, auch kein Forschungskompendium. Es setzt Kenntnisse der Nachkriegsgeschichte voraus und fordert zum Mitdenken, mitunter auch zum Widerspruch auf. Insofern handelt es sich um große Geschichtsschreibung.

Peter Graf Kielmansegg: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland (Die Deutschen und ihre Nation). Siedler Verlag, Berlin 2000, 736 Seiten, 152 Abb., geb., 98 Mark


 
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