© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/01 28. September 2001

 
Ein Gegenschlag nützt den Extremisten
Vor dem Angriff der USA: Die islamische Welt ringt mit der „Talibanisierung“ ihrer Staaten
Michael Wiesberg

Der von US-Präsident George W. Bush ausgerufene Anti-Terrorkrieg gegen den internationalen Terrorismus wird weitreichende Folgen für die islamische Welt haben. Diese droht aufgrund des moralischen und politischen Drucks, der von der von Bush ausgehenden Botschaft „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“ ausgeht, in eine Zerreißprobe zu geraten. Mehr und mehr dämmert den arabischen Potentaten, daß es die USA diesmal keineswegs mit einer einmaligen militärischen Aktion gegen das vermeintliche Haupt des internationalen Terrorismus, Osama bin Laden, bewenden lassen wollen. Sie haben einen langfristig angelegten Feldzug angekündigt, mit dem sie den Terrorismus insgesamt „ausmerzen“ wollen. Das weitverzweigte terroristische Netzwerk impliziert, daß die USA und ihre Verbündeten in vielen Staaten aktiv werden müssen, um ihr Ziel zu erreichen. Dafür wird auch die Kooperation arabischer Sicherheitsbehörden vonnöten sein. In minutiöser Kleinarbeit müssen zunächst Auftraggeber, Drahtzieher, Ideologen, Financiers, Aktivisten und sogenannte „Schläfer“ ermittelt werden. Zweitens gilt es, und dies wird tief in das Selbstverständnis islamischer Staaten eingreifen, die vielen Nahtstellen zwischen zivilreligiösen Institutionen und friedlichem islamischen Aktivismus einerseits und gewalttätigem (und in der Regel antiwestlichem) Islamismus andererseits aufzuspüren und auszuräumen.

So soll laut der Neuen Züricher Zeitung (NZZ) der amerikanische Assistenzstaatssekretär Burns bei einem Treffen den Botschaftern arabischer Länder in Amerika klargemacht haben, daß „Washington nicht nur Unterstützung bei militärischen Operationen erwartet, sondern einen unzweideutigen politischen Stellungsbezug der arabischen Länder“. Die NZZ läßt keinen Zweifel darüber aufkommen, was dies für die arabischen Staaten konkret bedeutet: „Praktisch müßten die Araber Informationen mit Amerika austauschen, alle verdächtigen Terroristen und deren Helfershelfer verhaften, ihre Bewegungen verhindern sowie deren Büros und Anlagen schließen, schließlich die Finanzen der Extremistengruppen schärfstens überprüfen und unter Kontrolle bringen.“

Verlagerung des Terrorismus von Nahost nach Südostasien

Die Amerikaner wollen eine Politik, die einen Export des Terrors toleriert oder gar befördert, nicht mehr hinnehmen. Dazu gehört, daß in Zukunft Spenden- oder Werbeaktionen dieser Gruppierungen unterbunden werden. Auch die verbreiteten antiwestlichen Predigten in Moscheen und islamischen Zirkeln müßten aufhören. Alle diese Forderungen, die in Ägypten und Saudi-Arabien bereits zum Teil Realität sind, sind nicht neu. Tatsächlich aber ist der Spendenfluß insbesondere aus den Golfstaaten an die diversen Islamisten-Organisationen bis heute nicht versiegt. Es muß vor dem Hintergrund des 11. September aber davon ausgegangen werden, daß die USA diesen Zustand nicht weiter hinnehmen werden und sich massiv in die inneren Angelegenheiten arabischer Staaten einmischen werden, die aus Sicht der Amerikaner nicht entschlossen genug gegen den Terrorismus vorgehen.

Die NZZ weist in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hin, daß die Liste der terroristischen Organisationen, die das State Department Jahr für Jahr veröffentlicht, eine Art Fahrplan für die Anti-Terror-Kampagne sei. Legt man diese Liste zugrunde, dann gibt es eine ganze Reihe islamischer Staaten, die unter Zugzwang stehen.

Für Staaten wie zum Beispiel Pakistan dürfte der US-Feldzug gegen den internationalen Terrorismus zur Gratwanderung werden, die unter Umständen in einem Bürgerkrieg enden könnte. Pakistan ist in den letzten Jahren zu einem derartig fruchtbaren Boden für „Gotteskrieger“ geworden, daß die US-Politologin Jessica Stern in einem Beitrag für das Periodikum Foreign Affairs meint, von einer pakistanischen „Dschihad-Kultur“ sprechen zu können. Ihrer Auffassung nach hat sich der Schwerpunkt terroristischer Aktivitäten längst aus dem Nahen Osten nach Südasien verlagert. Bisher hat es Pakistans Militärherrscher Pervez Musharraf verstanden, die aus den pakistanischen „Schulen des Hasses“ (Stern) rekrutierten Mudschaheddin, die zum Beispiel im Kaschmir oder in Tschetschenien zum Einsatz gekommen sind, dem Westen als Soldaten eines „Heiligen Krieges“ vorzuführen. Des öfteren warnte Musharraf davor, „Dschihad“ und „Terrorismus“ zu verwechseln.

