© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Leiden an der Entfernung vom Leben
Ernst Jüngers „Politische Publizistik“ aus den Jahren 1919 bis 1933 erstmals komplett erschienen
Karlheinz Weißmann

Im Juli 1927 erschien in der Zeitschrift Arminius ein Aufsatz von Albrecht Erich Günther mit dem Titel „Der Nationalismus und die Intelligenz“. Der Publizist und Übersetzer Günther ging bei seinen Überlegungen zurück auf den Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Deutsche Bewegung aus Sturm und Drang, Idealismus und Romantik geboren wurde, und stellte die Frage, wie es dahin hatte kommen können, daß „Patriotismus“ und „Geistigkeit“ schließlich ihren Zusammenhang verloren und jeder Intellektuelle darauf hielt, der Nation zu spotten. Nach der Abwendung Thomas Manns von seinen früheren Ideen sei in der Nachkriegszeit erst wieder durch die „Schriften von Ernst Jünger die geistige Kraft des Nationalismus“, mehr noch die intensive Verbindung des „Nationalismus mit der ganzen geistigen Moderne“ erkennbar geworden.

Günther gehörte zum engeren Kreis Jüngers, dem auch noch dessen Bruder Friedrich Georg, Franz Schauwecker und Helmut Franke, später Edmund Schultz, Friedrich Hielscher und Arnolt Bronnen zugerechnet werden müssen. Sie waren die eigentlichen Protagonisten des Neuen Nationalismus. „Neu“ war dieser Nationalismus insofern, als er sich scharf von den Vertretern einer älteren, bürgerlichen „Vaterländerei“ absetzte und deren Nostalgien verachtete. „Nationalistisch“ war er insofern, als er offen die Wiederherstellung der deutschen Machtstellung propagierte und zur Erreichung dieses Zwecks keinen anderen Weg als den der Gewalt sah: der Gewalt gegen die Weimarer Demokratie einerseits, gegen die Garantiemächte des Versailler Vertrags andererseits.

Darüber hinaus schien Jünger das auch damals abwertend benutzte Wort „Nationalismus“ besonders geeignet, Ekel auszudrücken, Ekel „vor einer Zeit, die man flüchtig und ohne die inneren Reserven zu verausgaben, passieren muß, weil jedes gefügte Wertreich in ihr unmöglich ist“.

Die jetzt von dem jungen Politikwissenschaftler Sven Olaf Berggötz (Jahrgang 1965) herausgegebene und im allgemeinen sorgfältig und ausreichend kommentierte „Politische Publizistik“ Jüngers aus den Jahren 1919 bis 1933 umfaßt dessen wichtigste Stellungnahmen als Sprecher des Neuen Nationalismus. Es handelt sich um insgesamt 144 Essays, kurze Aufsätze und Rezensionen; auch die Vorworte zu verschiedenen Monographien und Sammelbänden (die „Finanzierungsschinken“, wie Jünger sie nannte) wurden mit aufgenommen.

Der Band macht zum ersten Mal ein Gesamtbild der später oft skandalisierten, aber selten analysierten Betätigung Jüngers in den nationalistischen Zirkeln und Bünden der Weimarer Republik möglich. Was dabei sofort auffällt, ist das Antizyklische dieses Engagements. In der Phase des „Nachkriegs“, zwischen 1919 und 1924, hat Jünger sich zu politischen Fragen praktisch nicht geäußert. Auch die „individualistische“ Betrachtung des Weltkriegs in den ersten Auflagen der „Stahlgewitter“ paßt in diesen Zusammenhang. Das änderte sich ausgerechnet, als die Republik Stabilität gewann. Durch Mitarbeit an der Standarte, einer vom „Stahlhelm“ herausgegebenen Zeitschrift, kam Jünger jetzt zu einem Forum für seine immer radikaler werdende Agitation gegen die bestehende Ordnung. Der Stahlhelm-Führung war diese Tendenz allerdings unbequem, suchte man doch die Annäherung an den demokratischen Staat und empfand die Erinnerung an eigene, entschieden ablehnende Stellungnahmen der Vergangenheit als peinliches Hindernis.

Von dieser Taktik völlig unbeeindruckt, brach der nationalistische Zirkel Jüngers mit dem Wehrverband, schuf sich im Arminius und später im Vormarsch eigene - allerdings im Blick auf die Verbreitung bedeutungslose - Organe und versuchte die Sammlung einer zersplitterten „nationalen Opposition“, die von der Bündischen Jugend bis zu diversen Nachfolgeorganisationen der Freikorps reichte.

Jünger hat sich immer wieder mit seiner ganzen Autorität für die Vereinigung dieser Gruppen eingesetzt - ohne Erfolg. Noch die Hoffnungen, die er Ende der zwanziger Jahre in das rebellische Landvolk setzte, hingen mit dem Gedanken zusammen, daß eine Volksbewegung gegen „das System“ entstehen und die Ideen der Nationalisten aufgreifen werde.

Je deutlicher sich aber zeigte, daß weder das Landvolk noch die nationalistischen Verbände diese Bewegung tragen konnten, um so weiter ging Jünger auf Distanz zur Politik, zur Politik im allgemeinen und zur NSDAP im besonderen. Wenn er noch 1930 unter die „Freunde der nationalsozialistischen Partei“ rechnete, dann konnte diese Formel doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Differenzen zwischen ihm, dem Neuen Nationalismus und der NSDAP mittlerweile unüberbrückbar geworden waren.

