© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/01 19. Oktober 2001

 
Wenn die Zahlen lügen
von Bernd-Thomas Ramb

Wenn der deutsche Bundeskanzler Schröder den Prognosen deutscher Wirtschaftsforschungsinstitute immer weniger Bedeutung zumißt, ist dies nicht allein der Tatsache zuzuschreiben, daß die präsentierten Werte immer weniger seinen politischen Zielvorgaben entsprechen, er liegt auch voll im allgemeinen Trend der heutigen Zeit. Kaum einer mag noch Wirtschaftspropheten glauben, die langfristige Vorhersagen quasi im Monatstakt korrigieren. Die Schätzungen für die Entwicklung des Bruttosozialprodukts in diesem Jahr bilden ein Paradebeispiel für den Niedergang der Glaubwürdigkeit offizieller Prognosewerte. Innerhalb eines halben Jahres sanken die Wachstumsprognosen von über drei Prozent auf unter ein Prozent. Unglaubwürdiger kann sich eine Prognose kaum präsentieren. Ähnliches trifft, wenn auch weniger spektakulär, für die Entwicklungsvorhersagen der Inflation und der Arbeitslosigkeit zu.

Daneben gelangt - auch kräftig - haben Wirtschaftsforschungsinstitute in der Vergangenheit immer wieder einmal. Nie aber war das Renommee der Wirtschaftsprognose und das der Wirtschaftsforscher so angeschlagen wie heute. Natürlich gab es nebenbei auch Wirtschaftsvorhersagen, die näher an der Wirklichkeit lagen als die von Regierungsseite, Sachverständigenrat und Forschungsinstitute veröffentlichten. Sie blieben aber weitgehend unbeachtet oder nur einem kleinen Kreis zugänglich. Möglicherweise lagen sie auch im Kenntnisbereich der Bundesregierung und anderer Organisationen, die für die Lenkung oder Gestaltung der wirtschaftlichen Aktivitäten relevant sind. Das Licht der medialen Vervielfältigung erreichte sie jedoch nicht. So muß zusätzlich unterschieden werden zwischen den Prognosen, die der breiten Öffentlichkeit präsentiert werden, und solchen, die in der verborgenen Welt des Scharfblicks verbleiben.

Erstaunlich bleibt in diesem Zusammenhang, daß die realistischeren Prognosen, die ja geringere Werte vorhersagten als die optimistisch hohen Schätzungen der Regierung, nicht von der Opposition aufgegriffen wurden, um die Regierungspolitik zu attackieren. Gerade vor dem Szenario sinkender Wirtschaftsprognosen im Zusammenhang mit sinkenden aktuellen Werten könnte die Regierung von der Opposition verschärft in die Verantwortung gezogen werden. Daß dies nicht - zumindest nicht in einem öffentlich wahrnehmbar breiten Umfang - erfolgt, kann auf mehrere Ursachen zurückgeführt werden. Zunächst ist die Nähe zur früheren eigenen Regierungsverantwortung anzuführen. Noch befindet sich die jetzige Regierung in einer Phase, in der sie ausbleibende wirtschaftliche Erfolge auf die Fehler der vergangenen Regierung zurückführen kann. Die hohe Staatsverschuldung ist beispielsweise weniger der heutigen Regierung als der früheren zuzuschreiben. Würde die Opposition zu laut die Versäumnisse der Regierung beim Schuldenabbau anprangern, käme unweigerlich der Vorwurf, die Schulden habe die heutige Opposition in ihrer früheren Regierungszeit verursacht und die jetzige Regierung eine Erblast zu tragen. Dieser Mechanismus wiederholt sich bei jedem Regierungswechsel, so daß er immer häufiger bewußt instrumentalisiert wird. Jede Regierung, der der Machtverlust droht, neigt deshalb verstärkt dazu, das Haushaltsdefizit zu vergrößern, also Staatsausgaben, die von den Wählern als Wohltaten verstanden werden, auszuweiten oder Staatseinnahmen, die von den Wählern als unangenehm empfunden werden, einzuschränken. Führt diese Form von Wahlgeschenken nicht zum Machterhalt, wird wenigstens der Schuldenberg der Nachfolgeregierung überlassen.