Der Einfluß der Islam-Schulen rührt von dem Umstand her, daß der Schulbesuch in Pakistan nicht obligat ist. Nur etwa 40 Prozent der Pakistanis sind deshalb alphabetisiert. In vielen ländlichen Religionen gibt es überdies keine öffentlichen Schulen. Die Islam-Schulen hingegen sind über das ganze Land verstreut und bieten nicht nur kostenfreien Unterricht, sondern auch Schulspeisungen, Kleidung und Betreuung an. Viele dieser religiösen Schulen konzentrieren sich ausschließlich auf die religiöse Unterweisung. Naturwissenschaften und Mathematik werden nicht unterrichtet. Einige dieser Schulen propagieren den Dschihad, ohne dessen tiefere Intentionen begriffen zu haben. Sie setzen Dschihad mit dem Guerillakrieg oder terroristischen Aktivitäten gleich. Versuche der pakistanischen Regierung, diesen Schulen das Wasser abzugraben, sind bisher gescheitert. Dies auch deshalb, weil bestenfalls ein Zehntel der Islam-Schulen überhaupt registriert sind. Nach Angaben von Vinod Anand, der einen Lehrauftrag an dem Institut für Verteidigungsstudien und -analysen in Neu-Delhi innehat, bilden derzeit in Pakistan ca. 6.000 religiöse Schulen etwa 500.000 Schüler aus, die zum Teil aus arabischen Staaten, Zentralasien, dem Nordkaukasus oder dem Nahen Osten kommen. 1.500 dieser Schulen, so Anand, predigten den Dschihad und bildeten ihre Schüler militärisch aus. Daß diese Schulen Verbindungen zum afghanischen Taliban-Regime pflegen, ist in Pakistan ein offenes Geheimnis. Musharraf hat dieses Treiben bisher vor allem deshalb nicht unterbunden, weil er die Gotteskrieger im Kaschmir-Konflikt gebraucht hat.

Daß diese Schulen auch ihre Kampfgenossen in Tschetschenien unterstützen, liegt in der Konsequenz ihrer Mission. Einen gewissen Bekanntheitsgrad hat in diesem Zusammenhang ein bei Akora Khattak nahe der afghanischen Grenze gelegenes Ausbildungslager erlangt. Hier wurden einige tschetschenische Kämpfer ein Jahr lang religiös unterrichtet und dann in den Kampf gegen die Russen geschickt. Dieses Lager hat sogar eine eigene Webseite und hochentwickelte Kommunikationsmöglichkeiten. Die Finanzierung der Ausbildung wird durch viele undurchsichtige Quellen sichergestellt, die zum Teil aus befreundeten arabischen Staaten fließen. Der Hauptzweck ist die Ausbildung „heiliger Krieger“, die für die „islamische Revolution“ kämpfen sollen. Zu den Höhepunkten in der Geschichte des Lagers gehörte der Besuch von Mohammed Rabbani, einem der Mitbegründer der Taliban-Milizen, der im April dieses Jahres verstarb. Dieser stand einer 18köpfigen Delegation vor, von denen einige in dem Lager ausgebildet wurden. Rabbani sprach sich bei seinem Besuch für eine grenzenlose muslimische Gemeinschaft aus und diffamierte die anti-islamischen Mächte.

Die Taliban-Doktrin polarisiert die Region

Belegt ist weiter, daß der tschetschenische Feldhauptmann Schamil Bassajew im März 1994 Ausbildungslager im südlichen Afghanistan besucht hat. Im Mai desselben Jahres kehrte Bassajew mit einer Gruppe von Freiwilligen zurück, die für den Dschihad gegen die Russen ausgebildet wurden. Bassajews jordanischer Mitstreiter Khattab, der hier und da als der „Osama bin Laden der Russen“ bezeichnet wird, wird für die Anschläge in Moskau und Wolgodonsk verantwortlich gemacht. Khattab soll mit anderen arabischen Freiwilligen Mitte der achtziger Jahre in Afghanistan ausgebildet worden sein und nahm 1992 an Operationen von islamischen Extremisten in Tadschikistan teil.

