© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/01 28. September 2001


Totalitäres Denken
Balkan: Ein brisantes Interview des CDU-Abgeordneten Wimmer stößt auf Desinteresse
Thorsten Thaler

Mazedonien liegt in diesen Tagen sehr weit weg. Seit den Terroranschlägen in den USA vom 11. September ist das Land weitgehend aus der Berichterstattung der Medien verschwunden. Bestimmten bis dahin die Rolle der UÇK und der Militäreinsatz zur Entwaffnung der albanischen Rebellen die Schlagzeilen, sind die Nachrichten aus Mazedonien seither an den Rand gedrängt. Da verwundert es nicht, daß selbst ein brisantes Interview des CDU-Bundestagsabgeordneten Willi Wimmer in der September-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik unbeachtet geblieben ist.

Wimmer erörtert in dem Gespräch mit der monatlich erscheinenden Zeitschrift die These, wonach die politischen Entwicklungen auf dem Balkan seit 1990 Ausdruck der US-amerikanischen Strategie sind, eine Präsenz auf dem Balkan zu bekommen, die es seit 1945 nicht gegeben hat. Die Amerikaner wollten mit ihrer Balkanpolitik eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem Zweiten Weltkrieg revidieren.

Das Desinteresse der Medien an diesem Interview ist um so erstaunlicher, als es sich bei dem 58jährigen Rechtsanwalt und Verteidigungsexperten um keinen unbedarften Hinterbänkler handelt. Willy Wimmer gehört seit 1976 dem Bundestag an und ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuß. Von April 1985 bis Dezember 1988 war er Vorsitzender des Arbeitsgruppe Verteidigungspolitik der Unionsfraktion, danach bis April 1992 Parlamentarischer Staatssekretär unter den Verteidigungsministern Sch-olz und Stoltenberg. Später war er Vorsitzender des deutschen Helsinki-Komitees und Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der KSZE. Wimmer stimmte im Bundestag jeweils gegen einen Einsatz der Bundeswehr im Kosovo und in Mazedonien.

Amerikanische Überlegungen stehen im Gegensatz zu Europa

In dem Interview mit den linksliberalen Blättern, das vor der Entscheidung des Bundestages zum Mazedonien-Einatz der Bundeswehr geführt wurde, beruft sich der CDU-Politiker auf eine Konferenz, die Anfang Mai vorigen Jahres in der slowakischen Hauptstadt Bratislava (Preßburg) stattfand. Zu den Teilnehmern der Veranstaltung, die vom amerikanischen Außenministerium und dem American Enterprise Institute, einer „Denkfabrik“ der Republikanischen Partei, organisiert worden war, gehörten neben anderen Ministerpräsidenten, Außen- und Verteidigungsminister aus der Region sowie der persönliche Beauftragte des Nato-Oberbefehlshabers. Auf dieser Konferenz, so Wimmer, hätten sich hochrangige US-Vertreter über ihre Strategie auf dem Balkan ausgelassen. „Da wurde in aller Klarheit gesagt: Der Grund, warum wir auf den Balkan gegangen sind, liegt in den Versäumnissen des Zweiten Weltkrieges, als Eisenhower es unterließ, dort Bodentruppen zu stationieren. Das mußten wir unter allen Umständen nachholen Warum? Aus den Gründen, die immer mit der Stationierung von Bodentruppen verbunden sind, nämlich Kontrolle über eine Region zu bekommen.“

Die Amerikaner wollten eine Linie ziehen von den Ostseezugängen nach St. Petersburg über die baltischen Staaten bis zum Schwarzen Meer nach Odessa, von dort nach Istanbul und bis nach Anatolien. Hinter dieser US-Strategie stecke das Ziel, einen ungehinderten Zugang westlich dieser Linie Baltikum-Odessa-Anatolien zu haben und eine durchgehende Landverbindung „auf eigenem Territorium“ zwischen Anatolien und Polen sicherzustellen. „Die Amerikaner empfinden sich auf seltsame Weise als Nachfolger Roms“, urteilt Wimmer. „Nach dem Motto: Die Römer haben das Mittelmeer als Mare Nostrum und die nordafrikanische Gegenküste als ihr Betätigungsfeld betrachtet, und wir, die Amerikaner, sehen den Atlantik als unser Mittelmeer, als unser Mare Nostrum, und Europa als unsere Gegenküste.“

