© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001


Ganz nah und doch so fremd
Das Jüdische Museum in Berlin lädt zu Gratwanderungen zwischen den Extremen ein, die Normalität liegt aber noch in weiter Ferne
Alexander Barti

Der Kontrast könnte nicht stär ker sein: auf der einen Seite ein liebliches barockes Gebäude in freundlichem Gelb, und gleich daneben die scharfen Kanten eines metallisch-silbrigen Ungetüms, das sich in gewundenen Zacken in der Tiefe des Grundstücks verliert. Beide Bauwerke gehören zusammen und geben dem Jüdischen Museum in Berlin ein Zuhause.

Von dem barocken Bau gelangt man, nachdem man die streng bewachte Sicherheitsschleuse passiert hat, über einen unterirdischen Gang in den Keller des von dem Architekten Daniel Libeskind entworfenen „Metallblitzes“. Dort beginnt der Rundgang. Man steht am Anfang eines düsteren Korridors, der an zwei Stellen von zwei weiteren Gängen geschnitten wird. Der zentrale Gang ist die „Achse der Kontinuität“, an dessen Ende man über eine steile „Treppe der Kontinuität“ in den zweiten Stock gelangt. Dort, in der obersten Etage, beginnt die jüdische Geschichte auf deutschem Boden im Jahre 321. Bevor man aber dorthin gelangt, wird man im Keller mit dem Grauen des 20. Jahrhunderts konfrontiert.

Der erste Raum an der „Achse der Kontinuität“ ist das „Rafael Roth Learning Center“, ein multimedialer Lernort, in dem der Besucher per Mausklick die jüdische Entwicklung abfragen kann. Hier soll eine Vertiefung des Wissens stattfinden. Das „Learning Center“ ist sicher nicht an der besten Stelle installiert, denn welcher Besucher setzt sich gleich vor den Bildschirm, wenn er die Möglichkeit hat, sich erst einmal das Konkrete zu vergegenwärtigen. Außerdem kann er noch nichts vertiefen, weil er noch keine Eindrücke erfahren hat. Möglicherweise kehrt der Besucher nach dem Rundgang, der ja dort endet, wo er beginnt, also im Keller, wieder in das „Learning Center“ zurück - falls er noch die Ausdauer hat, die mannigfaltigen Eindrücke zu ordnen.

Unter Kaiser Karl erlebten die Juden eine Blütezeit

Gleich neben dem Lernort kann man einbiegen in die „Achse des Exils“. An den Wänden liest man die Namen der Städte, von San Francisco bis Shanghai, in die das deutsche Judentum emigrierte. Zwischen den Namen betrachtet man scheinbar wahllose Ausstellungsstücke, Briefe, Bilder, Fotoalben, die von den schwierigen, oft hastigen Umständen der Ausreise zeugen. Am Ende der Achse öffnet sich eine Tür ins Freie, in den „Garten des Exils“. 48 Betonstelen sind mit je einer Ölweide bepflanzt; sie symbolisieren das Ende der Diaspora mit der Gründung des Staates Israel im Jahre 1948. Die 49. Stele steht in der Mitte des Gartens und ist Sinnbild für die Stadt Jerusalem, Zentrum und Orientierungspunkt des Judentums zu allen Zeiten.

Die Enge zwischen den Betonsäulen, die massiven Seitenmauern, die das quadratische Areal begrenzen, und der schräg ansteigende Boden lassen bei dem Besucher Beklommenheit aufkommen; als wenn der Architekt zeigen wollte, daß mit der Staatsgründung der Kampf ums Dasein noch längst nicht abgeschlossen, die Erlösung im „Heiligen Land“ noch nicht erreicht war.

Die „Achse des Exils“ kreuzt einen weiteren Gang, die „Achse des Holocaust“, so daß mit der „Achse der Kontinuität“ im Grundriß ein Dreieck entsteht. Auch im Gang der Vernichtung, ein ansteigender Weg, sieht man vereinzelte Exponate der Umgekommenen und Überlebenden. Man merkt, daß die Ausstellungsmacher nicht mit zu vielen Erinnerungsstücken von dem Grauenhaften ablenken wollten. So bekommt der Besucher auch einen Eindruck von der scheinbaren Wahllosigkeit der Einzelschicksale.

Am Ende der „Achse des Holocaust“ kommt man durch eine schwere Eisentür in den „Holocaust-Turm“. Man steht in einem fast dreieckig zugespitzen Raum; er ist dunkel und kalt. Wände und Boden sind grauer Sichtbeton, drei Stockwerke hoch. An der einen Seite befindet sich ein schmaler Lichtstreifen im obersten Stockwerk; von dort dringen die Geräusche ein aus der Welt „da draußen“. Der Besucher steht, erschauert und begreift überdeutlich, was es heißen mag, einer unfaßbaren Gewalt ausgeliefert zu sein. Auf geniale Weise hat Libeskind durch seinen „Anti-Raum“, durch das betonkalte „Nichts“ des Turmes, das Unaussprechliche einer industriellen Vernichtung sprechend gemacht.