Zusätzlich kann - wie im Falle der gegenwärtigen Wirtschaftsrezession - das Faktum einer gemeinsamen Verantwortung von Regierung und Opposition vorliegen, die eine überzogene Kritik der Regierungsaktivitäten verhindert. Die bestehende Wirtschaftsflaute beruht nicht zuletzt auf der problematischen Europapolitik mit der einheitliche Euro-Währung und der zentralistischen Gestaltung der Wirtschaftsordnung. Beides aber wurde sowohl von den Oppositions- als auch von den Regierungsparteien initiiert. Eine laute Kritik an der derzeitigen Wirtschaftslage, die einer genauen Ursachenforschung nicht ausweicht, würde somit sowohl die Regierung als auch die Opposition in die Verantwortung ziehen.

Ein weiteres Motiv für die gemeinsame Zurückhaltung bei der Klage über den desolaten Wirtschaftszustand liegt in der übereinstimmenden Einschätzung der Bedeutung psychologischer Verstärker in der Wirtschaft. Das Lamentieren über die schlechte Konjunkturlage wirkt wenig motivierend. Daher wird nicht nur grundsätzlich Optimismus und Schönwetterstimmung verbreitet, sondern auch den Befragungen zur Stimmungslage der Unternehmen große Bedeutung beigemessen und die kleinste Verbesserung der Stimmung groß herausgestellt. Sätze wie, man lasse sich die Konjunktur nicht kaputtreden oder „Die Lage ist besser, als sie sich darstellt“, kennzeichnen das Bemühen, negativen psychologischen Verstärkern des Wirtschaftsabschwungs rhetorisch entgegenzuwirken.

Dieses Motiv, vielleicht auch überwiegend regierungsfreundliche Grundpositionen, beeinflußt auch das Verhalten der medialen Öffentlichkeit bei der Wahrnehmung und Verarbeitung von Wirtschaftsprognosen und Wirtschaftsdaten. In diesem Kontext ist es bezeichnend, daß in den Zeitungen und Zeitschriften, im Rundfunk und im Fernsehen, mehr über persönliche Eskapaden der Politiker berichtet wird und die Darstellung der Wirtschaftslage sich im wesentlichen auf Börsennotierungen und die Wechselkursänderungen von Dollar zu Euro beschränkt, ohne in breiter Aufklärung der Bevölkerung auf die Ursachen zu verweisen. Schlechte Wirtschaftsdaten werden durchaus veröffentlicht, eine fundierte Analyse der Entstehungsgründe, vor allem aber die Präsentation geeigneter Gegenmaßnahmen und Politikalternativen bleibt jedoch nur einer geringer Zahl weniger auflageträchtiger Publikationen oder Sendern vorbehalten, die wenig Gehör oder kaum Zuschauer finden. Weiterhin ist zu konstatieren, daß sich in der heutigen Zeit die Medienmacher nicht nur als vierte konstitutionelle Macht verstehen, sondern zunehmend auch als die eigentlich bessere Regierungsalternative, zumindest als die bessere Opposition. Demzufolge gilt alles zuvor über die Regierung und die Opposition gesagte weitgehend identisch für die Medien.

Es bleibt die Frage nach der Stellung der Wirtschaftswissenschaft. Sie offenbart das Hauptdilemma der wirtschaftlichen Realität in der Konfrontation mit wirtschaftlichen Wunschträumen. Schließlich äußern sich hier Fachleute, die etwas vom Metier der Wirtschaft verstehen, zumindest aber einen Wissensvorsprung vor der allgemeinen Öffentlichkeit besitzen sollten. Zudem denken sich die regierungsamtlichen Stellen ihre Wirtschaftsprognosen nicht aus, sondern greifen auf die Analysen von ministeriellen Fachabteilungen, sachverständigen Gutachtern oder Forschungsinstituten zurück. Darin offenbart sich allerdings auch ein erster Nachteil der wissenschaftlichen Äußerungen zu wirtschaftlichen Sachverhalten: die finanzielle Abhängigkeit. Natürlich wird kein Wirtschaftswissenschaftler, der einen Ruf zu verteidigen hat, ohne Not Gefälligkeitsgutachten abgeben. Schließlich würde seine Reputation auf Dauer leiden, wenn er wiederholt falsche oder unzutreffende Wirtschaftsanalysen veröffentlicht. Andererseits sind häufig große Personalstäbe zu unterhalten und Budgets zu erwirtschaften. Gerade Forschungsinstitute sind den Regierungshaushalten auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Gutachten bieten vielen unterbezahlten Universitätsprofessoren ein wichtiges Zusatzeinkommen. Damit soll nicht einer allgemeinen Bestechlichkeit der Wissenschaft das Wort geredet werden. Eine gewisse Beeinträchtigung bei der Darstellung der Untersuchungsergebnisse durch den Auftraggeber dürfte jedoch mindestens im Bereich des Unterbewußten kaum zu verleugnen sein. Dies gilt um so mehr, als die Leitungspositionen in größeren Forschungsinstituten und die Zusammensetzung von Beratungsgremien zunehmend nach parteipolitischen Gesichtspunkten oder direkt nach der Parteizugehörigkeit gestaltet werden.

