© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/01 12. Oktober 2001

 
Der Spuk des Terrorismus
Frankreich: Die Terroranschläge in den USA bewirken Milliardenausgaben für Sicherheit und soziale Problemviertel
Charles Brant

Auch in Frankreich haben die Anschläge auf die USA eine Schockwelle ausgelöst. Nachdem die großen Solidaritätserklärungen über die Bühne gegangen sind, sind sich die Franzosen der realen Bedrohungen im eigenen Land bewußt geworden. Die Umstände der Explosion einer Toulouser Chemiefabrik bleiben ungeklärt.

„Wir sind alle Amerikaner“: Am Morgen nach der amerikanischen Tragödie gab Le Monde mit einem Aufmacher des Herausgebers Jean-Marie Colombani den Ton vor. Das offizielle Frankreich schwenkte auf bedingungslose Solidarität mit den Vereinigten Staaten ein. In Windeseile waren die Fahnen auf Halbmast gehißt, die Sportveranstaltungen abgesagt, die Schweigeminuten angeordnet. Noch am Tag der Anschläge kehrte Staatspräsident Jacques Chirac aus der Bretagne nach Paris zurück, um zu den Bürgern zu sprechen. Um nicht hinter ihm zurückzustehen, deklinierte Premierminister Lionel Jospin öffentlich die Maßnahmen durch, auf die sich seine Regierung geeinigt hat. Allen voran soll das Notstandsprogramm „Plan Vigipirate“ in verschärfter Fassung reaktiviert werden - eine Vorkehrung, die geeignet ist, die Bevölkerung zu beruhigen: Gemischte Patrouillen aus Polizei und Militär bewachen Bahnhöfe, Flughäfen und andere öffentliche Orte.

In der Fernsehberichterstattung wurde immer wieder die Parallele zu Pearl Harbor gezogen. Die Wochenzeitung Valeurs actuelles, die Chiracs pro-amerikanischer und pro-israelischer politischer Linie treu ist, veröffentlichte ein schwärmerisches Porträt des FBI-Direktors Robert S. Mueller und kündigte Vergeltung seitens der USA an. Das Volk sah dem Spektakel zu. Ab und zu wagte es einen Kommentar. Die bekundete Solidarität schien ihm übertrieben. Manche dachten an die Bombenangriffe der Amerikaner auf die Normandie im Jahr 1944. Manche erinnerten sich an die allgemeine Gleichgültigkeit gegenüber den französischen Toten bei dem Selbstmordattentat in Beirut oder den Opfern der Anschläge auf die Moskauer Metro.

Die politischen Verantwortungsträger geben den Anschein, als wollten sie sich mit Haut und Haaren dem „Kreuzzug“ des George W. Bush verschreiben. Als sich einige wenige schüchterne Stimmen erhoben, die wenigstens bezüglich einer „aktiven Solidarität“ zur Vorsicht mahnten, wurde Frankreich in der US-amerikanischen Presse sofort als „schlechtester Verbündeter“ gegeißelt. Chirac flog in die USA, um Präsident Bush zu treffen und von einem Hubschrauber aus die Ruinen des World Trade Center zu besichtigen. Er durfte sich sogar mit feuchten Augen brüsten, als „erster europäischer Staatschef persönlich mit dem amerikanischen Präsidenten gesprochen zu haben“. Entsprechend diskret schwieg Chirac sich über die Inhalte seines eigenen Beitrags zu diesem Gespräch aus. Die Fernsehsender machten sich ihren eigenen Reim darauf, erteilten ihren Militärexperten das Wort und zeigten Bilder der einsatzbereiten französischen Luftwaffe. Der Aufruf zur Mäßigung kam dann von Jospin, der verdeutlichte, es werde „keine Intervention ohne die Zustimmung des Parlaments“ geben.

Nachdem Bush seinen Tonfall verschärft und alle Staaten dazu aufgerufen hat, eine gemeinsame Front zu bilden, stellt sich nun die Frage einer Verantwortungsteilung bei einer möglichen Operation. Schon bald hat sich gezeigt, daß die Amerikaner in gewohnter Manier keinerlei Absicht hegen, irgend etwas zu teilen. Der frühere Sozialist und heutige Linksnationalist Jean-Pierre Chevènement, der aus Protest gegen die amerikanische Intervention im Irak das Amt des Verteidigungsministers niederlegte, macht aus seinen Bedenken kein Hehl. Auch Jean-Marie Le Pen - Chef des rechten Front National - hat sich bereits zu Wort gemeldet, um auf wiederholte Fehlentscheidungen in der amerikanischen Politik hinzuweisen und Chirac aufzufordern, den USA nicht blindlings in den Rachefeldzug zu folgen. Der bürgerliche Ex-Premier Edouard Balladur äußert ebenfalls Vorbehalte. Im Fernsehen wuchern die Sondersendungen zum Thema Terrorismus. Es gibt Debatten zur Situation im Nahen Osten und dem Krieg zwischen Palästinensern und Israelis. Immer wieder hört man kritische Standpunkte, die sich gegen die verkürzte Sicht der USA auf die Taliban wenden.