Nachdem man die Sackgasse des Genozids verlassen hat, geht man wieder bis zur „Kontinuität“ vor und kann endlich über die Treppen zu den historisch bezeugten Anfängen deutsch-jüdischer Symbiose im zweiten Stockwerk vorstoßen. Ein Dokument Kaiser Konstantins aus dem Jahre 321, ein Geschenk des Vatikanischen Museums, enthält Anweisungen, wie man in Köln mit den Rabbinern und Synagogenvorstehen umzugehen habe.

Für die Zeit des Mittelalters steht die Stadt Worms, die damals eine der bedeutendsten Städte für die jüdische Kultur gewesen ist. In einer DVD-Animation bekommt der Besucher einen optisch dreidimensionalen Einblick in das Leben der Juden zwischen Alltag und Gottesdienst. Das Mittelalter war abwechselnd geprägt von aufblühenden Gemeinden und religiös motivierten Vertreibungen. Die Zeit Karls des Großen war auch für das Judentum eine Blütezeit, denn „sie verfügten frei über ihr Eigentum, trieben ungehindert und zollfrei Handel und durften vor Gericht nicht benachteiligt werden“. Die jüdische Religion wurde ausdrücklich gebilligt, Zwangstaufen waren verboten. Für die jüdischen Siedlungen im Frankenreich bürgerte sich der biblische Name „Aschkenas“ ein. Der Legende nach war Noah ein Vorfahre von Aschkenas, ein Name, der auch für „Germanien“ steht. Im Gegensatz zu den Aschkenasim siedelten die Sephardim im Schutz der islamischen Eroberer vor allem auf der iberischen Halbinsel, von wo sie im 15. Jahrhundert vertrieben wurden.

Die Ausstellung geht auch auf die unterschiedlichen Talmud-Schulen ein, die sich durch die Interpretation der heiligen Schrift durch die Lehrer (Rabbiner) entwickelt haben. Leider findet man keinen Hinweis auf die Passagen, in denen Jesus Christus bzw. die Christen verspottet werden. Zur äußerst komplexen Geschichte von Christen und Juden gehört auch die Verachtung für die „Gojim“, die einem „falschen Messias“ huldigen.

In der nächsten Abteilung schildern die Dokumente den Aufstieg einzelner zu „Land- und Hofjuden“; sie stehen im Dienst der Landesherren und reformieren das Finanzsystem, um neue Geldquellen für den Adel zu erschließen. Es ist auch die Geschichte eines Machtkampfes zwischen den Neuerern und den um Macht und Einfluß bangenden Ständen. Die Juden waren dabei oft auf das Wohl ihrer Herren angewiesen. Fielen sie in Ungnade oder starben ihre Gönner, brachen oft schwere Zeiten an.

Die beginnende Neuzeit ist exemplarisch dargestellt durch einzelne Persönlichkeiten. So zum Beispiel durch die Memoiren der verwitweten Kauffrau Glikl ben Juda Leib, die im Jahre 1691 in Hamburg mit ihren Aufzeichnungen begann und damit der Nachwelt ein beeindruckendes Zeugnis jüdischen Alltags hinterließ.

Mit der Aufklärung geriet die Tradition unter Druck

Mit der Zeit der Aufklärung (Abteilung „Moses Mendelssohn“) schlug eigentlich auch die Stunde der jüdischen Emanzipation. Die Salons, zum Beispiel der von Henriette Herz, waren nicht selten die Kristallisationspunkte des liberalen Bürgertums. Dabei geriet auch die jüdische Tradition unter Druck. Religiöse Praktiken wurden teilweise reformiert, in den Synagogen hielt die Orgelmusik Einzug und auch die im katholischen Ritus bekannte Chormusik wurde akzeptiert. Die Reformen und der Wille zur Integration waren auch bei den aufgeklärten Juden nicht einfach. So schrieb Heinrich Heine (1797 - 1856) ein Gedicht an seinen „abtrünnigen“ Freund Eduard Gans, in dem es in der zweiten Strophe heißt: „Und du bist zu Kreuz gekrochen,/ zu dem Kreuz, das du verachtest,/ das du noch vor wenig’ Wochen/ in den Staub zu treten dachtest!“. Heine selbst war kurz vorher zum Christentum konvertiert.

In der Französischen Revolution wurden die Juden auch juristisch den anderen Untertanen gleichgestellt. Von dort entwickelt sich das jüdische Leben - von einzelnen Rückschlägen und Ressentiments abgesehen - konsequent hinein in die Mitte der Gesellschaft („Wege zur Gleichberechtigung“, „Moderne und Urbanität“). Die bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts und der moderne Parlamentarismus sind ohne jüdische Intelligenz praktisch nicht denkbar.