Auf der anderen Seite verschwinden Untersuchungen, deren Ergebnisse dem Auftraggeber nicht genehm sind, immer häufiger sang- und klanglos in der Schublade. Nicht jedes Gutachten und nicht jede Forschungsstudie, zumal wenn sie eine Auftragsarbeit beinhaltet, erfährt die gleiche öffentliche Präsentation. Dies gilt vor allem für wirtschaftswissenschaftliche Untersuchungen mit Empfehlungen für die entsprechende Wirtschaftspolitik. Altbundeskanzler Schmidt rühmte sich sogar öffentlich, die Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage in der Regel ungelesen in den Papierkorb zu werfen. Schmidt konnte sich als gelernter Diplom-Volkswirt und Schüler des wirtschaftspolitischen Großmeisters Karl Schiller wenigstens noch damit herausreden, es besser zu wissen als die gutachtenden Kollegen. Heute mehren sich die Kenntnisverweigerungsakte von Ministern ohne volkswirtschaftliches Basiswissen. Die vor einiger Zeit erfolgte, öffentlich dokumentierte Ignoranz eines Gutachtens zur Wohnungswirtschaft, das von dem damaligen Leiter des Münchner Ifo-Instituts erstellt wurde, ist zumindest der wirtschaftswissenschaftlichen Fachwelt noch in deutlicher Erinnerung. Aufschlußreich ist auch die zunehmend hilfloserer Präsentation der halbjährlichen Wirtschaftsgutachten der sogenannten fünf Wirtschaftsweisen. Das Gefühl, für den Papierkorb gearbeitet zu haben, spiegelt sich offen in den Mienen der Gutachtergesichter wider.

Allerdings sind auch die Wirtschaftswissenschaftler nicht frei von Schuld zu sprechen. Zu häufig sind ihre Prognosen nicht eingetroffen, zu widersprüchlich sind die zahlreichen Empfehlungen zur praktischen Wirtschaftspolitik und zu gering erscheint vielfach der Wissensvorsprung der Fachleute gegenüber der Wahrnehmungskraft der Laien. All dies wird natürlich durch eine zunehmende Abhängigkeit der Fachleute von der Politik verstärkt. Dabei spielt nicht nur die finanzielle Abhängigkeit eine Rolle. Nicht selten beeinflussen enge persönliche Beziehungen zwischen Politikern und Wissenschaftlern, die sich zudem in der gleichen Parteizugehörigkeit manifestieren, die Tendenz der „wissenschaftlichen“ Aussage. Diese Erscheinung geht über den Charakter eines gelegentlichen Gefälligkeitsgutachtens hinaus. Oft stecken handfeste ideologische Verbundenheiten dahinter. Das Phänomen der 68er-Generation, das die heutige Tagespolitik bestimmt, spiegelt sich auch im Wissenschaftsbetrieb wider. Damit geht nicht nur die inhaltliche Ausrichtung der Wirtschaftsaussagen, sondern auch ein enormer Qualitätsverlust einher. Die politische, universitäre und wissenschaftliche Fachwelt leidet heute noch unter den Beförderungsschüben der siebziger Jahre. Die Mittelmäßigkeit, die damals in höchste Ränge der Politik, der Universitätsverwaltungen und der Wissenschaftsbetriebe gespült wurde, bildet jetzt und in Zukunft den unüberwindlichen Maßstab. Eine Änderung ist erst dann möglich, wenn dieser Teufelskreis durchbrochen wird, in dem Mittelmaß nur Mittelmaß neben sich und als Nachfolger duldet.

