© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/01 26. Oktober 2001

 
Apokalypse bald
Kino: „Kiss of the Dragon“ von Chris Nahon
Werner Olles

Im Thriller drücken sich die Krisen unserer Gesellschaft und ihrer offiziellen Moral genauso aus wie die Faszination des modernen, urbanen Lebens mit seiner rauschhaften, gewalttätigen und schnellen Existenzweise. Daneben stellt der Thriller aber auch die Frage nach dem individuellen Schicksal als Ausdruck einer Schuld oder Abhängigkeit, und er schildert das Leben in einer Gegenwelt, die mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihren speziellen Besitzverhältnissen permanent in Konflikt steht. Seine Helden sind dabei oft genug „normale“ Bürger, die zu Mördern werden, weil die Zwänge, denen sie unterworfen sind, ihnen keinen anderen Ausweg erscheinen lassen. Nur sehr selten erzählt der Thriller hingegen vom Verbrechen aus Passion oder Obsession.

Mit den sogenannten Kung-Fu-Gangsterfilmen aus Japan, Hongkong und zunehmend auch der VR China eroberte das Subgenre des Actionthrillers in den achtziger Jahren die Kinos und brachte den puristischen Apologeten des Thrillers das Fürchten bei. Zwar war das Genre auch bisher schon von einer gewissen Bewunderung für die Gewalt und von apodiktischen Feindbildern geprägt, aber der kriegsähnliche Zustand, in dem sich die diversen gesellschaftlichen Gruppen, Polizei, Verbrecher, Bürger im Actionthriller befinden, bedeutete doch eine gewaltige Zäsur. Seine antiintellektuelle Weltsicht und destruktive Naivität, vor allem aber die ungezügelte Brutalität, mit der seine Helden agieren, bieten ein apokalyptisches Bild der urbanen Gesellschaft und deprimierende Visionen einer chaotischen Zukunft. Daran ändert auch nichts, daß der Action-thriller im Gegensatz zum Thriller in der Regel ein Happy-End hat.

In „Kiss of the Dragon“ kommt der chinesische Polizeiagent Liu Jian (Jet Li) in geheimer Mission nach Paris, um der dortigen Polizei beim Kampf gegen ein Drogenkartell zu helfen. Aber der Auftrag entpuppt sich sehr schnell als völliges Desaster, denn der korrupte und äußerst brutale Kommissar Richard (Tcheky Karyo) lockt ihn in eine Falle, und Liu findet sich urplötzlich inmitten einer gefährlichen Verschwörung. Ohne Schutz und Freunde, eines Mordes verdächtigt, den nicht er begangen hat, sondern Richard, flüchtet er durch die ihm fremde Stadt. Als er die verzweifelte Jessica (Bridget Fonda) kennenlernt, die Richard mit Heroin vollgepumpt und zur Prostitution gezwungen hat, kämpfen sich die beiden gemeinsam durch heimtückische Hinterhalte und Fallen ihrer Gegner. Und schließlich steht Liu nach einer gnadenlosen Jagd durch Paris seinem Todfeind Auge in Auge gegenüber...

Nein, Liu Jian ist alles andere andere als Charlie Chan, jener biedere fernöstliche Detektiv, der mehr an Sherlock Holmes oder Dr.Watson als an eine präzise, tödliche Kampfmaschine erinnerte. Er ist vielmehr ein professioneller Wushu-Künstler und Martial-Arts-Champion, der die Polizeiarbeit auf spektakulär choreographierte Kampfszenen reduziert, die aber gleichwohl mit der Zeit ermüdend wirken. Daß der Film in den USA auf Anhieb ein Hit wurde und in den ersten vier Wochen bereits über 35 Millionen Dollar einspielte, verwundert indes nicht. Luc Besson („Das fünfte Element“), der das Drehbuch schrieb und „Kiss of the Dragon“ gemeinsam mit Jet Li produzierte, engagierte mit Chris Nahon, einem ehemaligen Cartoonzeichner und Regisseur von Werbespots, genau den Richtigen, um jene Mischung aus explosiven Actionszenen, angedeuteter Wushu-Philosophie und extrem gewalttätigen Bildern zu inszenieren, die heute offenbar den kommerziellen Erfolg garantiert.

In den harmloseren Kampfszenen erinnert das bisweilen an die Eddie-Constantine-Filme der fünfziger Jahre, in denen Lemmy Caution die miesen Gangster gleich reihenweise außer Gefecht setzte. Aber während man damals wußte, daß die sich irgendwann wieder erholen und aufstehen würden, ist der „Kuß des Drachen“ in jedem Fall tödlich. Und so brechen dann die Genicke, knacken die Knochen, und Jet Li wird nicht müde,dies alles mit treuem Dackelblick zu garnieren, hin und wieder die traditionelle chinesische Medizin zu ganz und gar nicht heilenden Zwecken zu mißbrauchen und ein paar fernöstliche Weisheiten zum besten zu geben. Wem derlei gefällt, der wird von den unepischen und überdeutlichen Bildern des Films, die nur wirken, solange man sie sieht, begeistert sein. Wer dem Mythos vom individuellen Genie des Polizisten und des Gangsters anhängt und dem heimlichen romantischen Schauder vor dem Verbrechen, wird das Kino einmal mehr enttäuscht verlassen. 


 
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