Auf dieser Konferenz, erinnert sich Wimmer, sei die Frage der europäischen sicherheitspolitischen Identität oder westeuropäischer Verteidigungsstrukturen von amerikanischer Seite wie „der leibhaftige Gottseibeiuns“ behandelt worden. Es sei deutlich geworden, daß alles, was auf einen eigenständigen europäischen Willen ausgerichtet sei, als „höchst kritisch“ bewertet werde. Als Europäer müsse er, Wimmer, sich fragen, „wie ich darauf antworte und ob ich solche Verlautbarungen als die Gesetze Moses ansehe oder mir Gedanken darüber mache, wie meine eigenen Interessen aussehen.“

Mit Blick auf die Mitgliedschaft in der Nato nimmt der CDU-Politiker kein Blatt vor den Mund: „Man ist ja keiner Gang beigetreten, die nach außen das Faustrecht praktiziert und wo der Stärkste auch intern dominiert.“ An der aktuellen Entwicklung in Mazedonien sehe man aber, daß „das amerikanische Tun und die strategischen Überlegungen, die dahinterstecken, in einem Gegensatz stehen zu dem, was die europäischen Staaten wollen“. Es sei schon „ein tolles Stück“, so Wimmer weiter, daß UÇK-Angehörige im Kosovo sich unter den Augen von 40.000 hochgerüsteten Soldaten bewaffnen und von dort nach Mazedonien einsickern. Wimmer: „Ich weiß nicht, wie man seiner völkerrechtlichen Verantwortung gerecht werden will, wenn man zuläßt, daß ein benachbartes Territorium destabilisiert wird.“

Rückkehr zu den Regeln der Vereinten Nationen

Weil die Amerikaner eine besondere Verantwortung für das Gebiet hätten, in dem sie sich befinden, spart Wimmer nicht mit Kritik an den USA: „Es gibt eine durchgehende Linie einsamer Entscheidungen aus Washington, vom Kyoto-Protokoll bis zum ABM-Vertrag, wo man sich fragt: Wollen die denn alles beseitigen, was bisher Zusammenarbeit und völkerrechtliche Verbindlichkeit ermöglicht hat?“ Wenn die Amerikaner glaubten, das Völkerrecht ignorieren zu können, wann immer es ihren Interessen im Wege stehe, öffneten sie Europa dem Krieg. In den letzten beiden Jahren der Kohl-Regierung habe es kaum eine Fraktionssitzung gegeben, so Wimmer, in der diese Warnung vor einer Öffnung Europas für den Krieg keine Rolle gespielt habe. Damals hätten viele seiner Kollegen jedoch nicht verstanden, was damit gemeint war. Wimmer: „Inzwischen haben wir alle die traurige Konsequenz vor Augen.“

In seine Kritik an der Balkanpolitik der westlichen Staatengemeinschaft schließt Wimmer europäische Repräsentanten wie Nato-Generalsekretär George Robertson und den EU-Koordinator für Außenpolitik, Javier Solana, ausdrücklich mit ein. „Man sollte sich überlegen, welche Leute man in europäische oder Nato-Spitzenjobs steckt. Die Herren Solana und Robertson vertreten Länder, die - mit dem Baskenland und Nordirland - ihre eigenen Probleme haben.“ Der CDU-Politiker beklagt, daß Vertreter aus Ländern mit derartigen Konflikten in „verwandten Problemfeldern“ für die Gemeinschaft Verantwortung wahrnehmen sollen. „Wir sehen ja auch, daß die Engländer im Zusammenhang mit Konflikten wie in Mazedonien oder Kosovo (…) hinsichtlich ihrer Nato-Möglichkeiten ein allgemeines Verständnis dafür erwarten, daß das, was sie an Gewalt in Nordirland praktizieren, als die Norm angesehen wird, und alles, was darüber hinausgeht, als exzessive Gewaltanwendung.“ Gewalt sei jedoch immer exzessiv, so Wimmer, „vor allem wenn sie mit Tod einhergeht“.