Zehn Tage nach den Selbstmordattentaten auf World Trade Center und Pentagon explodierte in Toulouse das Chemiewerk AZF. 29 Menschen starben, fast 800 wurden zum Teil schwer verletzt. Ganze Stadtteile waren betroffen, als hätte man die Stadt bombardiert. Über die Plünderungen, die sich unmittelbar danach ereigneten, stand in der Presse so gut wie nichts zu lesen. Präsident Chirac und Premier Jospin waren sofort zur Stelle, um der Bevölkerung zu versichern, das Unglück sei „mit 99prozentiger Sicherheit“ durch einen Unfall verursacht worden. Die Gerüchte über einen terroristischen Hintergrund konnten sie damit nicht zum Verstummen bringen, zumal zwei Zeugen aussagten, kurz vor der Explosion zwei Detonationen gehört zu haben. Sprecher von AZF, einer Tochter des Großkonzerns Total-Elf-Fina, schlossen einen Unfall oder ein technisches Versagen kategorisch aus. Von dem Toulouser Bürgermeister Philippe Douste-Blazy aufgerufen, einen „Marshall-Plan“ zur staatlichen Hilfeleistung zu erstellen, kehrte Jospin mit mehreren Mitgliedern seines Kabinetts in die verwüstete Stadt zurück und sicherte die Freigabe eines Kredits in Höhe von 1,5 Milliarden Francs (etwa 490 Millionen Mark) zu. Beobachter zeigten sich überrascht, wie offenkundig bedrückt Jospin wirkte. Nach den letzten Erkenntnissen der Untersuchungsbehörden vom vergangenen Wochenende habe wahrscheinlich neutralisierte Schwefelsäure den Funken ausgelöst, der die rund 300 Tonnen Ammonium-Nitrat bei AZF zum Explodieren brachte.

Während sich in Paris und Umgebung die Polizei alle Mühe gibt, Mitgliedern terroristischer Vereinigungen auf die Spur zu kommen, die mit Osama bin Laden in Verbindung stehen, und bislang sieben Verdächtige festnehmen konnte, kommt aus Toulouse eine seltsame Meldung. Polizeiquellen zufolge hat sich bei der Durchsuchung der Wohnungen zweier Opfer nordafrikanischen Ursprungs, die in dem Chemiewerk als Ladehelfer arbeiteten, herausgestellt, daß es wenige Tage vor der Explosion zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung mit Lastwagenfahrern gekommen war, die ihre pro-amerikanische Haltung bekundeten. Außerdem soll die örtliche Aufsichtsbehörde DST die Toulouser SNPE (Staatliche Gesellschaft für Schießpulver und Sprengstoffe) in Kenntnis gesetzt haben, daß die Gefahr eines Attentats bestünde. Am vergangenen Sonntag sagte der französische Umweltminister Yves Cochet im Radio, „alle Hypothesen sind offen, einschließlich die eines Anschlags“. Innenminister Daniel Vaillant weigerte sich später am Tag in einer Sendung des Fernsehkanals France 3, diese Worte zu kommentieren, war aber sichtlich in Verlegenheit.

Entspringen alle diese Spekulationen der bloßen Paranoia? In den vergangenen Jahren wurde Frankreich wiederholt zur Zielscheibe blutiger Attentate. Im Zuge der Aufklärung dieser Verbrechen ließ sich eine enge Beziehung zwischen jungen Einwanderern aus dem Maghreb und islamistischen Netzwerken ermitteln, die im Kosovo, in Bosnien, Tschetschenien und Afghanistan tätig sind. Der Fall des Khaled Kelkal, mutmaßlicher Drahtzieher verschiedener Anschläge, der am 18. September 1995 erschossen wurde, ist nur ein Beispiel unter vielen. Derzeit ermittelt die Polizei gegen Kamel Daoudi, einen jungen Informatiker algerischer Abstammung, der in der Pariser Region bei einer Behörde arbeitet und im Verdacht steht, bin Ladens Repräsentant in Europa zu sein.

In den Medien war es lange Zeit still um diesen Zusammenhang. Jetzt beginnt man endlich manche Vorhänge zu lüften: In den Vororten mehrerer französischer Städte kam es zu spontanen Solidaritätskundgebungen für bin Laden. Kulturvereine zur Verbreitung islamistischen Gedankenguts erhalten finanzielle Unterstützung aus arabischen Ländern; fundamentalistische Sekten wie die Tablirs oder die Habchirs verteilen - unterstützt von Pakistan - den Koran von Haustür zu Haustür und rekrutieren für den islamistischen Kampf und die Errichtung des weltweiten Kalifats. In Frankreich finden sie ein Potential von vier bis fünf Millionen Menschen muslimischer Abstammung vor, mit 1.500 Moscheen und unzähligen Gebetsstätten.

Am Montag der vergangenen Woche versprach der Premierminister (und mögliche Präsidentschaftskandidat 2002) den Pariser Vorstädten zusätzliche 35 Milliarden Francs. Er will damit ein Zeichen „der Solidarität und Brüderlichkeit“ setzen, zeigt aber zugleich, wie beunruhigt die Regierung ob dieser Entwicklungen ist. Der sozialistische Außenminister Hubert Védrine befand sich am selben Tag auf Staatsbesuch in Algerien. Ganz offensichtlich hat die Regierung keine Ahnung, wie sie die Höllenmaschine stoppen soll, die erst durch ihre eigene Nachlässigkeit in Fahrt kommen konnte.


 
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