An der Schwelle zum 20. Jahrhunderts erwacht auch beim Judentum der Nationalismus; Theodor Herzl begründet unter dem Eindruck der sogenannten „Dreyfuß-Affäre“ in Paris die Zionistische Bewegung, mit dem Ziel einer jüdischen Staatsgründung im „Heiligen Land“. Bevor sein Ziel verwirklicht werden konnte, sollten noch schreckliche Kriege durch Europa wüten.

Gleich am Anfang des 20. Jahrhunderts kommt es zum ersten „Stahlgewitter“. Aber der Erste Weltkrieg konnte noch einmal die Einheit der Deutschen herstellen. Die vom Kaiser Wilhem II. proklamierte Einigkeit aller Untertanen fand selbstverständlich auch bei den jüdischen Bürgern großen Widerhall. Tausende von ihnen fielen für ihr deutsches Vaterland oder kehrten mit Auszeichnungen dekoriert von den Fronten zurück.

Der lebensgefährliche Einsatz für die Heimat half indes wenig, die Desintegration setzte sich mit der wirtschaftlichen Misere in der Weimarer Republik immer stärker durch. Das Ressentiment erklärt sich auch durch die rege Tätigkeit, die das Judentum in der Weimarer Demokratie entfaltete. Die Masse der Enttäuschten wollte einen Schuldigen für die Misere haben. Klang es daher nicht besonders verlockend, daß die „Juden unser Unglück“ seien?

Die desintegrative Entwicklung spitzte sich fortlaufend zu, bis man mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten aus dem Traum einer vollendeten Emanzipation schmerzlich erwachte. Aber zu wenig wird in der Ausstellung beleuchtet, daß gerade auch die Zionisten den Nazis Sympathien entgegenbrachten, denn durch den Rassismus wurden die assimilierten Juden gezwungen, sich ihrer Herkunft bewußt zu werden. Ein Ziel, das gerade auch von orthodoxen jüdischen Kreisen wohlwollend gebilligt wurde. Die Flüchtlinge hoffte man nach Palästina lenken zu können, was zum Teil auch gelang.

Während des gesamten Rundgangs kommt man immer wieder zu kleinen Sichtfenstern, durch die man leere Schächte, sogenannte voids, entdecken kann. Sie sollen das Vakuum symbolisieren, das durch die vertriebenen und vernichteten Juden in Europa entstanden ist.

Die letzte Abteilung am Ende des ersten Stockwerks widmet sich der Zeit „nach ’45“, als das Judentum traumatisiert zwar, aber doch wieder zu einem zarten Leben erwachte inmitten der zertrümmerten Städte.

Übertriebene Reaktionen lassen Unsicherheit erkennen

Am Ende der Ausstellung kann man wieder über die Kellerachsen in den Altbau zum Ausgang gelangen, wo sich der „Museums-Shop“ und das Restaurant „Liebermanns“ befindet.

Das Jüdische Museum in Berlin ist nicht nur das größte seiner Art in Europa, es ist auch eine geballte Ladung an Eindrücken über eine Kultur, die zwar seit Jahrtausenden mitten „unter uns“ existiert, von der die Nicht-Juden aber wenig verstehen. Es ist unmöglich, durch einen einmaligen Besuch die Fülle und Komplexität der Ausstellung zu erfassen; man wird immer wieder hingehen müssen, wenn man verstehen und nicht nur konsumieren will. Aber das kann dieser schwierigen Symbiose nur gut tun, denn „nach Auschwitz“ - und in Zeiten schnellen „Faschismusverdachts“ - ist die Scheu eher noch größer geworden. Übertriebene Reaktionen, egal ob anti- oder philosemitisch, lassen die Unsicherheit und Unwissenheit besonders deutlich erkennen.

Die Normalität, dieser schmale Grat zwischen den Extremen, wird im Zusammenleben zwischen jüdischen und nichtjüdischen Deutschen erst vollendet sein, wenn die Sicherheitsschleuse und der Polizeischutz am Haupteingang des Jüdischen Museums nicht mehr notwendig sein werden.

 

Jüdisches Museum Berlin: Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin. Tel. 030 / 30 87 85, Fax 030 / 25 993 409, E-Post: info@jmberlin.de  oder fuehrungen@jmberlin.de . Geöffnet täglich 10 bis 20 Uhr, geschlossen: 24. Dezember, Rosch ha-Schana (7. und 8. September 2002) Jom Kippur (16. September 2002).

Katalog: Geschichte einer Ausstellung. Zwei Jahrtausende deutsch-jüdischer Geschichte. 223 Seiten, 38 Mark.


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