© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/01 05. Oktober 2001

 
Putin inszeniert sich als Visionär
Rußland: Die angestrebte Nato-Mitgliedschaft stößt im Westen auf wenig Begeisterung
Michael Wiesberg

Daß der russische Präsident Wladimir Putin ein gewiefter Stratege ist, hat er auf seinem Deutschlandbesuch erneut demonstriert. Blitzartig hat Putin die Möglichkeiten antizipiert, die Rußland aus den Anschlägen in New York und Washington am 11. September erwachsen könnten. So wird er nicht müde, den USA in diesen Tagen jede erdenkliche Unterstützung bei deren geplantem „Kreuzzug“ gegen den militanten Islamismus anzubieten. Im Gegenzug erwartet Putin unausgesprochen, daß die Kritik der „Wertegemeinschaft“ am russischen Vorgehen in Tschetschenien endlich verstummt.

Die Auseinandersetzungen in Tschetschenien seien Terrorangriffe islamistischer Gruppen und kein Befreiungskampf gegen Rußland, unterstreicht Putin bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Welchem Ziel diese grobe Verkürzung der Ursachen des schmutzigen Krieges in Tschetschenien (siehe auch JF 39/01) dient, ist nur allzu offensichtlich: Dieser soll als gerechter Krieg verklärt werden, den Rußland gegen eine Bande gewissenloser islamistischer Extremisten führt, die auf nichts anderes als auf Terror aus sind. Daß die russische Präsenz in Tschetschenien zwingend notwendig sei, erklärt Putin mit dem Machtvakuum, das sich radikalislamische Kräfte zunutze machten. Sobald ein Kraftvakuum entstehe, werde es durch Extremisten und Fundamentalisten gefüllt. In diesem Zusammenhang nannte er auch den Balkan und deutete an, daß in unmittelbarer Nähe zu Westeuropa eine vergleichbare Gefahr lauere. Wir sitzen also, so Putin, mit Blick auf den Terrorismus, alle in einem Boot. Der russische Präsident betonte, es sei völlig nutzlos, mit Terroristen und Fundamentalisten zu verhandeln. Die Gruppen reagierten wie Bakterien, sie paßten sich sehr gut dem Körper an, den sie befallen haben. Diese Diktion paßt sehr gut zur „Ausmerzungsstrategie“ von George W. Bush, mit der dieser dem Terrorismus begegnen will.

Keine Frage: Die Anschläge am 11. September eröffnen Putin die Möglichkeit, seine Lesart der Auseinandersetzung in Tschetschenien gegen westliche Kritik zu immunisieren. Daß ihm dies bereits weitgehend gelungen ist, zeigte Putins spürbare Genugtuung darüber, daß sich die Sicht auf den Konflikt in Tschetschenien im Licht der Terror-Anschläge im Westen offenbar wandele. Der mögliche Nato-Beitritt Rußlands, den Putin während seines Deutschlandbesuches ins Spiel gebracht hat, muß als weiterer Schachzug vor dem Hintergrund der Terroranschläge in den USA verstanden werden. Rußland könnte niemandem verbieten, sich der Allianz anzuschließen, erklärte Putin. Eine Erweiterung erhöhe allerdings nicht die Sicherheit eines Landes, weil sich die neue Bedrohung gleichermaßen gegen Rußland wie gegen Westeuropa und die USA richte.

Nonchalant nannte Putin in diesem Zusammenhang die Osterweiterung der Nato, die für Rußland nach wie vor eine Provokation allerersten Ranges darstellt, ein „nachrangiges Problem“ und mahnte, den Lärm darüber zu dämpfen. Das Problem werde durch andere Probleme ersetzt. Putin hat sich hier als überlegener Staatsmann inszeniert, der die großen Entwicklungslinien sieht und über den Tageshändeln steht. Die Reaktion der deutschen Medien, die ihm diese Inszenierung mehr oder weniger abkauften, zeigt, daß Putin vollen Erfolg gehabt hat.

Der Verstoß Putis dürfte am Veto der USA scheitern

Abgesehen davon, daß eine potentielle Nato-Mitgliedschaft Rußlands am Veto der USA scheitern dürfte, bietet sich dieser Vorstoß an, einmal das Pro und Contra einer derartigen Mitgliedschaft durchzuspielen. Aus russischer Sicht spricht alles für eine Mitgliedschaft. Sie könnte so etwas wie der Anfang vom Ende der Nato sein. Schleichende Neutralisierung durch Überdehnung heißt hier das Strategem, das Putin im Sinn haben dürfte. Wozu überhaupt noch eine Nato, wenn jeder relevante Machtfaktor Mitglied ist?

Eine schnelle Entscheidungsfindung, wie sie in einer Verteidigungsgemeinschaft vonnöten ist, dürfte bei einer Mitgliedschaft Rußlands ausgeschlossen sein. Zu sehr unterscheiden sich die Interessen der „einzigen Weltmacht“ USA von denen Rußlands.

Aus russischer Sicht dürfte weiter der Umstand von Interesse sein, offiziell Zugang zu geheimen Vorgängen zu bekommen. Moskau erhielte intime Einblicke in die innere Architektur des Bündnisses. Ein unschätzbarer strategischer Vorteil, falls es zu gravierenden Verwerfungen mit den USA kommen sollte. Daß eine Nato-Mitgliedschaft auch handfeste ökonomische Vorteile für Rußland mit sich bringen dürfte, versteht sich von selbst. Der Sicherheitspartnerschaft müßte geradezu zwangsläufig auch eine ökonomische Einbindung Rußlands in die EU folgen. Blenden wir an dieser Stelle kurz auf die deutschen Interessen über. Könnte eine Nato-Mitgliedschaft im deutschen Interesse liegen, sofern von diesem überhaupt noch die Rede sein kann?

Diese Frage muß eindeutig bejaht werden, weil mit Rußland als Mitglied der Nato die monopolare Struktur des Bündnisses beendet wäre. Deutschland bekäme gegenüber den USA mehr Spielraum, eigene Positionen durchzusetzen. Der Status eines „Vasallenstaates“ der USA, von dem der Sicherheitsberater des ehemaligen US-Präsidenten Carter, Zbigniew Brzezinski, sprach, könnte überwunden werden. Die Abhängigkeit von den USA würde sich zweifelsohne relativieren.

Wer Brzezinskis geostrategische Überlegungen in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“ gelesen hat, der weiß, daß dieses Szenario Utopie bleiben wird. Denn die Botschaft Brzezinskis lautet, daß die USA mit allen Mitteln zu verhindern bestrebt sind, daß Rußland wieder eine Machtposition erreicht, die der untergegangenen Sowjetunion entspricht. Die „neue Weltordnung“ unter der angemaßten Führung der USA würde sich dann wieder in eine bipolare - nimmt man China hinzu, womöglich in eine multipolare - Weltordnung wandeln. Deshalb wird der Vorstoß Putins nicht mehr als ein Gedankenspiel bleiben.


 
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