Jüngers erster Kontakt zur Hitler-Bewegung ging bis zum Januar 1923 zurück. Damals hatte Hitlers Redetalent ihn außerordentlich beeindruckt worden, und unmittelbar nach dem Putsch hatte Jünger ihm (wie übrigens auch Ludendorff) seinen Respekt für den Versuch eines Umsturzes bekundet. Dann allerdings wandelte sich die Einschätzung. Aus den jetzt veröffentlichten Texten ist nicht zu entnehmen, was genau die Ursache war - möglicherweise Hitlers gewachsenes Selbstverständnis, der Übergang vom „Trommler“ zum „Führer“ -, aber jedenfalls neigte Jünger immer mehr zu der Auffassung, daß der NSDAP nur die Aufgabe zufalle, die „deutsche Arbeiterbewegung der Zukunft“ zu formieren, und ihr Vorsitzender gut daran täte, seinen und den Ratschlägen seiner Freunde zu folgen.

Gerade das zu tun, war Hitler aber nicht bereit. Weder wollte er an dem ursprünglichen Plan eines Putsches festhalten, noch hätte er jene Einschränkung seiner Propaganda akzeptiert, die Jünger und sein Kreis vorschlugen. Es gehört sicherlich zu den überraschenden Ergebnissen der Lektüre von Jüngers politischer Publizistik, daß er trotz aller Beschwörung der „Tatsächlichkeit“ moderner Massengesellschaften die Anwendung unreiner Mittel im politischen Tageskampf ablehnte. Jünger sehnte sich nach einem „sauberen“ (keineswegs unblutigen) Kampf, bei dem Revolutionäre und Konterrevolutionäre offen gegeneinander antraten. Das war ebenso realitätsblind wie die Forderung an Hitler und seine Anhänger, in der Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik auf alle Parolen - „Novemberverrat“, „Dolchstoß“, „Jüdische Verschwörung“ - zu verzichten, die, eben weil sie Verkürzungen oder Verfälschungen enthielten, massenwirksam sein konnten.

Es ist hier auch darauf hinzuweisen, daß Jüngers Haltung gegenüber den Nationalsozialisten mitbestimmt war von der Bedeutung, die er selbst der „Judenfrage“ beimaß. Wie man den Texten entnehmen kann, erschien ihm das Rassische als Element von zweifelhafter politischer Bedeutung, den Antisemitismus hielt er eher für ein Hindernis bei der Schaffung einer breiten nationalistischen Front. Das hinderte Jünger nicht an einzelnen scharfen und verletzenden Äußerungen gegen die Juden, deren Tonfall aber im Verhältnis zum damals üblichen (auch bei Juden wie etwa Sigmund Freud üblichen) gesehen werden muß.

Sehr wahrscheinlich hat Jünger Ende der zwanziger Jahre, als der Aufstieg der NSDAP begann, seine eigene Inkompetenz auf dem Feld der Politik begriffen. Der Satz im „Abenteuerlichen Herzen“ von der Unmöglichkeit, sich in Gesellschaft um Deutschland zu bemühen, muß wohl auch so gelesen werden.

Vor diesem Hintergrund versteht man besser, warum Jünger dagegen war, die nationalistischen Manifeste in seine Werkausgaben aufzunehmen oder überhaupt ihren Neudruck zuzulassen. Schon sein „Altes Testament“ - vor allem die Kriegsbücher, „Die Totale Mobilmachung“ und „Der Arbeiter“ - hatte er stark umgearbeitet, bevor sie wieder erscheinen durften, die, wenn man so will: außerkanonischen, Schriften dürften ihm kaum noch akzeptabel erschienen sein. Sie mußten immer verbunden bleiben mit der Erinnerung an ein Scheitern, das auch darauf zurückzuführen war, daß jene Scheidung, die Günther in dem erwähnten Aufsatz zu unternehmen suchte - zwischen „Geistigkeit“ und „Intellektualismus“ -, tatsächlich kaum durchgeführt werden konnte.

Auch die Nationalisten waren Intellektuelle und litten an dieser Eigenschaft, der Entfernung vom Leben, von der Gefahr, von der Tat. Man konnte versuchen, diesen Mangel durch ein auftrumpfendes „Der Nationalismus bin ich“ (Jünger in einem im Nachwort zitierten Brief an Ludwig Alwens) zu überspielen oder durch ein „neues Weltbild“ zu kompensieren. Aber zuletzt blieb nur die Wahl zwischen der Existenz von Berufsrevolutionären - Jüngers Sympathien für Trotzki wiesen in diese Richtung - oder dem Zurück in die Position des Analytikers.

In jenen Abschnitten seiner politischen Publizistik, in denen sich Jünger der Aufgabe der Analyse widmete, wird man das finden, was diesen Texten jenseits des rein historischen, vor allem biographischen Interesses heute noch Bedeutung gibt. Seine Prognosen für eine Zukunft, in der Nationalismus und Sozialismus die entscheidenden Größen sein würden, realisierten sich in den dreißiger und vierziger Jahren.

In vieler Hinsicht wirkten sie auch darüber hinaus und erschienen in einer immer unförmiger werdenden Welt als Perspektiven neuer Gestaltung und Integration. Davon abgesehen war der Nationalismus verstanden als geistige Position, als „sehr moderner Akt, der für einen organischen Bestand die Mittel des Bewußtseins ins Treffen bringt“, wohl der falsche Ausgangspunkt, bietet aber noch im Fehlschlag ein Beispiel für jene Art von Gegen-Aufklärung, die nottut.

Ernst Jünger: Politische Publizistik. 1919 bis 1933. Herausgegeben, kommentiert und mit einem Nachwort von Sven Olaf Berggötz. Stuttgart: Klett-Cotta 2001, 898 Seiten, gebunden, 98 Mark

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat an einem Gymnasium in Göttingen.


 
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