Pakistanischen Quellen zufolge haben afghanische Veteranen zu einem guten Teil den Kampf der Tschetschenen unterstützt. Der Publizist und Korrespondent der Far Eastern Economic Review, Ahmed Rashid, hat deshalb in Foreign Affairs mit Blick auf Afghanistan von einer eigenen Spielart des islamischen Extremismus gesprochen, der „Talibanisierung“, die als neuer Terminus in das Lexikon der amerikanischen Politikwissenschaft gehöre. Politische Fragmentierung, grassierende Armut, ethnisch oder sektiererisch motivierte Kriegführung und ein fundamentalistischer Islam hätten Pakistan und den Rest der Region ergriffen, was nicht länger als lokale Angelegenheit gedeutet werden dürfe.

Die Taliban-Doktrin durchsickere die porösen Grenzen und polarisiere die Region. Pakistan und Saudi-Arabien unterstützten die Taliban-Regierung, während Rußland, Indien, der Iran und einige zentralasiatische Republiken die Nord-Allianz förderten. Letztere sind aber aufgrund ihrer durchlässigen Grenzen, ihres schwach ausgeprägten Sicherheitsapparates und ihren krisengeschüttelten Ökonomien äußerst anfällig für die von Afghanistan geschürte Destabilisierung der Region. Diese Destabilisierung umfaßt den sprunghaften Anstieg des Drogen- und Waffenhandels genauso wie eine mögliche Flüchtlingswelle, falls die Nord-Allianz besiegt werden sollte. Die zentralasiatischen Potentaten haben das ihrige dazu beigetragen, den islamischen Fundamentalismus stark zu machen. Dadurch daß sie mögliche politische Alternativen massiv behinderten, konnten sich islamische Untergrundbewegungen mehr und mehr als Alternativen herauskristallisieren.

Am gefährdetsten dürfte inzwischen Usbekistan sein, dessen Präsident Karimow im Februar 1999 beinahe Opfer eines Bombenanschlages geworden ist. Als einer der Drahtzieher gilt Tahier Yuldaschew, der Führer der Islamischen Bewegung von Usbekistan, der sich nach dem Anschlag in Richtung Afghanistan absetzte. Es kann als sicher gelten, daß die Taliban-Regierung Yuldaschews Bewegung aktiv unterstützt.

Auch der Iran muß sich durch das Taliban-Regime bedroht sehen. Das schiitische Regime in Teheran hat lange Zeit gegen die Taliban opponiert, weil diese einmal von einem regionalen Rivalen unterstützt und zum anderen sunnitisch dominiert werden. Die Taliban sind erklärte Gegner der Schiiten. Auch deshalb unterstützt der Iran die Nord-Allianz. Verschärfend kommt weiter hinzu, daß die Taliban iranischen Oppositionellen Asyl bieten, die ihre Aktivitäten von afghanischem Boden weiterbetreiben.

Auch China hat Grund, sich vor den Taliban in acht zu nehmen, die in ihren Grenzen seit etwa 1986 auch Ausbildungslager für die von China unterdrückten Uiguren fördern. Diese werden unter anderem durch die Erlöse des von Afghanistan aus betriebenen Heroinhandels in der chinesischen Provinz Xinjiang unterstützt.

Stichwort: Drogenhandel. Dieser sehr wesentliche Aspekt der Destabilisierungsstrategie der Taliban spielt in der laufenden Diskussion kaum eine Rolle. Gerade Kandahar, das als Aufenthaltsort von bin Laden immer wieder im Gespräch ist, bietet hierfür ein instruktives Beispiel, ist doch dieser Ort von Mohnfeldern geradezu eingerahmt. Die Taliban haben hier „Modellfarmen“ angelegt, auf denen zukünftige Betreiber von Schlafmohnfeldern systematisch geschult werden. Afghanistan produziert heute dreimal soviel Opium wie der Rest der Welt zusammen. Das Taliban-Regime ist damit der größe Heroin-Produzent auf der Welt. Die zwanzigprozentige Steuer, die die Taliban von den Opiumbauern und Schmugglern erheben, wird umgehend in die Dschihad-Aktivitäten umgeleitet.

Das einzig funktionierende Bankensystem in Afghanistan wird von Drogendealern betrieben, was zu einer durch und durch kriminalisierten Wirtschaft geführt hat, die auf die ganze Region ausstrahlt. Als Exportrouten für das Rauschgift gelten heute der Iran, die Staaten des Persischen Golfes und Zentralasien. Auch von bin Laden wird angenommen, daß er einen Großteil seiner Operationen mit Rauschgiftgeschäften finanziert. Es kann deshalb davon ausgegangen werden, daß inzwischen alle bewaffneten Konflikte in der Region mit Rauschgifthandel finanziert werden. Entsprechend steigt die Zahl der Süchtigen unentwegt. In Pakistan wird von fünf, in Iran von drei Millionen und in China (in der Provinz Xinjiang) von einer Million Süchtigen ausgegangen.

