© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Preußen - ein Staat und kein Reich
Karlheinz Weißmann analysiert „die gemachte Nation“ auf politischer, geographischer und geistiger Ebene
Lothar Höbelt

Einen neuen Weißmann zu lesen ist allemal ein Vergnügen - und man lernt dabei auch jede Menge, von überraschenden Zitaten (z.B. des jungen Augstein) bis zu unkonventionellen Denkanstößen. Das beginnt schon mit dem Vorwort: Weißmann will Preußen in Schutz nehmen nicht bloß vor seinen Lästerern, sondern auch vor seinen späten Bewunderern, die dieser Tage versuchen, über Flüchtlingszuzug und Toleranz Preußen auf ein politisch gefälliges Symbol zu reduzieren.

Weißmann analysiert Preußen in drei Durchgängen: geographisch, politisch und geistig. Geographisch war Brandenburg-Preußen charakterisiert durch seine Mittellage, mehr noch durch den Mangel an all dem, was man als natürliche Grenzen bezeichnen könnte. Die Mittellage hatte zuweilen auch ihre Vorteile: Im Barock konnte Preußen wahlweise in die Auseinandersetzungen des westeuropäischen Mächtesystems oder seines baltischen Subsystems ein- oder aussteigen, gedeckt zumal von der lockeren polnischen Adelsrepublik im Osten. Spätestens mit den polnischen Teilungen war dieser Vorteil dahin: Preußen war Großmacht, aber es grenzte als einzige auch an alle anderen - der Bismarck’sche „Alptraum der Koalitionen“ war geboren. Aus dieser prekären sicherheitspolitischen Situation leitet sich die Dynamik ab, der Weißmann im politischen Part nachgeht, nämlich der gängige Vorwurf der Kriegslüsternheit, der sich statistisch nun wirklich schlagend widerlegen läßt.

Schwieriger wird es im dritten Teil, gewidmet der geistigen Dimension - nicht zufällig die Dimension, bei der es um die eingangs angesprochene Verteidigung Preußens gegen seine „falschen Freunde“ geht: Freilich, wer an Nüchternheit und Selbstverleugnung als die preußischen Kardinaltugenden denkt, wird kaum in große Verwechslungsgefahr mit gegenwärtigen politischen Eliten geraten, die da schon viel mehr mit Wilhelm II. gemein haben, dem Meister des soundbite unter den gekrönten Häuptern seiner Zeit. Mit der Medien- und Intellektuellenschickeria seiner Zeit, dieser Seitenhieb sei dem Österreicher gestattet, hat freilich selbst Friedrich der Große kokettiert.

Aber lassen wir die persönlichen Marotten einmal beiseite und gehen wir zurück zu dem Eingangszitat Diltheys, der ein Jahr vor Bismarcks Amtsantritt schrieb, Preußen verdanke seine Stellung nicht „Naturverhältnissen“, sondern „seiner geistigen Spannkraft“. Wenn man da die Naturverhältnisse mit der Nation im ethnischen Sinne, die geistige Spannkraft mit der Staatsidee identifiziert, sind wir da nicht schon recht nahe am sogenannten „Verfassungspatriotismus“? München, so lautet ein boshafter Spruch, ist, wie sich St. Pölten Paris vorstellt. Um bei diesem Bild zu bleiben: Preußen ist, wie sich Paris Deutschland vorstellt - dämonisch und antagonistisch, aber doch nach seinem Bild geformt. Ein Staat und kein Reich; ein Staat und kein Volk, keine „geborene“, sondern eine „gemachte“ Nation, wie Wilhelm I. erkannte. Dieser preußische „Verfassungspatriotismus“ avant la lettre war deshalb noch lange nicht das, was sich Jürgen Habermas unter dem Begriff vorgestellt haben mag - so boshaft wollen wir gar nicht sein. Aber wenn man dann noch das Spötterwort über Preußen hinzunimmt, daß Preußen es verstehe, leider „jede Tugend mit einem Stachel aus Unausstehlichkeit zu umgeben“, sieht man die Adepten der politischen Korrektheit beinahe schon leibhaftig vor sich.

Der „Glaube an die sittliche Kraft der Vernunft“ schließlich: Ist das nicht jenes intellektuell köstliche, aber in der Praxis höchst mühsame Paradoxon des zum Gefühl gesteigerten Rationalismus, der so ganz das Ideal der Hohepriester unserer Zeit darstellt, die in guter aufklärerischer Tradition die Transzendenz ebenso beseitigt wissen wollen wie Volk und Familie, aber plötzlich zur Erkenntnis gekommen sind, daß sie auf emotionale Bindungen als Kitt ihrer Herrschaft doch nicht verzichten wollen, und deshalb sittlichen Ernst einfordern von ihren Untertanen.

Ernst Jünger hat das Mirakel Preußens zusammengefaßt als “organische Konstruktivität”. Dieser inhärente Widerspruch macht die Faszination dieses einmaligen historischen Gebildes aus. Darin ist auch das Signum des Heldenzeitalters Preußens verewigt, der janusköpfigen Epoche des aufgeklärten Absolutismus. Ganz zu Recht nimmt das Jahr 1813, das eigentlich ganz unpreußische, tendenziell maßlose „Volk steh auf und Sturm brich los !“, das schon auf eine spätere Epoche verweist, in diesem Buch keinen besonderen Platz ein. Die Kombination Preußen war eben nach Ort und Zeit einmalig. Sie bleibt faszinierend und es sei ihr gegönnt, daß sie mit Weißmann und zuvor mit Hans-Joachim Schoeps - der Erinnerung an ihn ist Weißmanns Essay gewidmet - kongeniale Interpreten gefunden hat, nicht bloß Kitsch-as-Kitsch-Can-Vermarkter wie in der Regel die Habsburger, die mit Franz Joseph I. schließlich doch auch einen geradezu preußischen Pflichtmenschen erster Güte hervorgebracht haben.

Und doch: Zur Nachahmung empfohlen sei der Elan, mit dem Weißmann das eine ums andere Mal heiße Eisen der deutschen Vergangenheit angeht. Auf seinen Gegenstand würde ich diese Aufforderung lieber nicht ausgedehnt wissen: Preußen unter heutigen Rahmenbedingungen, eine Staatsidee mit den zeitgeistigen Ingredienzen der Jahrtausendwende - und Preußen war zu seiner Zeit eben sehr „zeitgeistig“! - was da wohl herauskäme? Belassen wir es lieber beim Gedankenexperiment.

Karlheinz Weißmann: Die preußische Dimension. Ein Essay. Herbig, München 2001, 160 Seiten, 35 Mark.

 

Prof. Dr. Lothar Höbelt lehrt Neuere und Neuste Geschichte an der Universität Wien.


 
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