Zwei reale Probleme folgen aus der wirtschaftswissenschaftlichen Misere. Das erste betrifft die Akzeptanz wissenschaftlicher Erkenntnisse über die Funktionsweise der Wirtschaft, insbesondere im Hinblick auf wirtschaftspolitische Lenkungsmöglichkeiten. Diese Erkenntnisse können falsch und trotzdem von den politisch relevanten Kräften akzeptiert sein oder richtige Aussagen darstellen, die schlicht ignoriert werden. Ein anschauliches Beispiel stellt die Rentenpolitik dar. Die Auffassung, daß die bislang verfolgte Politik der umlagefinanzierten Rente keine Zukunft besitzt, wird unter den Wirtschaftswissenschaftlern seit über 30 Jahren weitgehend unkontrovers vertreten. Eine kleine, aber politisch relevante Minderheit vertritt die gegenteilige Meinung. Auf diese aber berufen sich die Politiker, die sich nicht in der Lage sehen, den schmerzlichen Übergang zum Rentensystem mit Kapitaldeckung zu vollziehen. Daß sich langfristig die richtige Auffassung durchsetzen wird, ist ohne Belang, denn die kurzfristige Sichtweise dominiert das Alltagsgeschäft.

Der zweite Problemkreis umfaßt ebenfalls eine Akzeptanzfrage: die der wirtschaftlichen Realität. Immer weniger gelingt der politischen Welt, sowohl seitens der Politiker als auch der größten Teile der Öffentlichkeit, die notwendige Trennung zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit. Solange es sich um eine prognostizierte Wirklichkeit wie im Falle der Wirtschaftsvorhersagen handelt, ist diese Verhaltensweise in gewissen Umfang nachvollziehbar. Zu häufig irrten gerade die Prognosen, die mit eine hohen Präzision operierten. Seltener traf dies jedoch für Tendenzvorhersagen zu. Gänzlich unverständlich wird die Ignoranz der Wirklichkeit jedoch bei der Erfassung aktueller Tatbestände. Ein klassisches Beispiel ist die Zahl der Arbeitslosen. Sicher bestehen da, wie bei den meisten anderen ökonomischen Meßgrößen, allgemeine Probleme der korrekten Messung. Andererseits hängen diese Problem auch von der Definition der Meßgröße ab. Wann ist jemand arbeitslos? Auch mag die Revision einer einmal festgelegten Abgrenzung angebracht sein. Wenn aber Begriffsmarkierung und Meßmethode zur Disposition gestellt werden, weil die aktuell vorliegenden Meßergebnisse den politischen Akteuren nicht angenehm sind oder ihren politischen Aktionen einen Mißerfolg bescheinigen, kann nur noch Irrationalität festgestellt werden.

In einer zunehmend virtuell bestimmten Welt kann das Vorliegen einer unangenehmen Wirklichkeit zumindest kurzfristig durch das Klammern an Wunschbilder verdrängt werden. Dieses Phänomen zeigt sich beispielsweise in dem Hang zur zunehmenden Verschuldung bei Privathaushalten oder in der abnehmenden Bereitschaft, auf den gegenwärtigen Konsum zugunsten einer Absicherung in der Zukunft zu verzichten. Gerade im Wirtschaftsleben aber wird sich die Realität nach einiger Zeit um so härter zurückmelden. Was für den einzelnen Bürger zutrifft, gilt prinzipiell auch für Regierungen - allerdings mit der Besonderheit, daß Regierungen nur für begrenzte Zeiträume legitimiert sind. Für die von ihnen regierten Bürger gilt, in Abwandlung des Gorbatschow-Zitats: Wer der Realität entflieht, den bestraft das Leben. Politikern droht für diese Verfehlung nur der Amtsverlust.

 

Prof. Dr. Bernd-Thomas Ramb ist mittelständischer Unternehmer und lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Universität/Gesamthochschule Siegen


 
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