Wimmer plädiert für eine Rückkehr zu den Regeln der Vereinten Nationen und der Vertragsgebundenheit der Nato. Dafür müßte auch Streit mit den anderen Bündnispartnern riskiert werden. Zudem seien angesichts der Entwicklung zwischen Westeuropa und der Russischen Föderation Fragen nach der dauerhaften Existenz der Nato ohnehin unausweichlich. „Wenn wir keine Verhältnisse auf dem europäischen Kontinent haben, die die Europäer von der Frage nach dem Sinn der Nato abbringen, steht die Fortexistenz der Allianz auf dem Spiel. Deswegen gibt es den Konflikt auf dem Balkan.“

Wo Recht im Wege steht,
wird es beseitigt

Nach seiner Rückkehr aus Preßburg teilte Wimmer die wichtigsten Aussagen auf der Konferenz in einem Brief Bundeskanzler Schröder mit. In dem Schreiben vom 2. Mai 2000, das im Faksimilie abgedruckt ist, listet Wimmer zunächst elf Punkte auf, von denen einige dazu geeignet sind, die Hintergründe der Konflikte auf dem Balkan in einem anderen Licht als dem der offiziellen Verlautbarungen erscheinen zu lassen. Wimmer hält unter anderem fest:

- Vom Veranstalter wurde erklärt, daß die Bundesrepublik Jugoslawien außerhalb jeder Rechtsordnung, vor allem der Schlußakte von Helsinki, stehe.

- Die europäische Rechtsordnung sei für die Umsetzung von Nato-Überlegungen hinderlich. Dafür sei die amerikanische Rechtsordnung auch bei der Anwendung in Europa geeigneter.

- Der Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien sei geführt worden, um eine Fehlentscheidung von General Eisenhower aus dem Zweiten Weltkrieg zu revidieren. Eine Stationierung von US-Soldaten habe aus strategischen Gründen dort nachgeholt werden müssen.

- Unbeschadet der anschließenden legalistischen Interpretation der Europäer, nach der es sich bei dem erweiterten Aufgabenfeld der Nato über das Vertragsgebiet hinaus bei dem Krieg gegen Jugoslawien um einen Ausnahmefall gehandelt habe, sei es selbstverständlich ein Präzedenzfall, auf den sich jeder jederzeit berufen könne und auch werde.

- Auf keinen Widerspruch stieß die Feststellung, nach der die Nato bei dem Angriff gegen die Bundesrepublik Jugoslawien gegen jede internationale Regel und vor allem gegen einschlägige Bestimmungen des Völkerrechts verstoßen habe.

Diese Aussagen auf der Konferenz bewertend, schreibt Wimmer am Schluß seines Briefes an den Kanzler: „Die amerikanische Seite scheint im globalen Kontext und zur Durchsetzung ihrer Ziele bewußt und gewollt die als Ergebnis von 2 Kriegen im letzten Jahrhundert entwickelte Rechtsordnung aushebeln zu wollen. Macht soll Recht vorgehen. Wo internationales Recht im Wege steht, wird es beseitigt. (…) Ein Denken, das die eigenen Interessen so absolut sieht, kann nur totalitär genannt werden.“

Während Schröder diesen Brief offenbar unbeantwortet ließ, berichtete gut ein Jahr später plötzlich die linksaußen angesiedelte Junge Welt darüber. Unter der Überschrift „Die imperialen Absichten der USA“ veröffentlichte die ehemalige FDJ-Zeitung am 23. Juni dieses Jahres alle elf Punkte des Wimmer-Schreibens im Wortlaut und versah sie mit Kommentaren. Im Vorspann hieß es dazu, das Wissen um die imperialen Absichten der USA und „ihrer“ Nato dürfe nicht auf den Kanzler und eine kleine politische Elite beschränkt bleiben. Autor des Beitrages war ausgerechnet Rainer Rupp, der zu DDR-Zeiten für die Stasi-Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) unter dem Decknamen „Topas“ von 1977 bis Ende 1989 im Nato-Hauptquartier in Brüssel spionierte. Der Top-Agent war im Juli 1993 enttarnt und verhaftet worden. Im November 1994 wurde er vom Oberlandesgericht Düsseldorf wegen Landesverrats zu zwölf Jahrten Freiheitsentzug verurteilt. Seit Ende Dezember 1998 konnte er im offenen Vollzug wieder einer Arbeit nachgehen, im Juli 2000 wurde Rupp dann vorzeitig aus der Haft entlassen.

Mit seinem Artikel in der Jungen Welt hat Rupp bewirkt, daß die Feststellungen Wimmers seither auf vielen Seiten im Internet verbreitet und diskutiert werden. Nur die offizielle Berliner Politk nimmt weiterhin kaum von ihnen Notiz.


 
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