Alles dies gehört zu den „Rückstoß-Effekten“ (JF 39/01) der US-Politik, die, zusammen mit Saudi-Arabien, zu den Initiatoren des ersten internationalen Dschihads gehörte, der sich gegen die sowjetische Okkupation Afghanistans richtete. Ein pakistanischer Regierungsbeamter charakterisierte die Bedeutung des Dschihads so: „Der Dschihad ist eine Geisteshaltung. Er hat sich über viele Jahre seit dem Afghanistan-Krieg entwickelt. Diese Geisteshaltung kann nicht innerhalb von 24 Stunden verändert werden.“

Mordkomplott in Pakistan sollte Warnung sein

Die USA haben nach dem Abzug der Sowjets aus Afghanistan nichts getan, um ein neues strategisches Konzept für die Region zu entwickeln. Im Gegenteil. Auf Staaten wie Pakistan oder Saudi-Arabien, die im Hinblick auf die Unterstützung der „Gotteskrieger“ eine Schlüsselrolle spielen, wurde bis zum 11. September nie ernsthafter Druck ausgeübt, die materielle Unterstützung für das Taliban-Regime einzustellen. Dieses hat es zusammen mit Pakistan vermocht, für die Dschihad-Gruppen im Tschetschenienkrieg eine neue Existenzberechtigung zu schaffen. Der jetzt von den USA umworbene Militärmachthaber Musharraf spielte hier eine zentrale Rolle, weil er die Gotteskrieger aufforderte, in Tschetschenien unter einer Flagge zu kämpfen. Diese offene Unterstützung der von Rußland als „Terroristen“ bezeichneten Gotteskrieger durch Pakistan hat Rußland nicht vergessen. Entsprechend dürfte die Hofierung von Pakistans Militärmachthaber durch Bush aus Sicht Putins einen Affront darstellen.

Skeptisch müssen vor diesen Hintergründen die Erfolgsaussichten eines möglichen Militärschlages der USA beurteilt werden. Der wahrscheinliche Tod vieler Unbeteiligter wird nur den islamischen Extremisten in die Hände arbeiten, die sich darüber hinaus als Märtyrer in Szene zu setzen versuchen werden. Dies wird ihnen weiterhin Zulauf sichern, was sich für den Westen zu einer bisher nicht bekannten Bedrohung der Sicherheitslage auswachsen könnte. Gefährdet sind darüber hinaus die prowestlichen moslemischen Staaten, die von den Gotteskriegern als „korrupt“ und „westhörig“ denunziert werden. Ein massiver Militärschlag würde auch ihre Position schwächen und die Gefahr der Errichtung neuer radikalislamischer Staaten, insbesondere in Zentralasien, erhöhen. Das Mordkomplott, das militante Moslems gegen Pakistans Militärmachthaber Musharraf wegen dessen angekündigter Unterstützung der USA im Kampf gegen Osama bin Laden schmieden sollen, sollte Warnung genug sein.

Saudi-Arabien hat inzwischen verstanden, welche Gefahren sich ergeben, wenn ein moslemischer Staat zu eng mit den USA kooperiert. So berichtete die Washington Post unter Berufung auf Angaben aus dem Verteidigungsministerium, Saudi-Arabien weigere sich, Stützpunkte für Auslandseinsätze benutzen zu lassen. Im konkreten Fall gehe es um den Stützpunkt „Prinz Sultan“, der als Einsatzzentrale vorgesehen gewesen sei. Die Militärplaner müßten nun in ein anderes Land ausweichen, was eventuelle Luftangriffe um Wochen verzögern könnte.

Zu fragen ist, ob der Aufmarsch und Einsatz der US-Militärmaschine am Persischen Golf, der inzwischen eine Dimension wie zu Zeiten des Golfkrieges im Jahre 1991 erreicht hat, auch nur irgendeinen Nutzen bringt. Nicht Bomben sind die adäquate Antwort auf die Anschläge von Washington und New York, sondern eine Entwicklungspolitik, die den Armenhäusern, in denen die islamischen Extremisten ideale Bedingungen vorfinden, eine Perspektive aufzeigt. Genau diese Perspektive bieten weder die USA, die in erster Linie auf Vergeltung aus sind, noch die sogenannte „westliche Wertegemeinschaft“. Deswegen muß befürchtet werden, daß ein militärischer Vergeltungsschlag genau das eröffnet, was seit dem 11. September immer intensiver diskutiert wird: nämlich einen „Kampf der Kulturen“.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen