© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/01 21. September 2001

 
Von der unfreien Rede
Zulässige und unzulässige Reaktionen auf den 11. September passen sich wohlbekannten Verhaltensmustern an
Thorsten Thaler

Wer in den Tagen nach den verheerenden An-
schlägen in New York und Washington von der durchaus zwiespältigen Politik der Weltmacht Amerika reden will, ohne zuvor sein Mitgefühl mit den Opfern und deren Angehörigen zu bekunden, sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, mindestens ein kalter Zyniker zu sein. Schlimmstensfalls werden diejenigen, die sich nicht in den von den Medien vorgegebenen Verhaltensmustern und Sprachregelungen der Trauer und Betroffenheit bewegen, der Sympathie mit den Attentätern bezichtigt. In Berlin, wo vereinzelt Schüler „mit Freude“ auf die Anschläge reagiert haben sollen, drohte Schulsenator Klaus Böger (SPD) sogar mit strafrechtlichen Konsequenzen. Doch Anteilnahme, Trauer und Betroffenheit sind individuelle Gefühlsregungen, die weder verordnet noch aufgezwungen werden können.

Dahinter steht eine Denkweise, die hierzulande nur allzu vertraut ist: Wer über eine Begrenzung der Zuwanderung sprechen will, muß zuvor bekunden, natürlich nichts gegen Ausländer zu haben. Wer sich kritisch mit der Rolle jüdischer Organisationen auseinandersetzen will, muß zuvor versichern, ganz bestimmt kein Antisemit zu sein. Und wer einer Bereicherung des politischen Spektrums um eine Partei rechts von Union das Wort reden will, muß zuvor bezeugen, selbstverständlich kein Rechtsextremist zu sein.

Die Erwartung, mehr noch: das Verlangen, vor jeder weiteren Äußerung zunächst ein Bekenntnis abzulegen bzw. sich zu distanzieren, kommt einer intellektuellen Nötigung gleich, die nicht hinnehmbar ist, weil sie dem Wesen der freien Rede zuwiderläuft.


 
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